Nordkaukasus bleibt angespannt
Medwedjew: Lage "extrem kompliziert"
Von Irina Wolkowa, Moskau *
Auch nachdem der Ausnahmezustand in Tschetschenien offiziell aufgehoben worden ist, bleibt die
zu Russland gehörende Region am Nordrand des Kaukasus unruhig. Meldungen über Anschläge
und Morde dringen regelmäßig nach Moskau – auch wenn sie dort kaum noch jemand registriert.
Asa Gasgirijewa starb an den Schüssen, die gestern früh in Nasran auf sie abgefeuert wurden, noch
bevor der Rettungswagen das Krankenhaus erreichte. Sechs Passanten wurden schwer verletzt,
darunter ein Kind, das noch nicht einmal ein Jahr alt war. Die Mordkommission vermutet einen
Racheakt. Gasgirijewa, Vizepräsidentin des Obersten Gerichts in der nordkaukasischen Republik
Inguschetien, war an Ermittlungen zum Anschlag von Untergrundkämpfern auf das Innenministerium
und andere staatliche Einrichtungen in der Hauptstadt Magas im Juni 2004 beteiligt. Dabei starben
insgesamt 98 Menschen, weitere 104 wurden verletzt.
Einen Racheakt von Untergrundkämpfern vermuten Ermittler auch in Dagestan. Dort war am
vergangenen Freitag Innenminister Adilgerei Magomettagirow erschossen worden. Auf ihn waren
bereits mehrere Anschläge verübt worden. Er hatte versucht, die Korruption zu bekämpfen, und war
entschlossen gegen islamische Radikalisten vorgegangen. Sein Amtsvorgänger und der Vorgänger
des dagestanischen Muftis starben den gleichen Tod. Ebenso 2005 der Minister für
Nationalitätenpolitik und der Oberbürgermeister der Hauptstadt Machatschkala.
Sprengstoffanschläge, Morde an Polizisten oder Staatsanwälten sind in Dagestan so häufig, dass
überregionale russische Medien sie nur noch mit Fünf-Zeilen-Meldungen würdigen. Sogar in der
Republik Nordossetien, die lange Zeit ein Hort relativer Ruhe war und nie durch separatistische
Tendenzen auffiel, gab es in den vergangenen Monaten eine Reihe politisch motivierter Morde.
Allein 2008 registrierte die Nachrichtenagentur RIA Nowosti im Nordkaukasus 308 terroristische
Verbrechen, bei denen insgesamt 235 Menschen starben. Russlands Präsident Dmitri Medwedjew
nannte die Lage in der Region am Dienstag nach einem Krisengipfel mit der dagestanischen
Führung in Machatschkala »extrem kompliziert«.
Experten wie Wadim Dubnow sehen das ähnlich, machen dafür aber vor allem die Kaukasuspolitik
von Medwedjews Amtsvorgängern Boris Jelzin und Wladimir Putin verantwortlich. Um
Tschetschenien wieder unter das Dach der russischen Verfassung zu zwingen, hätte für beide der
Kampf gegen die Nationalisten und damit gegen den weltlichen Flügel des Widerstands Vorrang
gehabt. 2005, nach dem Anschlag auf den damaligen tschetschenischen Untergrundpräsidenten
Aslan Maschadow, der dieser Gruppe ebenso angehörte wie der 1996 ermordete erste Präsident
Dschochar Dudajew, hätten islamische Extremisten die Führung des Widerstands endgültig an sich
gerissen, ihre Kämpfe auf die benachbarten republiken ausgedehnt und radikalisiert.
Im April 2006 zum neuen Untergrundpräsidenten Tschetscheniens gewählt, schaffte Doku Umarow,
einer der berüchtigtsten Feldkommandeure, das Amt knapp ein Jahr später ab und ließ sich zum
Emir küren. Zum militärischen und politischen Oberhaupt eines Gottesstaates, der vom Schwarzen
bis zum Kaspischen Meer reicht. Vorerst freilich nur im Geiste. Fernziel der Islamisten ist die
Erlangung der Souveränität. Und den Hebel setzen sie dort an, wo die Zentralregierung in Moskau
am schwächsten ist: in Dagestan, wo um die 30 größere Volksgruppen und über 100 kleine und
kleinste mehr schlecht als recht zusammenleben.
Für die jüngste Zuspitzung der Gewalt sind auch Gerüchte über eine erfolgreiche Sonderoperation
der Geheimdienste gegen Doku Umarow verantwortlich. Diesen Gerüchten zufolge will Moskau den
Tod des »Emirs« am Freitag – dem höchsten Staatsfeiertag Russlands – offiziell bekannt geben.
* Aus: Neues Deutschland, 11. Juni 2009
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