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Der Milliardär als Maler

Der russische Exoligarch Michail Chodorkowski möchte seinem Land eine "Farbrevolution" verpassen – von Westeuropa aus

Von Reinhard Lauterbach *

Als Michail Chodorkowski im Dezember 2013 nach gut zehn Jahren Haft in Rußland begnadigt wurde und nach Westeuropa ausreiste, hatte er noch zugesagt, sich aus der russischen Politik herauszuhalten. Seinen Besuch auf dem Euromaidan in Kiew Anfang des Jahres konnte man damit formal gerade noch in Einklang bringen – es ging ja um ukrainische Innenpolitik. Jetzt hat der Exoligarch dem russischen Präsidenten Wladimir Putin ein zweites Mal den Fehdehandschuh hingeworfen. Mit einer Bewegung »Offenes Rußland« will er daran mitwirken, »europäische Russen« rechtzeitig vor den 2016 geplanten Parlamentswahlen zu organisieren. Die Bewegung besteht allerdings derzeit nur aus einem Server, der prompt unter mutmaßlich aus Rußland gestarteten Hackerangriffen zu Boden ging.

Europa oder Eurasien

Bei der Vorstellung seines Projekts am Sonnabend in Paris gab sich Chodorkowski bescheiden: Im Prinzip interessiere ihn nicht, in Moskau Präsident zu werden; doch wenn das Vaterland in Gefahr sei, werde er sich dem Ruf nicht entziehen. Er wolle nicht zulassen, daß die gegenwärtige Führungsschicht den Staat für sich in eine Einkommensquelle auf Lebenszeit verwandle und auf Recht und Gesetz »spucke«. Chodorkowski vermied es, Putin direkt anzugreifen; er sei sein politischer Gegner, aber nicht sein Feind. In Paris trat er zudem als Verfechter der territorialen Integrität Rußlands auf und warnte vor »blutigen Konflikten«, die dem Land drohten, falls Putin an der Macht bleibe. Er weiß oder ahnt offenbar, welche Karte der Westen spielen möchte: die ethnische Zerlegung des Vielvölkerstaates Rußland. Eines der Anzeichen: Seit April sendet der US-Sender Radio Liberty auf Krimtatarisch, was er im Kalten Krieg nicht für erforderlich gehalten hatte. Ob Chodorkowski der russische Patriot ist, als der er sich darstellt, mag dahingestellt sein; ein Erhalt der territorialen Integrität Rußlands gegen den Verzicht auf Großmachtambitionen – das könnte durchaus ein Konzept sein, für das sich Wähler gewinnen lassen.

Chodorkowskis »Offenes Rußland« setzt darauf, die halbwegs situierte russische Mittelschicht gegen Putin zu mobilisieren. Es geht dabei um jene Leute, die von Rußlands Konservativen dafür beschimpft werden, daß ihnen der Parmesan im Laden wichtiger sei als die Solidarität mit den Landsleuten im Donbass. Chodorkowskis ostentatives Beharren darauf, daß Rußland »geographisch und kulturell« zu Europa gehöre, knüpft dabei unmittelbar an die Sehnsucht jener Russen an, die von den »Kastanien an der Place Pigalle« träumen, und hat darüber hinaus eine tiefere Dimension. In der russischen Öffentlichkeit stehen vermeintlich banale geographische Chiffren wie »Europa« oder »Eurasien« für unterschiedliche politische Konzepte. Das Kürzel »Europa« steht u.a. für jenes »gemeinsame Haus«, das Michail Gorbatschow in den 80er Jahren beschwor; allerdings mit dem Ergebnis, daß es aus russischer Sicht inzwischen bis zur Schlafzimmertür von der NATO besetzt wurde. »Eurasien« ist die Metapher für die Gegenideologie, die unter enttäuschten russischen Patrioten und orthodoxen Fundamentalisten, aber auch bis in ehemals kommunistische Kreise hinein Zuspruch findet: Starker Staat, »gelenkte Demokratie« und Hinwendung zu den aufsteigenden Staaten Ostasiens, um sich den Zumutungen durch USA und Westeuropa zu entziehen.

Dollars des Märtyrers

Die von Chodorkowski umworbenen »europäischen Russen« sind derzeit eine gesellschaftliche Minderheit. Hinweisen darauf pflegt er zu entgegnen, eine Minderheit könne, wenn sie organisiert sei, vieles bewirken. Genau an solcher Organisiertheit fehlt es den russischen Westlern derzeit. Sie sind von Wahlerfolgen weit entfernt und in zerstrittene Cliquen zersplittert. Seit einigen Jahren gibt es eine prowestliche Sammelbewegung »Solidarnost«, deren orange Fahnen auf der Anti-Putin-Demonstration vom Sonntag in Moskau (siehe Text unten) in Mengen zu sehen waren – ein Beispiel für demagogischen Eklektizismus: Das wie ein C aussehende kyrillische S als Anfangsbuchstabe erinnert an die aus der sowjetischen Symbolik bekannte Sichel, die unter einer Fahne marschierenden schwarzen Gestalten an die der polnischen Solidarnosc, von der die Truppe den Namen übernommen hat. Solche Marketingtricks ändern nichts daran, daß diese Solidarnost ein desolater Verein ist.

Chodorkowski kann in den Kampf gegen Putin erstens allerhand Geld einbringen. Kurz vor seiner Haftentlassung hatte das Schweizer Bundesgericht die im Zuge der Steuerermittlungen gegen ihn auf russischen Antrag erwirkte Beschlagnahmung einiger Milliarden US-Dollar aus seinem Privatvermögen als »unverhältnismäßig« aufgehoben. Zweitens bringt er das Image eines politischen Märtyrers mit, das zwar nicht in der Breite der russischen Gesellschaft wirkt, aber doch reichen könnte, um in deren putin-kritisch gesinntem Teil die Hegemonie zu erringen. Und drittens hat er es durch seine bereits in der Haftzeit aufgenommene publizistische Tätigkeit geschafft, sich das Image eines »geläuterten Oligarchen« zu verschaffen. Eine andere Frage ist, was daran wahr ist.

* Aus: junge Welt, Dienstag 23. September 2014

Oligarchenleben: Haifisch mit Zähnen

Michail Borissowitsch Chodorkowski, 1963 in Moskau in einer Familie von Naturwissenschaftlern geboren, träumte von einer Karriere in der Rüstungsindustrie. Daraus wurde nichts, weil seine Eltern Juden waren. So wurde er Politiker und machte Karriere im KPdSU-Jugendverband Komsomol, und als Ende der 1980er Jahre der damalige sowjetische Staats- und Parteichef Michail Gorbatschow glaubte, die Versorgungslücken mit Hilfe sogenanntern Kooperativen schließenbeheben zu können, faktisch Privatunternehmen als Insellösungen im Plansystem, sah er seine Chance. Noch vor dem Ende der Sowjetunion gründete der Endzwanziger seine erste Bank, der er als stellvertretender Energieminister unter dem damaligen russischen Präsidenten Boris Jelzin die Finanzierung wichtiger staatlicher Ölfirmen zuschanzte. Eine davon, das Konglomerat Jukos, ersteigerte die Bank dann in einer Insiderauktion weit unter dem Marktwert vom Staat. Chodorkowski gehörte auf einen Schlag zu Rußlands Superreichen.

Die Verwandlung der Privatmacht des Geldbesitzers in gesellschaftliche Macht probierte er erstmals 1996 mit Erfolg aus: aAls Organisator einer von der Oligarchenklasse finanzierten Propagandakampagne, mit der die Wiederwahl des chancenlosen Jelzin gegen starke kommunistische Konkurrenz gesichert werden sollte. Mit dem Erfolg wuchsen die Ansprüche. Chodorkowski verweigerte der Staatsmacht die Symbiose, mit der sich andere Angehörige seiner Klasse erpreßbar halten ließen. Er wollte direkt Einfluß nehmen, spendete sowohl für die Liberalen als auch für die Kommunisten, brüstete sich öffentlich, er könne sich jederzeit eine Mehrheit in der Staatsduma zusammenkaufen. D, und der inzwischen an die Macht gekommene neue Präsident Wladimir Putin hielt das offenbar für plausibel genug, um Chodorkowskis Treiben ein – vorläufiges – Ende zu setzen. Ende 2003 ließ er den Oligarchen aus seinem Privatjet heraus verhaften und wegen diverser Steuer- und Finanzdelikte inhaftieren. Egal, wie berechtigt die Vorwürfe im Einzelnen waren, – das an Chodorkowski statuierte Exempel hat auf den Rest der russischen Oligarchie gewirkt. Sie hält sich seitdem aus der Politik heraus, es sei denn, einer wie Roman Abramowitsch wird von Putin »gebeten«, im Tausch gegen einen Gouverneursposten das entlegene Gebiet Tschukotka an der Beringstraße zu subventionieren. Villen und Fußballklubs fallen auch noch ab. (rl)




Heterogene Veranstaltung

Etwa 20000 Menschen demonstrierten am Sonntag in Moskau gegen Wladimir Putin

Von Reinhard Lauterbach **


Bei Demonstrationen gehen die Angaben der Polizei und die der Veranstalter über die Teilnehmerzahl auseinander – das ist nichts Neues. So groß wie am Sonntag in Moskau waren die Diskrepanzen aber lange nicht. Von knapp 5000 Teilnehmern am »Marsch des Friedens« sprachen die Behörden, zwischen 20000 und 100000 lagen die Zahlen der Anti-Putin-Opposition. Ein Reporter des auf Distanz zu beiden Seiten achtenden russischen Internetportals lenta.ru, der selbst mitgelaufen war, schätzte knapp 20000 und rügte, daß die Veranstalter es – wohlweislich? – vermieden hätten, alle Teilnehmer an einem Ort zu einer Kundgebung zu versammeln, wo man ihre Zahl verläßlich hätte schätzen können. Der Reporter der polnischen Gazeta Wyborcza wollte mehr Putin-Gegner gesehen haben als bei den letzten Demonstrationen im März, der Korrespondent der Frankfurter Allgemeinen weniger als bei den Märschen gegen mutmaßliche Wahlfälschungen 2011 und 2012.

Wie auch immer: In einer Zehn-Millionen-Stadt wie Moskau sind 20000 nicht viel, und auch 50000 müssen die Staatsmacht noch nicht beunruhigen. Zumal das Publikum außerordentlich heterogen war. Zwar dominierten gelb-blaue ukrainische Flaggen – es waren mehr als russische – und Parolen gegen das russische Engagement im Donbass sowie den als Tatsache unterstellten Einsatz russischer Wehrpflichtiger dort. Doch unter diesen Losungen versammelte sich von Schwulen und Lesben mit gelb-blau geschminkten Gesichtern über liberales Mittelschichtspublikum bis zu Antifas so ziemlich alles, was mit Wladimir Putins Regierung aus irgendeinem Grund unzufrieden ist. Nationalisten verdammten den »Krieg gegen ein Brudervolk«, der Mainstream trug Transparente mit Aufschriften wie »Ukraine, verzeih uns« oder »Schluß mit dem Krieg jetzt«, Anarchisten zeigten mit »Der Hauptfeind sitzt im Kreml«, daß sie Karl Liebknecht gelesen hatten. Gesehen wurden die Anführer der liberalen Partei Jabloko und der »Union der Rechten Kräfte«, in der sich die Profiteure der Raubprivatisierungen der neunziger Jahre zusammengeschlossen haben. Michail Kasjanow, vom Regierungschef unter Putin auf die Seite der Opposition gewechselt, warnte davor, daß in Rußland ein faschistisches Regime »wie unter Mussolini und Franco« entstehen könne, wenn Putin nicht Einhalt geboten werde. Er räumte gleichzeitig ein, daß von einer vereinten Opposition derzeit keine Rede sein könne; im Gegenteil liegen die Sympathiewerte des russischen Präsidenten bei Umfragen stabil um die 80 Prozent. Die Ergebnisse seiner Partei bei den Kommunal- und Regionalwahlen vom 14. September hatten dies bestätigt.

Der Marsch durch die Moskauer Innenstadt war teilweise von Gegenkundgebungen begleitet, auf denen die Putin-Gegner als »Verräter« und »Fünfte Kolonne des Westens« beschimpft wurden; zu einer in patriotischen Kreisen geplanten Aktion, die Demonstranten symbolisch wegen Käuflichkeit mit Kleingeld zu bewerfen, kam es offenbar aber nicht. Anwohner der Demonstrationsroute hängten Fahnen der ostukrainischen Volksrepubliken aus den Fenstern, in einzelnen Fällen wurden Transparente entwendet, während die Polizei angelegentlich wegschaute. Außerhalb Moskaus blieben Demonstrationen mit gleicher Zielsetzung in etlichen anderen Städten Randerscheinungen, die selten auch nur dreistellige Teilnehmerzahlen erreichten. In Putins Heimatstadt Sankt Petersburg hatte die Stadtverwaltung den »Marsch des Friedens« verboten.

** Aus: junge Welt, Dienstag 23. September 2014


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