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Überholt und doch aktuell

Ralf Rudolph und Uwe Markus über Russlands neue Militärpolitik

Von Reinhard Lauterbach *

Dieses Buch ist heute schon überholt. Die Entwicklungen, die mit dem Euromaidan in der Ukraine einsetzten, sind noch nicht berücksichtigt, ebensowenig das westliche Sanktionsregime gegen Russland. Jedes Buch hat einen Redaktionsschluß, und bei diesem lag er offenbar im Sommer 2013.

Dass es nicht den aktuellen Stand abbildet, ist trotzdem kein Argument, dieses Buch nicht zu lesen. Denn was die Autoren Ralf Rudolph und Uwe Markus ohne den Vorteil dessen, der weiß, wie es ausgegangen ist, an Entwicklungen etwa im russisch-ukrainischen Verhältnis zusammengetragen haben, lässt verstehen, dass es zwischen Moskau und Kiew irgendwann »krachen musste«. Auf die Spitze getrieben, könnte man sogar sagen: Aus Sicht dieses Buches erscheint der Umstand, dass der Westen die Maidan-Revolte gegen den zum Ausgleich mit Russland bereiten oder auch durch praktische Notwendigkeiten genötigten Präsidenten Wiktor Janukowitsch unterstützte, schon beinahe als Notbremse gegen ein in der längerfristigen Perspektive unaufhaltsam wachsendes Übergewicht Russlands im Verhältnis zu Kiew. Notbremse in dem Sinne, dass aus westlicher Sicht das Fenster der Gelegenheit, die Ukraine aus einer wachsenden finanziellen und industriepolitischen Abhängigkeit von Russland herauszubrechen, nicht mehr lange offen sein würde und dass der Bruch jetzt ins Werk gesetzt werden musste oder nicht mehr gelingen würde. Gleichzeitig zeigen Rudolph und Markus, wie die Ukraine ihrerseits, unabhängig davon, wer in Kiew gerade regierte, Russland schon lange mit ständigen kleinen Nadelstichen auf der Krim herausgefordert hatte, so dass man mit einiger Gewissheit vermuten kann, dass in Moskau die Pläne für eine Ausschaltung dieses Störpotentials schon geschmiedet waren, so dass sie im März 2014 nur aus der Schublade geholt zu werden brauchten.

Die beiden Autoren, der eine ehemaliger Offizier der Nationalen Volksarmee der DDR, der andere Politologe, wählen einen »Top-Down-Ansatz«. Sie fangen ganz global an: bei den US-amerikanischen Weltherrschaftskonzepten nach dem Ende der Sowjetunion, die die Ausweitung der NATO und den Bau immer neuer US-Stützpunkte immer dichter an den Grenzen Russlands vorsehen. Die Geschichte des Syrien-Konflikts wird ausführlich erörtert. Es zeigt sich, wie die Lieferung eines effizienten und modernen russischen Luftabwehrsystems an Damaskus womöglich die westlichen Pläne zur Einführung einer »Flugverbotszone« (welche Arroganz spricht schon aus diesem Begriff!) praktisch verhindert hat, genauso wie das von Moskau lancierte Abrüstungskonzept für Assads Chemiewaffen den schon geplanten Angriff der USA auf Syrien politisch unmöglich machte. Wer sich für die Geschichte der sowjetischen Peripherie seit 1990 und die Kämpfe um nie vorher und nie mehr danach ins Rampenlicht der Öffentlichkeit gerückte Weltgegenden wie Berg-Karabach und Gorno-Badachschan interessiert, findet in diesem Buch eine Menge mit Fleiß zusammengetragenes Archivmaterial, das die Anschaffung des Buches schon allein als Nachschlagewerk über die Konflikte der postsowjetischen Welt lohnt.

Erst nach mehr als der Hälfte ihrer Studie gehen die Autoren auf das ein, was laut Titel ihr eigentliches Thema ist: die russische Militärpolitik unter Wladimir Putin. Sie ziele darauf ab, jene nach Angaben der Autoren zehn bis fünfzehn Jahre Entwicklungsrückstand im weltweiten Rüstungswettlauf aufzuholen, die das Land durch die Perestroika und die Jelzin-Jahre erlitten habe. Militärfachleute werden hier eine Menge Material finden, das für den Laien schwer zu beurteilen ist, vieles wirkt wie aus Katalogen russischer Rüstungsfirmen abgeschrieben; spaßig ist aber die Geschichte, wie die Erprobung eines für die Lizenzfertigung vorgesehenen italienischen Gefechtsfahrzeugs im Winter 2012 in der Nähe von Moskau ausging: »Bei nur minus zehn Grad konnten die Motoren nicht mehr gestartet werden. (...) Bei minus 15 Grad fror die Hydraulik ein, die Heizungssysteme fielen aus. (...) Schon nach dem ersten Schuss der Kanone blieb der vom Boden aufgewirbelte Schnee an der Optik kleben, weil die Wischer überfordert waren. (...) Die Kampffahrzeuge, die das russische Militär in Lizenz bauen wollte, waren schließlich bei nur minus 20 Grad völlig kampfunfähig« (S. 229 f.). Die Erfahrungen der Wehrmacht 1941 lassen grüßen. Unter anderem diese Pleite soll dafür gesorgt haben, dass Verteidigungsminister Anatoli Serdjukow, der die Armee betriebswirtschaftlich betrachtete und sie daher mit schon vorhandener westlicher Technik modernisieren wollte, entlassen wurde.

Die Autoren äußern Zweifel daran, dass Russland es schaffen werde, das politische Programm, seine Streitkräfte auf ein den künftigen Auseinandersetzungen angemessenes Niveau zu bringen, in die Praxis umzusetzen. Sie begründen dies mit dem Paradox aller Reformen von oben: Wenn sie autoritär vorangetrieben werden, lähmen sie das autonome Mitdenken und die Kreativität, derer sie bedürfen, um zu gelingen. Andererseits hat der NATO-General Hans-Lothar Domröse vor kurzem im Deutschlandfunk den auf der Krim eingesetzten russischen Verbänden widerwillig bescheinigt, »verdammt schnell« gewesen zu sein. Insofern können auswärtige Patrioten Russlands aus diesem Buch trotz allem Hoffnung schöpfen; wer mit größerer emotionaler Distanz an es herangeht, findet eine Menge nützlicher Informationen zu einem Thema, das seine Aktualität behalten wird, ob es einem gefällt oder nicht.

Ralf Rudolph/Uwe Markus: Renaissance einer Weltmacht. Russlands Militärreform und exterritoriale Militärstützpunkte. Mit zahlreichen Fotos und Karten, Phalanx Verlag, Berlin 2013, 337 S., 19,20 Euro

* Aus: junge Welt, Montag, 1. Dezember 2014


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