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Vorrangig Eigeninteressen

Die Beziehungen zwischen China und Rußland

Von Ingo Nentwig *

Teil I: Vom 13. Jahrhundert bis zur Nachkriegszeit

Die Bedeutung der Beziehungen zwischen Rußland und China ist offensichtlich. In jüngster Zeit wurde dies durch die Krise in der Ukraine und der daraus folgenden engeren Zusammenarbeit in der Shanghaier Organisation für Zusammenarbeit und durch das im Mai abgeschlossene Erdgasabkommen zwischen beiden Ländern erneut illustriert. Im strategischen Dreieck USA–Rußland–China, das zu einer Grundstruktur der »neuen Weltordnung« im 21. Jahrhundert werden könnte, hat das Verhältnis zwischen den beiden schwächeren Mächten eine entscheidende Funktion. Für die USA als imperialistische Führungsmacht wäre es zweifellos attraktiv gewesen, beide gegeneinander auszuspielen. Doch eine solche Politik hätte taktisches Geschick und viel diplomatisches Fingerspitzengefühl erfordert. Beides ist glücklicherweise in der US-Außenpolitik nur vom Hörensagen bekannt. Die »versehentliche« Bombardierung der chinesischen Botschaft in Belgrad 1999 war das markante Symbol, das der zunehmend antichinesischen Politik der USA ein ehrliches Gesicht gab. Auch Rußland behandelte man nicht als Partner auf Augenhöhe. Statt dessen rückte die NATO bis an die russischen Grenzen heran. In Georgien gab Rußland ein deutliches Signal, daß mit Einkreisungspolitik und Provokationen eine Schmerzgrenze erreicht wurde. Dieses Warnzeichen hat man im Westen offenbar bewußt ignoriert. Nur so ist die unbekümmerte territoriale Vorwärtspolitik des Westens in der Ukraine zu verstehen.

Solange es Imperialismus gibt, solange gibt es Krieg. Diese historische Wahrheit gilt nach wie vor. Doch ist in der gegenwärtigen Situa­tion das Verhältnis zwischen China und Rußland entscheidend für die Frage, ob im strategischen Dreieck der Weltmächte eine relative, zeitweise Stabilität möglich ist, ob es ein »Gleichgewicht der Kräfte« in einer multipolaren Welt überhaupt geben kann, oder ob das Gesicht der »neuen Weltordnung« in seinen wesentlichen Zügen von USA und NATO allein bestimmt wird. Wie ist das chinesisch-russische Verhältnis also beschaffen? Wie ist es entstanden und wohin wird es sich entwickeln?

1689: Der erste Vertrag

Es ist üblich, den Beginn der russisch-chinesischen Beziehungen auf das frühe 17. Jahrhundert zu datieren, als die Ostexpansion Rußlands an die chinesischen Grenzen stieß. Tatsächlich ist aber schon die Entstehung Rußlands im heutigen Sinne eng mit der chinesischen Geschichte verknüpft. Als die mongolischen Armeen unter Batu Khan am 6. Dezember 1240 Kiew zerstörten, ging die Kiewer Rus endgültig unter. Die russischen Fürsten unterstanden fortan der Goldenen Horde und mußten den Mongolen Tribut leisten. Diese machten schließlich 1328 Iwan I., Fürst von Moskau, zum Großfürsten aller Russen. Der Khan der Goldenen Horde, der noch bis 1480 über Rußland herrschte, unterstand seinerseits aber dem Großkhan des mongolischen Weltreichs und mußte ein Zehntel der Tribute und Steuern an diesen abführen. Von 1271 bis 1368 war der Großkhan der Mongolen in Personalunion Kaiser von China. Somit waren in dieser Zeit Rußland und China Teile des gleichen Staatenbundes unter Führung der Mongolen, die die Russen erst 100 Jahre später abschütteln konnten als die Han-Chinesen. Infolge der Mongolenherrschaft wurde in Rußland Moskau, in China Peking zur Hauptstadt.

Es dauerte über 160 Jahre, bis es wieder zu einem nennenswerten Kontakt zwischen beiden Seiten kam. Die Mongolen waren inzwischen zu eher unbedeutenden regionalen Machthabern verkommen, von denen manche in dieser Zeit noch wechselnde Bündnisse mit den jeweiligen Herrschern Rußlands und Chinas eingingen. Doch jetzt dehnte sich Rußland im hohen Norden aus. Der Kosakenführer Wassili Pojarkow war wohl der erste, der mit etwa 130 Mann den Jingqili Jiang (heute russisch: Seja) in China erreichte und ihm flußabwärts bis zum Heilong Jiang (russisch: Amur) folgte. Man schrieb das Jahr 1644, ausgerechnet das Jahr, in dem wiederum eine Dynastie ihre Herrschaft über ganz China errichtete, deren Stammhaus einer ethnischen Minderheit angehörte, die mandschurische Qing-Dynastie. Die Heimat der Mandschu war just der äußerste Nordosten Chinas, wo immer häufiger russische »Entdecker« auftauchten.

Als Pojarkow 1646 nach Jakutsk von seinen Erkundungen zurückkehrte, konnte er von den idealen Kolonisationsbedingungen im Amur-Gebiet berichten, das über reiche natürliche Ressourcen verfügte, aber sehr dünn besiedelt war. Seine Leute hatten unter den tungusischen Ureinwohnern – sozusagen präventiv – gebrandschatzt, gemordet, vergewaltigt und gefangene Männer zu Frondiensten gezwungen. Lange vor den Opiumkriegen (1839–1842 und 1856–1860) machte China hier erste Erfahrungen mit dem Kolonialismus. Doch die Mandschu nahmen, auch nachdem es zwischen 1650 und 1653 zu mehreren militärischen Zusammenstößen gekommen war, die Bedrohung an der Nordostgrenze nicht ernst. Die chinesische Armee vertrieb die Eindringlinge und zog sich wieder aus dem Gebiet zurück. So konnten in den folgenden drei Jahrzehnten erneut Kosaken ins Amur-Gebiet einsickern und am Nordufer befestigte Siedlungen errichten. Erst 1685 und 1686 schlug die chinesische Armee unter General Sabsu die Kosaken, schleifte die Festung Yakesa und stellte das Gebiet unter militärische Kontrolle.

Die Regierung der Qing-Dynastie hatte inzwischen erkannt, daß es sich bei den Russen nicht um irgendein Stammesvolk aus den nördlichen Wäldern handelte, sondern um Vertreter eines großen Reiches. Also akzeptierten sie den russischen Wunsch nach Verhandlungen über die Festlegung einer Grenze zwischen beiden Staaten. Delegationen beider Seiten trafen sich 1689 in Nertschinsk. Eine direkte sprachliche Verständigung war nicht möglich. Es wurde, dank zweier Jesuiten in der chinesischen Delegation, Tomás Pereira und Jean-François Gerbillon, auf Latein verhandelt. So entstand nach zwei Wochen auch das Vertragsdokument in lateinischer Sprache, von dem die Delegationen jeweils eine mandschurische und eine russische Übersetzung anfertigten. Danach sollten der Ergun (russisch: Argun) bis zum Zusammenfluß mit der Schilka, danach die Gorbiza, ein linksseitiger Nebenfluß des Amur bis zur Quelle, die chinesisch-russische Grenze bilden. Von dort aus sollte sie dem Kamm des Äußeren Hinggan-Gebirges (russisch: Stanowoi-Gebirge) bis zum Ochotskischen Meer folgen. Über ein kleines Küstengebiet am Nordhang des Stanowoi sollte in späteren Verhandlungen entschieden werden.

Gezerre um die Mongolei

Obwohl es Rußland gelang, sein Vordringen in das Gebiet zwischen Baikalsee und Ergun implizit völkerrechtlich zu legalisieren, bestätigte der Vertrag doch die Zugehörigkeit des gesamten Amur- und Ussuri-Gebietes sowie der Insel Kuye (russisch: Sachalin) zu China. Die historische Bedeutung des Vertrags liegt darin, daß China durch die Unterzeichnung erstmals überhaupt in seiner Geschichte die Existenz eines weiteren souveränen Staates auf der Welt anerkannte und somit völkerrechtlich und außenpolitisch in die Neuzeit eintrat. In den Folgeverträgen von Burinsk (1727) und Kjachta (1728) wurde auch die Nordgrenze zwischen China und Rußland festgelegt. Sie entspricht in etwa der heutigen russisch-mongolischen Grenze sowie der Grenze von Tuwa zu fünf anderen Föderationssubjekten Rußlands. Damit entstand die Grundlage für den nun bald florierenden chinesisch-russischen Handel, der weitgehend über die Grenzorte Kjachta und Altan Bulag (heute im Staat Mongolei) abgewickelt wurde.

Es sollte 130 Jahre dauern, bis das zaristische Rußland im Fernen Osten eine Änderung dieser Grenzen erzwang. China war inzwischen von inneren Krisen und europäischem Kolonialismus, insbesondere den Opiumkriegen, geschwächt, während Rußland, das nicht in der Lage war, Kolonien in Übersee zu erobern, weiter kontinental expandierte. China vermochte es nicht, seine nördlichen und westlichen Grenzen militärisch zu verteidigen und verlor so in den erzwungenen Vertragswerken von Aigun (1858), Peking (1860), Tschugutschak (1864) und St. Petersburg (1881) 790000 Quadratkilometer seines Territoriums im Nordosten (heute die Regionen Amur, Birobidschan, Chabarowsk, Primorje und Sachalin) und weitere 850000 im äußersten Westen (heute Teil Kasachstans und Kirgisiens).

Schließlich ging die marode Qing-Dynastie 1911 unter, und aus der Xinhai-Revolution entstand 1912 die Republik China. Diese Wirren nutzend erklärte die Äußere Mongolei unter russischem Einfluß ihre Unabhängigkeit von China, und das Reich konnte sich auch nicht wehren, als Rußland ihr 1914 das Urjanchai-Gebiet (heute Republik Tuwa) wegnahm. Im Vertrag von Kjachta 1915 wurden Äußere Mongolei und Urjanchai zwar wieder der chinesischen Oberhoheit (Suzeränität) unterstellt und ab 1918/1919 auch tatsächlich wieder von China kontrolliert – China nutzte die relative Schwäche Rußlands infolge der Oktoberrevolution 1917 –, aber das war nur ein kurzes Intermezzo. Bereits 1919 vertrieb die Rote Armee die chinesischen Truppen aus Urjanchai, 1921 erklärte die Mongolei erneut ihre Unabhängigkeit. Beides wird heute von der Volksrepublik China völkerrechtlich anerkannt. Schaut man jedoch auf eine Karte der »Republik China«, wie sie bis heute auf Taiwan verbreitet wird, findet man den Staat Mongolei und die russische Republik Tuwa dort beide als chinesisches Territorium verzeichnet.

Sowjetisches Unverständnis

»Die Geschützsalven der Oktoberrevolution brachten uns den Marxismus-Leninismus«, hatte Mao Zedong 1949 gesagt. Die Auswirkungen der russischen Revolution auf China waren in der Tat enorm. Japan und Rußland bekriegten sich zwischen 1904 und 1905 noch auf chinesischem Boden. Es war ein typischer Kolonialkrieg, bei dem es um Nordostchina (Mandschurei) als Einflußzone ging. Das Zarenreich erlitt eine bittere Niederlage. 1917 kam eine Regierung an die Macht, deren Chef, Lenin, die Befreiung der Kolonialvölker propagierte und für Gleichberechtigung in den internationalen Beziehungen eintrat. Das war etwas völlig Neues und verschaffte dem jungen Sowjetstaat in China ein ungeheures Ansehen. Zunächst bei Sun Yat-sen, der ab 1919 die Nationale Volkspartei, die Guomindang, nach dem Vorbild der Partei der Bolschewiki organisierte. Dann aber auch bei jungen, fortschrittlichen Intellektuellen, die sich nicht nur für die Form, sondern auch für den Inhalt dieses neuen europäischen Phänomens interessierten.

»Kommunismus« war eine Idee, die mit bestimmten Strömungen der chinesischen Geistesgeschichte verknüpft werden konnte. Aber »Marxismus«? »Vor der Oktoberrevolution waren den Chinesen nicht nur Lenin und Stalin, sondern auch Marx und Engels unbekannt«, sagte Mao ganz richtig, der zu dem kleinen Kreis Intellektueller gehörte, die 1921 in Shanghai die Kommunistische Partei Chinas (KPCh) gründeten. Ihre Anführer, die selbst nicht teilnehmen konnten, waren Li Dazhao und Chen Duxiu. Dafür nahmen, neben den zwölf chinesischen Delegierten, mit Maring (Henk Sneevliet) und Nikolski (Wladimir A. Neumann) zwei Delegierte der Komintern (KI) am Gründungsparteitag teil. Doch auch auf seiten der Guomindang gab es zahlreiche sowjetische Berater, vor allem in militärischen Fragen. Michail Borodin übte als KI-Vertreter bei der Volkspartei Druck aus, der schließlich zur ersten Einheitsfront zwischen ihr und der KP des Landes führte. Galen (Wassili Blücher) lehrte als Vertreter der Roten Armee an der Whampoa-Militärakademie.

Bis 1945 sollte die sich hier schon abzeichnende Zweigleisigkeit in der China-Politik – sowohl des sowjetischen Staates wie auch der Partei – anhalten. Aus sowjetischer Sicht waren die Bedingungen für eine sozialistische Revolution in China nicht gegeben. Deswegen sollten die Kommunisten am besten bei den bürgerlichen Revolutionären, also in der Guomindang, mitarbeiten und dort den fortschrittlichsten Flügel bilden. Man erwartete, daß die junge und kleine KP Chinas als KI-Mitglied gehorchte. Doch 1924 starb Lenin, 1925 übernahm Tschiang Kai Schek die Führung in der Volkspartei und richtete sie 1927 im Zuge des Weißen Terrors stramm rechts aus. Nach der Einnahme Shanghais ließ er im April 1927 mehr als 12000 Kommunisten massakrieren, danach über ein Jahr hinweg im ganzen Land mindestens 300000. Schätzungen, die die ländlichen Regionen mit einbeziehen, gehen sogar in die Millionen. Borodin und Galen ließ er allerdings unversehrt in die Sowjetunion zurückkehren. Mao zog die Schlußfolgerungen und begann einen Partisanenkrieg gegen die Guomindang. Ab 1935 führte er effektiv auch die KPCh an; offiziell übernahm er 1943 den Vorsitz. Von dieser Zeit an wurden Weisungen aus Moskau in der Regel ignoriert und die KI-Delegierten – am Langen Marsch nahm z.B. Otto Braun teil – hatten wenig Einfluß. Daß es 1936 noch einmal zu einer Einheitsfront mit der Guomindang kam, war durch die Aggression Japans bedingt, der eine Fortsetzung des Bürgerkrieges nur nützlich gewesen wäre.

Die Sowjetunion verfolgte unter Stalin in der Außenpolitik zunehmend nationale Interessen. Hinzu kam das völlige Unverständnis der Lage in China. Maos Politik, die sich stärker auf die Bauern stützte und die Städte vom Land aus einkreisen wollte, wurde mit ideologischen Argumenten abgelehnt. Reste eurozentrischer Arroganz gegenüber den chinesischen Genossen, von denen man in KPdSU und KI Gehorsam und nicht eigene Ideen erwartete, kamen hinzu.

Dabei war es gerade das Profil, das die KPCh im antijapanischen Widerstandskrieg entwickeln konnte, das ihr Ansehen in der Bevölkerung massiv steigerte, ihr den massenhaften Zulauf städtischer Intellektueller sicherte und schließlich, Mitte der 1940er Jahre die gesamtgesellschaftliche Hegemonie in fast allen Bereichen einbrachte. Wer sehen konnte und China kannte, wußte, daß in dem Land die Kommunisten den Zweiten Weltkrieg gewonnen hatten. Doch schon im Mai 1945 hatte Stalin gesagt, daß er Tschiang Kai Schek für die Persönlichkeit halte, die China einigen könne und er der KPCh keine Chancen gebe. Also schloß die Sowjetunion am 14. August 1945, dem Tag der Kapitulation Japans, mit der von der Volkspartei gestellten Regierung einen »Freundschafts- und Beistandspakt«. Dabei konnte die Sowjetunion ihre Stärke als Siegermacht des Krieges ausspielen und die chinesische Regierung zwingen, alle Sonderrechte und Privilegien in der Mandschurei, die man im russisch-japanischen Krieg verloren hatte, wieder zu gewähren. Zwar gab die Rote Armee die Waffen, die sie in Nordostchina bei der Kapitulation Japans hatte erbeuten können an Truppen der KPCh weiter, jedoch hielt sie weiter an ihrer Unterstützung der Nationalregierung fest. Der sowjetische Botschafter in Nanjing, Nikolai Roschtschin, folgte im Januar 1949 sogar der Verlegung der Nationalregierung nach Guangzhou (Kanton) – was schon als Vorbereitung auf die geplante Flucht nach Taiwan interpretiert werden kann – während der US-amerikanische Botschafter John L. Stuart in Nanjing blieb, um mit den Kommunisten zu verhandeln. Nanjing wurde am 23. April 1949 befreit.

Bündnisse und Entzweiung

Als am 1. Oktober 1949 die Volksrepublik China ausgerufen wurde, hatten die diplomatischen Beziehungen, die tags darauf mit der UdSSR aufgenommen wurden, bereits eine belastete Vorgeschichte. Die Sowjetunion vertrat zwar eine fortschrittliche Ideologie und war deutlich anders mit China umgegangen als andere europäische Mächte. Jedoch hatte sich sofort nach dem Krieg gezeigt, daß ihr Antikolonialismus im eigenen Fall (Mandschurei), nicht so ernst gemeint war, wie die Chinesen gehofft hatten. Außerdem hatte die KPCh nicht mit Hilfe der Sowjetunion, sondern ohne, zum Teil sogar gegen sie, den Bürgerkrieg und damit die Revolution gewonnen. Doch Stalin gestand seinen Fehler ein: »Wir waren ein Hindernis für euch, und ich bedaure dies sehr« soll er zu Liu Shaoqi während dessen Besuch in Moskau im Juli 1949 gesagt haben.

Für China gab es sowieso keine Alternative. Die USA hatten es nicht geschafft, sich von Tschiang Kai Schek zu trennen, obwohl es im State Departement durchaus Kräfte gab, die seiner mehr als überdrüssig waren. In der Logik des Kalten Krieges konnte es nur zwei Lager geben und so verbündete sich China mit der UdSSR. Mao gab die Parole »zu einer Seite neigen« aus und fuhr im Dezember 1949 zu seiner ersten Auslandsreise nach Moskau, wo am 14. Februar 1950 ein Freundschafts- und Beistandspakt geschlossen wurde. Die Sowjetunion gab Millionenkredite und schickte Tausende Experten nach China, die beim Aufbau und bei der Modernisierung des zerstörten und stark unterentwickelten Landes helfen sollten.

Doch schon der Koreakrieg in den Jahren 1950 bis 1953 störte die Harmonie. Als eine Niederlage Nordkoreas und damit ein Vorrücken von US-Truppen an seine Grenzen drohte, schickte China eine Armee von Volksfreiwilligen und erreichte unter schweren Verlusten ein Patt gegen die UN-Truppen unter amerikanischer Führung. Stalin hatte ein direktes Eingreifen der Sowjetunion abgelehnt, China aber schon frühzeitig gedrängt, sich zu engagieren. Panzer und andere Waffen, die die Sowjetunion lieferte, mußten allerdings auf Heller und Pfennig bezahlt werden. Noch höher war ein anderer Preis. Die USA, die bis dahin dem abgewrackten Guomindang-Regime, das auf die chinesische Insel Taiwan geflohen war, relativ gleichgültig gegenübergestanden hatten, schickten nun ihre 7. Flotte in die Taiwan-Straße zwischen der Insel und dem Festland und schlossen zum Ende des Koreakrieges einen militärischen Beistandsvertrag mit der Regierung der sogenannten »Republik China«. Damit war eine Wiedervereinigung Chinas für lange Zeit unmöglich geworden. In der chinesischen Führung war der Unmut groß: Erst durfte man für Russen und Koreaner die Kartoffeln aus dem Feuer holen, opferte dabei 200000 Soldaten, mußte für halbwegs brauchbare Waffen auch noch zahlen, und dann war das Ergebnis eine nationale Katastrophe, die unabsehbare Verlängerung der Spaltung des eigenen Landes.

Die chinesische Revolution, die aus dem antijapanischen Widerstandskrieg hervorgegangen war, hatte ebenso starke nationale wie soziale Züge. So kann es nicht verwundern, daß auch Chinas Außenpolitik immer deutlicher nationalen Interessen folgte. Für teure internationalistische Abenteuer wie den Koreakrieg war kein Platz mehr. Die chinesische Außenpolitik begann immer stärker von der sowjetischen abzuweichen. Dies zeigte sich erstmals während der Konferenz asiatischer und afrikanischer Staaten in Bandung 1955, auf der begrifflich die »Dritte Welt« und mit ihr die »Bewegung der Blockfreien« entstand. China hatte sich hier stark engagiert, die Sowjetunion war gar nicht eingeladen worden. Unter Führung von Zhou Enlai formulierte man nun eine eigene Außenpolitik, die fünf Prinzipien (territoriale Integrität, Aggressionsverzicht, Einmischungsverzicht, Gleichheit und gegenseitiger Nutzen, friedliche Koexistenz), die noch um das »Recht aller Völker, sich für ein eigenes politisches und ökonomisches System zu entscheiden« ergänzt wurden.

Teil II: Von tiefer Entzweiung zu einer gemeinsamen Kritik der Expansionsbestrebungen von USA und NATO

Die selbständige Außenpolitik Chinas, besonders seine Beteiligung an der Bewegung der Blockfreien, war das erste Anzeichen dafür, daß es einen Sonderweg gehen würde. Auch wenn man in den 1950er Jahren noch die Führungsrolle der Sowjetunion zumindest verbal anerkannte, mangelte es der chinesischen Seite nicht an Selbstbewußtsein. Mao war als marxistischer Theoretiker, als erfolgreicher Militärstratege und als Gründer der Volksrepublik bereits damals eine legendäre Persönlichkeit. Seine politische Agenda bestand im Kern aus zwei Sätzen: »Das chinesische Volk ist aufgestanden« und »Rebellion ist gerechtfertigt«. Der erste Satz war das Motto der Staatsgründung gewesen. Nie mehr sollte China »der kranke Mann Asiens« sein, nie mehr sollte es unter Kolonialismus, Aggression und aufgezwungenen, ungleichen Verträgen zu leiden haben. Der zweite Satz stammte aus einer Rede im Dezember 1939, war aber bis zur Kulturrevolution nicht publiziert worden. Er stand für eine Traditionslinie der Partei, die im Antikonfuzianismus der »Bewegung des 4. Mai« 1919 und in einem emanzipatorischen Verständnis des Marxismus wurzelte. Beide Sätze waren mit einer Unterordnung unter die Sowjetunion bzw. die KPdSU in keiner Weise vereinbar.

Die Kritik von KPdSU-Chef Nikita Chru­schtschow an Stalin auf dem XX. Parteitag 1956 vertiefte den Riß. Aus chinesischer Sicht gab es an Stalin viel zu kritisieren, vor allem im Hinblick auf sein Verhalten während der chinesischen Revolution. Aber die Form der Kritik erschien der KPCh-Führung unwürdig, ihr Inhalt flach und ihre Funktion schädlich für die gemeinsame Sache.

China hatte schon in den 1950er Jahren um Unterstützung beim Bau einer eigenen Atombombe gebeten, war aber von Moskau vertröstet und hingehalten worden. Statt dessen schlug Chru­schtschow 1958 die Stationierung sowjetischer Atomwaffen und den Bau von U-Boot-Stützpunkten auf chinesischem Boden vor, was von Mao abgelehnt wurde – ausländische Truppen auf chinesischem Boden hatte man lange genug gehabt.

Ebenfalls 1958 wurde in China eine Kampagne beschleunigter Industrialisierung und Kollektivierung ausgerufen, der »Große Sprung nach vorn«. Das war eine offene Abkehr vom »sowjetischen Weg« des Primats der Schwerindustrie. Er endete in einem Desaster, und mitten in der größten Krise, einer gigantischen Hungerkatastrophe, rief Chruschtschow 1960 alle sowjetischen Experten zurück. Auch wenn das keine großen ökonomischen Auswirkungen hatte, trug es doch massiv zur Verschlechterung der Beziehungen bei.

Im Mai 1962 kam es in der Ili-Region des Uigurischen Autonomen Gebiets Xinjiang zu einem Zwischenfall: Etwa 60000 Menschen, überwiegend Kasachen und Uiguren, wollten plötzlich dauerhaft in die UdSSR übersiedeln. Zu diesem Zweck legten sie Personalpapiere der Sowjetunion vor, die vom Konsulat in Gulja ausgestellt worden waren. Am Grenzübergang kam es zu Verzögerungen und Gerangel, nach sowjetischen Angaben auch zu Schüssen. Zwei Offiziere der Volksbefreiungsarmee (VBA), ein Uigure und ein Tatare, entpuppten sich als Organisatoren der Migrationsbewegung und liefen ebenfalls über. China beschuldigte den sowjetischen Geheimdienst KGB der Mitwirkung.

Dann überschritt im Oktober 1962 die indische Armee in Südosttibet die nicht anerkannte McMahon-Linie [1] und drang nach China ein. Die VBA schlug sie zurück und demonstrierte in einem kurzen Grenzkrieg, daß China den Streit mit Indien zwar friedlich lösen wollte, weitere militärische Provokationen aber nicht bereit war hinzunehmen. In diesem Zwist kritisierte die Sowjetunion China als Hauptverantwortlichen. Dieser Vorwurf war sachlich offenkundig falsch, entsprach aber der westlichen Medienkampagne, die das arme, demokratische Indien als Opfer des bösen, kommunistischen »Rotchina« darstellte. Das wurde von Peking als extrem unsolidarisch empfunden. Verbunden mit der Tatsache, daß die Inder über die modernen Waffen verfügten, die die Sowjetunion sich geweigert hatte, an China zu liefern, war es möglicherweise der endgültige Bruchpunkt.

Im Februar 1963 machte das Zentralkomitee (ZK) der KPdSU dem der KPCh noch einmal den Vorschlag für ein Gipfeltreffen, auf dem eine Aussprache stattfinden könne. Die Chinesen reagierten vorsichtig zustimmend, woraufhin das ZK der KPdSU ihnen am 30. März 1963 einen Brief schrieb, in dem es seine Positionen darlegte. Das ZK der KPCh antwortete am 14. Juni mit einem »Vorschlag zur Generallinie der internationalen kommunistischen Bewegung«. Da die Sowjets den Text nicht publizierten, verbreitete die chinesische Botschaft in Moskau ihn in russischer Übersetzung. Darauf reagierte die sowjetische Seite am 14. Juli mit einem »Offenen Brief an alle Parteiorganisationen und alle Kommunisten der Sowjetunion«, der den vorläufigen Endpunkt der Parteibeziehungen markierte. Von September 1963 bis Juli 1964 publizierte die KPCh noch neun Kommentare zu diesem offenen Brief (u.a. »Zur Stalin-Frage«, »Zwei Linien in der Frage von Krieg und Frieden«), die zusammen mit dem ursprünglichen »Vorschlag« als »Polemik über die Generallinie« bekannt geworden sind. Damit war die Spaltung der internationalen kommunistischen Bewegung vollzogen, und die Beziehungen beider Staaten schienen auf dem Tiefpunkt angelangt.

Die Feindschaft

Doch der Tiefpunkt war noch lange nicht erreicht. Auch wenn China, vor allem seit Beginn der Kulturrevolution 1966, sich stärker auf sich selbst konzentrierte, setzte es seine Außenpolitik fort und radikalisierte sie zum Teil noch: »US-Imperialismus« und »Sowjetrevisionismus« wurden jetzt immer häufiger in einem Atemzug genannt und als schlimmste Feinde der Menschheit, insbesondere der Völker des Trikont gegeißelt. In der Sowjetunion verschärfte sich die innenpolitische Lage: Leonid Breschnew setzte im Oktober 1964 Chruschtschow ab und entwickelte die »Doktrin der begrenzten Souveränität«, wonach ein einzelnes sozialistisches Land sich nur im Rahmen aller sozialistischen Länder entwickeln kann. Die Warschauer Vertragsstaaten intervenierten 1968 in der Tschechoslowakei. In diesem Zusammenhang erhob China erstmals den Vorwurf des »Sozialimperialismus«. Die chinesische Führung sah die Sowjetunion zunehmend als Hauptbedrohung an, während die USA, die sich im Vietnamkrieg verzettelten, als »Supermacht auf dem absteigenden Ast« immer weniger gefürchtet wurden.

1969 kam es dann an den Grenzflüssen Heilong Jiang (Amur) und Ussuri tatsächlich zu bewaffneten Auseinandersetzungen zwischen chinesischen und sowjetischen Truppen. Vordergründig ging es um die Kontrolle über einige Inseln, deren Zugehörigkeit umstritten war – heute hat Rußland anerkannt, daß sie zu China gehören –, in Wirklichkeit kamen die Zwischenfälle beiden Seiten sehr gelegen. Die Sowjets konnten einmal mehr die Chinesen als kriegslüsterne Abenteurer darstellen und selbst ihre Entspannungspolitik mit den USA voranbringen. Peking hingegen fand seine Theorie des »Sozialimperialismus« belegt und begann, die Kremlführung als »neue Zaren« zu bezeichnen. So ist es auch nicht verwunderlich, daß die Frage nach der Schuld an den Zusammenstößen bis heute nicht eindeutig beantwortet werden kann.

Die Normalisierung der Beziehungen zu den USA war eine logische und vor allem realpolitische Konsequenz der Entwicklung. Präsident Richard Nixon besuchte das Land im Februar 1972. Sein Sicherheitsberater Henry Kissinger hatte diese erste Version eines »strategischen Dreiecks« konzipiert. Mit der »chinesischen Karte« wollte man die Sowjetunion zu Zugeständnissen, vor allem im Bereich der Abrüstung bewegen. Ansonsten war China aus der Sicht der Amerikaner damals ökonomisch und militärisch weitgehend irrelevant. Einzig Chinas Sitz als Vetomacht im Sicherheitsrat der UNO, der 1972 endlich von der Republik auf die Volksrepublik China transferiert werden konnte, gab der Dreiecksmetapher (USA–Sowjetunion–China) einen Sinn. China versprach sich von den USA Schutz vor einem befürchteten sowjetischen Angriff. Rückblickend muß man sich fragen, wie es damals – bei allem Verständnis für die chinesische Verärgerung angesichts des Verhaltens der sowjetischen Führung – zu einer derart krassen Fehleinschätzung kommen konnte. Die Phase der Außenpolitik, in der man mit den schlimmsten Reaktionären im Westen kooperierte (Strauß, Pinochet, Schah Pahlavi) und die fragwürdigsten »Befreiungsbewegungen« in Afrika unterstützte (FNLA und UNITA in Angola, RENAMO in Moçambique), wenn sie nur radikal antisowjetisch waren, hielt noch weit über Maos Tod im Jahr 1976 an. Eine Nebenbemerkung Maos im Gespräch mit dem sambischen Präsidenten Kenneth Kaunda 1974 wurde von seinem Nachfolger Hua Guofeng 1977 zur sogenannten Drei-Welten-Theorie erhoben. Danach sollte sich die »dritte Welt« mit der »zweiten Welt« (Europa, Japan, Austra­lien) verbünden, um die Vorherrschaft der »ersten Welt« (die »Supermächte«) abzuschütteln. Die Kriegsgefahr ginge in erster Linie vom Streben der beiden Supermächte nach Vorherrschaft aus, wobei die gefährlichere, aggressivere jetzt die Sowjetunion sei.

Dieser Irrweg der chinesischen Außenpolitik führte schließlich im Februar 1979 zu einem kurzen Krieg mit Vietnam, das im Jahr zuvor einen Freundschaftsvertrag mit der UdSSR geschlossen hatte. Der Angriff wurde als »Strafexpedition« deklariert, da vietnamesische Truppen geholfen hatten, das blutige Regime der »Roten Khmer« in Kambodscha zu stürzen, mit dem China verbündet war. China erreichte zwar seine vorher formulierten Kriegsziele und zog seine Truppen planmäßig wieder hinter die eigene Grenze zurück, aber es erreichte keine Veränderung der Situation in Kambodscha. Vor allem hatte es etwa doppelt soviel Todesopfer zu beklagen wie die kriegserfahrenen Vietnamesen, die von der Sowjetunion mit modernen Kampfgeräten unterstützt wurden. Die Waffenlieferungen an islamistische Mudschaheddin nach der sowjetischen Intervention in Afghanistan im Dezember 1979 und dieser unnötige Feldzug Chinas gegen Vietnam für eine falsche Sache waren die Tiefpunkte in den chinesisch-sowjetischen Beziehungen und auch die der Außenpolitik Pekings. Der Krieg gegen Vietnam wird heute in China kaum noch erwähnt, ja meistens schamvoll beschwiegen.

Die Wiederannäherung

Markierte das Jahr 1979 mit Vietnam und Afghanistan die Talsohle der chinesisch-sowjetischen Beziehungen, so erlebte es mit der Aufnahme diplomatischer Beziehungen gewissermaßen auch den Gipfel im Verhältnis zwischen China und den USA. Der »strategischen Partnerschaft«, die Alexander Haig China 1981 vorschlug, begegnete man in Peking, trotz in Aussicht gestellter Waffenlieferungen, mit Zurückhaltung.

Die fortdauernde amerikanische Unterstützung Taiwans, der erste Handelskrieg mit den USA 1983 und vor allem der chinesische Eindruck, daß seit Ronald Reagans Präsidentschaft 1981 die USA wieder stärker und offensiver, die Sowjetunion hingegen nach Breschnews Tod 1982 eher schwächer und defensiver wurden, führten zu einer Neuorientierung Pekings. Von 1982 an verzichtete man auf den Revisionismusvorwurf und nahm Verhandlungen mit der UdSSR auf. Die Wirtschaftsbeziehungen entwickelten sich langsam, aber stetig, und an den von China benannten Hindernissen für eine Normalisierung – sowjetische Truppen in der Mongolei, in Afghanistan und an der gemeinsamen Grenze; vietnamesische Einsatzkräfte in Kambodscha – wurde gearbeitet.

1986 kündigte der neue Staatschef Michail Gorbatschow erste Reduzierungen der Streitkräfte an, die in den Folgejahren auch umgesetzt wurden. Bis 1989 waren alle Hindernisse beseitigt, und die Verhandlungen über den Verlauf der gemeinsamen Grenze machten gute Fortschritte. Bei Gorbatschows Peking-Besuch im gleichen Jahr war die chinesische Regierung wegen der Tiananmen-Proteste nur eingeschränkt handlungs- und zurechnungsfähig. Das kehrte sich zwei Jahre später um: Präsident Jiang Zemin besuchte im Mai 1991 Moskau und traf dort in einer zerfallenden Sowjetunion einen angeschlagenen Gorbatschow. Jiangs Angebot, die enge Kooperation der 1950er Jahre wiederaufzunehmen, ging ins Leere.

Vom Neubeginn bis heute

Der Zusammenbruch der Sowjetunion hatte für China keine schwerwiegenden Konsequenzen. Zwar wurde Gorbatschow intern als »Verräter am Sozialismus« gesehen, aber die ideologische Distanz der letzten Jahrzehnte wirkte noch nach, und Parallelen wurden nicht gezogen. Die Krise des Jahres 1989 war überwunden und das eigene System konsolidiert. Sukzessive nahm man also mit allen Nachfolgestaaten diplomatische Beziehungen auf, wobei dem Verhältnis zur Russischen Föderation die größte Aufmerksamkeit gewidmet wurde.

Während in den 1990er Jahren, mit Boris Jelzin als Staatschef Rußlands Wirtschaft eine schwere Krise durchmachte, begann in China der rasante Aufschwung, der durch immer weitergehende Reformen und den Ausbau der »sozialistischen Marktwirtschaft« angetrieben wurde. Erst nach der Jahrtausendwende, Wladimir Putin war nun an der Macht, konnte Rußland seine Wirtschaft durch staatliche Regulierungsmaßnahmen konsolidieren. Moskaus ökonomische Erfolge stützten sich vor allem auf Energiewirtschaft und Rohstoffexporte (Gas und Öl). China setzte hingegen auf den Export von Fertigprodukten und wurde zur »Werkbank der Welt«.

Mit Jiang Zemin als Generalsekretär des ZK der KPCh (1989–2002) stand ein Politiker an der Spitze, der in der Sowjetunion studiert hatte und fließend Russisch sprach. Im Dezember 1992 besuchte Jelzin Peking. Trotz seines undiplomatischen Auftretens konnten die auf beiden Seiten vorhandenen Vorbehalte abgebaut werden. Im Januar 1994 schlug Jelzin Jiang eine »konstruktive Partnerschaft« vor, die bei Jiangs Moskau-Besuch im September auch schriftlich fixiert wurde. Gleichzeitig einigte man sich darauf, die Zielprogrammierung der strategischen Nuklearwaffen nicht mehr gegeneinander zu richten. Nicht zuletzt die Erweiterungspolitik der NATO führte dazu, daß die Westorientierung der russischen Außenpolitik in der frühen Jelzin-Zeit nun aufgegeben wurde und China wie Rußland die USA zunehmend als Hegemonialmacht einschätzten, die nach globaler Dominanz strebte.

Bei Jelzins China-Besuch im April 1996 entwickelte man eine »strategische Partnerschaft« zur Bewahrung von Frieden und Stabilität in einer »multipolaren Welt«. Diese Tendenz fand ihren Ausdruck in der Gründung einer Organisation, die zunächst »Shanghai-Five-Gruppe« genannt wurde. Am 26. April unterzeichneten die Präsidenten Chinas, Rußlands, Kasachstans, Kirgisiens und Tadschikistans den »Vertrag für die Vertiefung des militärischen Vertrauens in den Grenzgebieten«. Aus den Shanghai Five wurde 2001, nach Aufnahme Usbekistans, die »Shanghaier Organisation für Zusammenarbeit« (SOZ).

In den gemeinsamen Erklärungen anläßlich chinesisch-russischer Staatsbesuche 1997 bis 1999 wurde die NATO-Expansionspolitik immer deutlicher kritisiert. Wenn die Bombardierung der chinesischen Botschaft in Belgrad 1999 Peking vor einem Bündnis mit Rußland warnen sollte, dann war sie definitiv das falsche Signal. Unmittelbar danach kontaktierte die chinesische Führung den Kreml, und bereits im Juli 2001 konnte – inzwischen mit Putin – ein Freundschafts- und Kooperationsvertrag geschlossen werden. Der 11. September 2001 unterbrach diese kontinuierliche Entwicklung kurzzeitig. Rußland und China erklärten ihre Solidarität mit den USA, zumal beide schon eigene Erfahrungen mit islamistischem Terrorismus hatten. Rußland leistete sogar logistische Hilfestellung bei der Intervention in Afghanistan. Zeitweise gab es US-amerikanische Militärbasen in Tadschikistan, Usbekistan und Kirgisien (die letzte, die Manas Air Base in Kirgisien, wird dieses Jahr geschlossen), die als »Etappe« für die Interventionstruppen dienten. Nebenbei wünschten sich die USA mehr Einfluß in Mittelasien, das sie mit einem stabilisierten, westlich orientierten Afghanistan gern aus der Einzwängung zwischen Rußland und China »befreit« hätten. Doch so unrealistisch wie diese Perspektive, so kurz war die Auflockerung des »strategischen Dreiecks«. Mit dem Angriffskrieg gegen den Irak im März 2003 zeigten die USA, daß ihnen das Völkerrecht egal war, und bereits im Mai verurteilten Rußland und China gemeinsam Unilateralismus und Machtpolitik. Seitdem entwickelt sich die politische, ökonomische und militärische Zusammenarbeit bilateral zwischen beiden Staaten und multilateral zwischen den SOZ-Staaten kontinuierlich und ohne weitere Störungen.

Die Perspektiven

Ökonomisch ergänzen sich Rußland und China: China bezieht aus Rußland vor allem Rohstoffe (Gas und Öl) und Militärtechnologie, Rußland aus China vor allem Konsumgüter. Als gemeinsame sicherheitspolitische Herausforderungen werden »islamistischer Terrorismus«, Drogenhandel und die Einflußnahme der USA in Mittelasien angesehen. Auch wenn aus der SOZ wohl keine »Gegen-NATO« werden wird, ist sie für die Staaten Mittelasiens attraktiv, da die enge Partnerschaft mit den beiden großen Nachbarn die einzige Gewähr für regionale Stabilität bietet. China respektiert dabei, daß Rußland historisch bedingt engere Beziehungen zu diesen Ländern pflegt.

Potentielle Konflikte zwischen Rußland und China sind selbst langfristig kaum auszumachen. Einzig die traditionell freundschaftlichen Beziehungen Rußlands mit Indien und Vietnam könnten im Fall von Grenzkonflikten beider Länder mit China zu einem Problem werden. Doch Pekings Streit mit Indien ist im Kern anachronistisch und seine Lösung überfällig. Gerade Narendra Modi (siehe zu ihm jW-Thema vom 16.5.2014), der neue hindu-nationalistische Ministerpräsident Indiens, wäre in der Lage, hier endlich auf die großzügigen Angebote Chinas einzugehen. Im Fall von Vietnam haben die USA bereits die Gunst der Stunde erkannt und versuchen sich als Schutzmacht des ehemaligen Kriegsgegners aufzuspielen. Ob Vietnam das auf Dauer akzeptiert und wie Rußland darauf reagieren wird, ist noch nicht auszumachen.

In außenpolitischen Fragen, die weder die bilateralen noch die SOZ-Beziehungen betreffen, werden Rußland und China aus praktischen Gründen auch in Zukunft eine gewisse Distanz halten: Für China ist die Unverletzlichkeit staatlicher territorialer Integrität ein Grundpfeiler seiner Außenpolitik. So hat es weder Kosovo, Südossetien und Abchasien diplomatisch anerkannt, noch hat es die Rückholung der Krim durch sein Abstimmungsverhalten in der UNO sanktioniert. Rußland wird in den Territorialfragen Chinas Neutralität bewahren. Das betrifft im Streit um Gebietsansprüche im Süd- und im Ostchinesischen Meer nicht nur Vietnam, sondern auch Japan, das für Rußland ein wichtiger ökonomischer Partner ist.

In der Gesamtsicht sind diese Einschränkungen aber bedeutungslos. Das russisch-chinesische Verhältnis hat ein solides Fundament von Gemeinsamkeiten. Es könnte mittelfristig zum entscheidenden Faktor eines neuen »strategischen Gleichgewichts« mit USA/NATO werden. Das entspräche nicht deren Vorstellung einer »neuen Weltordnung«. Für die Völker der Welt hätte es aber große Vorteile: weniger Kriege und mehr Spielraum für unabhängige Politik.

Anmerkung
  1. Die Linie reicht vom Himalaya über 550 Meilen von Bhutan im Westen bis zum Bogen des Flusses Yarlung Zangbo (in Indien: Brahmaputra) im Osten. Sie wurde 1914 auf der Simla-Konferenz zwischen Großbritannien und der tibetischen Lokalregierung festgelegt und überließ 90000 Quadratkilometer Südost-Tibets dem britischen Kolonialreich. Der Delegierte der chinesischen Zentralregierung verließ die Konferenz unter Protest und verweigerte seine Zustimmung. Deswegen trat das Abkommen völkerrechtlich nie in Kraft. Das neu »erworbene« Gebiet wurde de facto aber noch bis 1951 von der tibetischen Regierung in Lhasa verwaltet. Dann vertrieben indische Truppen den tibetischen Gouverneur und seine Beamten.
* Ingo Nentwig ist promovierter Sinologe und Ethnologe. Er lehrt und arbeitet am Ethnologischen Seminar der Universität Zürich und am Kolleg für Ethnologie und Soziologie der Zentralen Nationalitäten-Universität in Peking.

Dieser Artikel erschien in zwei Teilen in der jungen Welt vom 21. und 23. Juni 2014



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