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Der lange Schatten des Waldes von Katyn

Massenmord des NKWD an polnischen Offizieren belastet auch nach 75 Jahren die polnisch-russischen Beziehungen

Von Julian Bartosz, Wroclaw *

Bis heute werfen die furchtbaren Ereignisse im Wald von Katyn einen langen Schatten - besonders auf die polnisch-russischen Beziehungen. Das Thema kommt nicht vom Tisch. Die Oberste Staatsanwalt der Russischen Föderation will nach der Einstellung der Untersuchungen in dem »Fall« deren Begründung dazu geheim halten, die Übergabe wichtiger Dokumente an Polen ist weiterhin blockiert.

Eine Klage der Angehörigen von zwölf Opfern des Massakers wurde vom Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte im Jahr 2013 endgültig abgewiesen. Der Vorwurf lautete, Russland habe gegen ihre Menschenrechte verstoßen, indem es Einsicht in die Ermittlungsakten, behördliche Auskunft über die Todesumstände der Opfer, deren juristische Rehabilitierung und Schmerzensgeld verweigerte.

Gerade im laufenden Wahlkampf schürt die nationalkonservative Partei Recht und Gerechtigkeit (PiS) unter ihrem Vorsitzenden Jarosław Kaczynski antirussische Emotionen. Sie bezichtigt Wladimir Putin, für das »Attentat« verantwortlich zu sein - gemeint ist die Flugzeugkatastrophe bei Smolensk am 10. April 2010, bei der Staatspräsident Lech Kaczynski und 96 weitere prominente Personen starben. Sie waren auf dem Weg zu Gedenkfeiern in Katyn anlässlich des 70. Jahrestages des Massenmordes.

Zweifellos hatten Schergen des sowjetischen Volkskommissariats für Innere Angelegenheiten (NKWD) das Verbrechen verübt. Sie ermordeten im April 1940 auf Befehl Stalins vom 5. März 1940 fast 22 000 polnische Offiziere als »offene und unverbesserliche Feinde der Sowjetunion«. Doch die Wahrheit blieb lange in einem dichten Nebel verborgen.

Dafür sorgten jahrzehntelang auch die Regierenden der Volksrepublik Polen. Fast bis zu deren Ende im Jahre 1989 wurde die offizielle stalinistische Version zum Kriegsverbrechen an polnischen Offizieren aufrechterhalten: Deutsche seien es gewesen, die im Wald bei Katyn unweit des russischen Smolensk sowie an drei weiteren belarussischen und ukrainischen Orten die kriegsgefangenen Polen mit Genickschüssen liquidiert hätten. An diesem Tabu durfte in Polen trotz besseren Wissens offiziell nicht gerüttelt werden.

Wladyslaw Gomulka war selbst Opfer des Stalinismus. Er war nach acht Jahren Haft und Verbannung im Oktober 1956 in Polen wieder an die Macht gekommen. Der Chef der Polnischen Vereinigten Arbeiterpartei sagte damals vor demonstrierenden Studenten, dass ein Konflikt mit der Sowjetunion in der Katyn-Frage den Interessen Polens schaden würde.

In seinen erst als Fälschung ausgelegten Erinnerungen »Meine 14 Jahre« schrieb der nach den Arbeiterunruhen in polnischen Küstenstädten 1970 entmachtete Politiker: »Es gibt Situationen, in denen im lebenswichtigen Interesse des Volkes sogar Dreckslügen als Wahrheit gekleidet werden müssen.« Auch für Winston Churchill war das ungestörte Bestehen der Anti-Hitler-Koalition wichtiger als die ihm bekannte Wahrheit.

Geschichtslügen aber, wie sie auch motiviert sein mögen, holen früher oder später nachkommende Generationen ein und belasten sie. Doch vorher richten die Fälschungen politischen und moralischen Schaden an.

Als am 13. April 1943 in deutschen Radiosendern die Nachricht von den im Katyner Wald aufgedeckten Massengräbern mit Leichen der von »bolschewistischen Mördern« erschossenen polnischen Offiziere in die Welt gesetzt und drei Tage später Radio Moskau den Deutschen die Schuld für das Verbrechen zugeschoben hatte, rief General Wladyslaw Sikorski, Premier der polnischen Regierung im Exil, das Internationale Rote Kreuz an. Eine Untersuchungskommission sollte die Wahrheit finden.

Stalin reagierte mit dem Bruch der polnisch-sowjetischen Beziehungen. Sie waren erst im Juli 1941, also fast zwei Jahre nach dem Einfall der Roten Armee am 17. September 1939 in das östliche polnische Staatsgebiet, neu geknüpft worden. Die Sowjets beriefen ihre eigene internationale Kommission, die vor Ort in Katyn die offizielle Version Moskaus bestätigte. Der polnischen Öffentlichkeit wurde später aber trotzdem der wahre Tatbestand aus Sendungen von Radio Free Europe und vielen ins Land geschmuggelten Publikationen bekannt.

Nach mehr als vier Jahrzehnten gestand der sowjetische Staatspräsident Michail Gorbatschow im April 1990 gegenüber seinem polnischen Amtskollegen Wojciech Jaruzelski das Verbrechen des NKWD ein. Zwei Jahre später brachte Russlands Präsident Boris Jelzin eine Kopie des Stalinbefehls vom 5. März 1940 nach Polen. Die Duma der Russischen Föderation beschloss am 26. November 2010, das Massaker an polnischen Staatsbürgern zu verurteilen.

Nicht nur für Historiker interessant könnten Hintergründe einer »Außerordentlichen Befriedungsaktion« gegen polnische Intellektuelle zum selben Zeitpunkt sein. So kam es im März/April 1940 in Palmiry und anderen Orten während der deutschen Okkupation zur Erschießung von etwa 3000 Angehörigen der polnischen Intelligenz. Auch hier wurde der Mord damit begründet, dass die Opfer »unverbesserlich feindlich gesinnt« seien. Derselbe Zeitpunkt und dieselbe Begründung fordern die Frage heraus, ob dies nicht - als Folge des Ribbentrop-Stalin-Paktes vom 23. August 1939 - während der Geheimtreffen hoher Vertreter der Gestapo und des NKWD in Zakopane und Lwiw vereinbart wurde.

Beispiele der Zusammenarbeit der politischen Polizei beider Diktaturen gibt es ja genug. Deutsche Antifaschisten wurden auf tragische und tödliche Weise ebenfalls deren Opfer.

* Aus: neues deutschland, Samstag, 4. April 2015


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