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Konfliktherd im Kaukasus

Moskau hat Mühe, die Lage in Inguschetien zu entspannen

Von Irina Wolkowa, Moskau *

Fememorde an russischen Lehrerinnen und deren Familien, Überfälle auf Regierungsgebäude und Anschläge auf Polizeistationen – Meldungen wie diese verschafften der Teilrepublik Inguschetien dieser Tage den Ruf, mit Abstand heißester Punkt im russischen Nordkaukasus zu sein.

Experten sehen in Inguschetien bereits Parallelen zu den Entwicklungen in Tschetschenien. Die Eskalation der Gewalt dort war einer der Gründe, die Boris Jelzin im Dezember Dezember 1994 dazu bewogen, die Republik, die sich 1991 für unabhängig erklärt hatte, wieder unter das Dach der russischen Verfassung zu zwingen. Parallelen drängen sich auch deshalb auf, weil die Schicksale beider Völker seit je eng mit einander verknüpft sind. Die knapp 3000000 Inguschen sind ethnisch sehr eng mit den Tschetschenen verwandt. Beide lebten während der Sowjetära in einer gemeinsamen Autonomie.

Anders als Tschetschenien entschied sich Inguschetien jedoch für den Verbleib in der Russischen Föderation und konstituierte sich im März 1993 als deren nationale Teilrepublik. Sie gehört zu den ärmsten Regionen Russlands und litt wegen der Flüchtlinge, die dort Schutz suchten, neben Tschetschenien selbst am meisten unter Moskaus fast zehnjährigem Krieg im Nordkaukasus. Der und ein blutiger Konflikt mit der Nachbarrepublik Nordossetien um einen Landkreis mit gemischter Bevölkerung im Herbst 1992, bei dem Moskau sich offen auf Seiten Nordossetiens engagierte, verschärfte latente antirussische Ressentiments bei der Bevölkerung erheblich. Tschetschenische Untergrundkämpfer setzten sich daher nach dem offiziellen Ende von Moskaus militärischer Operation gegen die Rebellenrepublik Anfang 2001 nach Inguschetien ab. Dort gelang es ihnen mit Hilfe einheimischer Feldkommandeure und von Freischärlern aus anderen Regionen im Nordkaukasus, die Situation mehr und mehr zu destabilisieren. Vor allem, nachdem Wladimir Putin den populären Ruslan Auschew wegen dessen Kritik an Moskaus Kaukasuspolitik zwang, als Präsident zurückzutreten.

Ersetzt wurde er durch Murat Sjasikow, einen dezidierten Parteigänger Moskaus und Ex-KGBGeneral, der mit den gegenwärtigen Problemen hoffnungslos überfordert ist. Weil ohne nennenswerten Rückhalt bei der Bevölkerung, ist Sjasikow allein nicht in der Lage, in Inguschetien das wiederherzustellen, was der Kreml »verfassungsmäßige Ordnung« nennt. Moskau stockte daher im Juli seine in der Republik stationierten Truppen auf insgesamt 2500 Soldaten auf. Weitere Unterstützung hat Sjasikow von Putin nicht zu erwarten: Tschetschenien, wo Moskau den Scheinfrieden nur mit massiver Unterstützung für Ramzan Kadyrow aufrechterhalten kann, verschlingt Milliarden. Für ein Wirtschafts- und Sozialprogramm in Inguschetien, durch das den Untergrundkämpfern die soziale Basis entzogen werden könnte, fehlen daher die Mittel. Kürzungen in Tschetschenien aber wird es nicht geben – wegen der bevorstehenden Parlaments- und Präsidentenwahlen und weil sonst das internationale Russlandbild weiteren Schaden nehmen würde.

Auch die Wiedereinsetzung von Auschew kommt für Putin nicht in Frage. Damit würde der Kreml faktisch seine gesamte Kaukasuspolitik für gescheitert erklären. Sjasikow und dessen Kollegen in den anderen nordkaukasischen Teilrepubliken, so raunen hiesige Experten, würden daher schnellstmöglich durch loyale Verwaltungsfachleute aus anderen Regionen ersetzt. Der Kreml allerdings kommt dadurch womöglich vom Regen in die Traufe. Ohne heißen Draht zu den lokalen Ethnokratien, die im Nordkaukasus traditionell über parallele Machtstrukturen verfügen, kämpfen sie auf verlorenem Posten.

* Aus: Neues Deutschland, 5. September 2007


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