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Schwebezustand zwischen Frieden und Krieg

Wer Sanktionen wie im Ukraine-Konflikt ergreift, verabschiedet sich vom Frieden, denn sie funktionieren nach der Logik des Krieges

Von Jürg Müller-Muralt *

«Sanktionen» tönt harmloser als «Krieg». Doch der Unterschied ist nur ein gradueller. Das geht allein schon aus dem Kapitel VII der Charta der Vereinten Nationen hervor: Der Uno-Sicherheitsrat kann bei einer Bedrohung des Weltfriedens zu Zwangsmassnahmen schreiten. In Artikel 41 der Charta werden die gewaltlosen Massnahmen aufgezählt (Wirtschaftssanktionen, Unterbruch der Verkehrswege und Kommunikationsmittel, Abbruch der diplomatischen Beziehungen etc.). Im nachfolgenden Artikel 42 wird der Sicherheitsrat ermächtigt, im Falle der Wirkungslosigkeit von Artikel 41 auch Streitkräfte einzusetzen. Der Kontext macht deutlich: Wirtschaftssanktionen und der Einsatz von Waffengewalt sind die zwei Seiten derselben Medaille.

Werden Sanktionen oder militärische Massnahmen vom Uno-Sicherheitsrat beschlossen, sind es sozusagen international legitimierte Polizeiaktionen, um eine Bedrohung des Weltfriedens abzuwenden. Die fünf Vetomächte (USA, Russland, Grossbritannien, Frankreich und China) müssen dem Vorgehen zustimmen. Im Fall der Ukraine-Krise war das ein aussichtsloses Unterfangen, weil die Vetomacht Russland selbst im Visier ist. Genau für diesen Fall wurden die Vereinten Nationen und die Mechanismen des Uno-Sicherheitsrats geschaffen: Damit sollte verhindert werden, dass Grossmächte ihre Konflikte mit nicht-friedlichen Mitteln austragen. Da nun die USA und die EU mit Sanktionen gegen Russland vorgehen, hat sich eine westliche Staatengruppe unter Umgehung der Uno faktisch zur Weltpolizei gemacht.

Gefährliche Schwelle überschritten

Es geht hier nicht um die Frage, wer genau den Konflikt um die Ukraine vom Zaum gerissen hat, wer welche politischen Fehleinschätzungen und völkerrechtswidrigen Aktionen begangen hat und begeht. Es geht allein um die Frage, was konkret die sanktionspolitischen Daumenschrauben als weitere Eskalation denn nun bewirken sollen. Obschon Sanktionen seit dem Ende des Kalten Krieges immer beliebter wurden, blieben ihr Einsatz umstritten und ihre Wirkung zweifelhaft. Zudem sind Sanktionen gegen Staaten wie Irak, Iran oder Nordkorea von völlig anderer Qualität, als wenn sie gegen Russland eingesetzt werden.

Denn wer gegen Grossmächte zu diesem Mittel greift, überschreitet eine gefährliche Schwelle. Während Einreiseverbote und Kontosperrungen für Einzelpersonen erst Missfallenskundgebungen in Form von Nadelstichen waren, geht es jetzt mit Wirtschaftssanktionen substanzieller zur Sache. Es sind zudem nicht periphere «Bösewichte» betroffen, sondern eng verflochtene Volkswirtschaften. Deshalb ist die jedem Sanktionsregime innewohnende Dialektik im vorliegenden Fall besonders fatal: Sanktionen gelten gemeinhin als Alternative zum Krieg, indem durch wirtschaftliche Schädigung des Gegners ähnliche Ziele erreicht werden sollen wie durch Waffengewalt. Sie sind aber eben gerade nicht eine Alternative, sondern sie beenden den Frieden: Sie führen in einen Schwebezustand zwischen Krieg und Frieden. Es geht darum, den Gegner endgültig zu kriminalisieren, ihn zum Feind zu erklären.

Nato-Donnergrollen im Hintergrund

Sanktionen und ihre Risiken funktionieren nach der Logik des Krieges: Gibt der Gegner nicht nach oder schiesst er gar in Form eigener Sanktionen zurück, kann die Schraube, wie im Krieg, immer stärker angezogen werden; man bringt immer schwereres Geschütz in Stellung. Verhandlungskanäle sind, wie im Krieg, weitgehend gekappt. Die Diplomatie hat vorerst ausgespielt. Dabei wäre es gerade jetzt wichtig, kreative, gesichtswahrende diplomatische Lösungsvorschläge ins Spiel zu bringen. Haben Sanktionen eine gewisse Schwelle überschritten, wird das immer schwieriger, wie auch die russische Reaktion zeigt.

Putin greift geradezu verzweifelt zu Gegensanktionen, die zusätzlich zu den westlichen Sanktionen seinem Land weiteren Schaden zufügen. Das sind klare Indizien, dass die westliche Sanktionspolitik nicht zum gewollten Resultat und zu einer Deeskalation führt, sondern im Gegenteil zu einer weitgehend irrationalen, politisch immer schwerer steuerbaren Entwicklung - und zwar auf beiden Seiten: Putin signalisiert, dass er nicht nur nicht nachgeben, sondern die Eskalation weitertreiben will. Genauso wie der Westen auch.

Es muss im Hintergrund ungeheurer Druck aufgebaut worden sein, dass ausgerechnet Deutschland, das bisher immer betonte, den Gesprächsfaden mit Russland nicht reissen zu lassen, den schärferen Sanktionen zugestimmt hat – wohlwissend, dass gerade die bisher intakte deutsche Wirtschaft mit einem ihrer engsten Wirtschaftspartner in einen Wirtschaftskrieg mit allein schon ökonomisch unabsehbaren Folgen eintritt.

In welch starke kriegerische Logik sich die Wirtschaftssanktionen einbetten, zeigt das ständige Donnergrollen der Nato im Hintergrund. Nato-Generalsekretär Anders Fogh Rasmussen hat der Ukraine diese Woche Hilfe in Aussicht gestellt. «Die Nato steht bereit, die Ukraine zu unterstützen», sagte Rasmussen in Kiew. Gedacht sei an Berater und «andere Mittel». Es ist zu hoffen, dass die sich als Friedensprojekt verstehende Europäische Union sich noch rechtzeitig aus dem brandgefährlichen Machtspiel um globale Einflusssphären hinausmanövrieren kann, ohne vollends zur Geisel der Nato zu werden.

* Aus: Infosperber, 11. August 2014; www.infosperber.ch [externer Link].
Mit freundlicher Genehmigung des Autors.


Jürg Müller-Muralt

Unterseen BE (Schweiz), ist Redakteur der schweizerischen Internet-Plattform Infosperber. Dieses Medium wird getragen von der gemeinnützigen "Schweizerischen Stiftung zur Förderung unabhängiger Information" SSUI. In dessen Selbstdarstellung heißt es u.a.: "Weder ein Millionär noch ein Konzern kann sie kaufen. Die Stiftung will einen unabhängigen Journalismus in der ganzen Schweiz fördern, insbesondere journalistische Recherchen von gesellschaftlicher und politischer Relevanz."




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