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Schüsse am syrischen "Calling-point"

Palästinenser marschieren auf Golan bis zur Demarkationslinie und werden von Israel beschossen

Von Karin Leukefeld, Damaskus *

Israels Armeeführung hat nach den palästinensischen Massenprotesten an den Landesgrenzen mit vielen Toten und Dutzenden Verletzten Fehler eingestanden. Der israelische Rundfunk meldete am Montag, Generalstabschef Benny Ganz habe die zuständigen Truppen angewiesen, eine Untersuchung des Vorgehens am Nakba-Tag (15, Mai) einzuleiten. Die Palästinenser erinnern am Tag der Nakba (Katastrophe) an die Flucht und Vertreibung Hunderttausender nach der israelischen Staatsgründung von 1948.

»Sie haben nichts mehr zu verlieren, sie sterben, um in ihre Heimat zurückkehren zu können«. Ein junger Palästinenser in Damaskus zeigte sich überrascht und schockiert zugleich über den Zorn seiner Landsleute, die am 63. Jahrestag der palästinensischen Katastrophe (Nakba) Absperrungen auf den Golan-Höhen überwunden hatten. Durch die in einem Tal gelegene Pufferzone und Minenfelder versuchten sie, ihre Heimat zu erreichen, die nur wenige Kilometer hinter dem Ort Majd al-Shams beginnt. Das Gebiet ist seit 1967 von Israel widerrechtlich besetzt.

Majd al-Shams ist ein syrisches Drusendorf, das auf einer Anhöhe liegt. Jenseits des Tales, das unterhalb des Ortes liegt, gibt es auf syrischer Seite den Calling-point, einen ebenfalls erhöhten Ort. Von dort rufen Angehörige der Bewohner des Ortes, die heute in Syrien leben, Botschaften, Grüße und Wünsche auf die andere Seite, besuchen können sie sich nicht.

In diesem Jahr war es den Palästinensern in Syrien erlaubt worden, ohne die sonst erforderliche Genehmigung zum Calling-point zu fahren, um dort ihren Protest zum Jahrestag der Nakba zu demonstrieren. Das Durchbrechen des Zaunes bezahlten mindestens zwei Personen mit dem Leben, als das israelische Militär das Feuer auf sie eröffnete. Auch ein »Marsch der Rückkehr« von palästinensischen Flüchtlingen aus Libanon an die israelische Grenze endete tödlich. Dort starben zehn Menschen im Feuer der israelischen Armee, mehr als 300 wurden an beiden Grenzen verletzt.

Der israelische General Yoav Mordechai erklärte, seine Armee sei an allen Grenzen weiterhin in Alarmbereitschaft, die Abriegelung der besetzten palästinensischen Gebiete wurde verlängert. Der israelische Ministerpräsident Benjamin Netanjahu machte umgehend den syrischen Präsidenten Baschar al-Assad verantwortlich. Armeesprecherin Avital Leibowitz sagte, die syrische Regierung habe die Aktion auf dem Golan »organisiert«, um die internationale Öffentlichkeit von den Unruhen in Syrien abzulenken.

Die palästinensischen Organisationen in Syrien planten in diesem Jahr nach eigenen Aussagen Proteste in den Lagern, nicht an der Waffenstillstandslinie auf dem Golan. Dass dennoch Hunderte sich auf den Weg dorthin machten, scheint darauf hinzuweisen, dass unter der palästinensischen Jugend die Frustration ein unerträgliches Maß erreicht hat: über die israelische Besatzung und alle damit verbundenen Folgen für ihre Lebensperspektive und über die Unfähigkeit und den Unwillen aller beteiligten Akteure, eine politische Lösung zu finden.

Auch in den Flüchtlingslagern in Libanon, wo die Lebenssituation noch bedeutend schlechter ist als für die Palästinenser in Syrien, macht sich neben Depression über ihre ausweglose Situation zunehmend Zorn breit. Im Westen wird das lediglich als »Sicherheitsproblem« bezeichnet – für Israel.

* Aus: Neues Deutschland, 17. Mai 2011


"Palästinenser kehren zur Intifada zurück"

Israelischer Linkspolitiker Barakeh über die Proteste am Nakba-Tag **


Mohammad Barakeh ist Vorsitzender der Chadasch, einer Listenverbindung sozialistischer Parteien in Israel. Der arabische Israeli ist Mitglied der Knesset, des israelischen Parlaments. Mit Aert van Riel sprach er über den Zusammenhang zwischen den politischen Umbrüchen im Nahen Osten und dem Konflikt zwischen Palästinensern und Israelis.

ND: Am Sonntag (15. Mai) wurden bei Protesten der Palästinenser am Tag der Nakba (Katastrophe), ihrer Flucht und Vertreibung, viele Demonstranten getötet oder verletzt. Beginnt nun eine neue Intifada?

Barakeh: Man kann sagen, es war die Rückkehr zur Intifada. Der israelische Staat hat in den vergangenen Jahren das Flüchtlingsthema aus der politischen Agenda ferngehalten. Aber die Palästinenser, die an die Grenzen zu Libanon, Syrien und Ägypten gekommen sind, haben mit ihren Demonstrationen der ganzen Welt gezeigt: Wir sind da, und wir haben eine Heimat. Die Proteste waren zudem eine Warnung gegenüber Israel.

Auch Ägypter und andere Araber haben gegen die israelische Politik demonstriert. Wie sehen Sie die Rolle arabischer Staaten, die sich gerade im Umbruch befinden, in dem Konflikt zwischen Israelis und Palästinensern?

Wir können noch nicht mit Sicherheit über die Zukunft der arabischen Revolutionen sprechen. Es gibt zwar neue Regierungen in Tunis und Kairo, aber es ist unsicher, was die Zukunft bringen wird. Manche Länder haben es bisher nicht geschafft, die Regierungen zu stürzen, wie etwa Libyen, Jemen und Syrien. Aber gemeinsam ist in diesen Ländern, dass das Volk die Entscheidung nun in seine Hand genommen hat. Wenn die arabischen Regierungen mit ihren Völkern zusammenarbeiten, wird es für Israel sehr schwierig werden. Die neue Regierung Ägyptens, das unter Husni Mubarak noch von Israel und den USA unter Druck gesetzt wurde, sich nicht für die Palästinenser zu engagieren, hat nun eine wichtige Rolle bei der Vermittlung zwischen Fatah und Hamas gespielt. Zudem gehe ich davon aus, dass Israel künftig nicht mehr Gas zu besonders günstigen Preisen aus Ägypten erhalten wird.

Die israelische Regierung hat die Versöhnung von Fatah und Hamas scharf kritisiert. Wie wird die Annäherung der Palästinenserorganisationen in der israelischen Bevölkerung bewertet?

Wir sind in Israel eine Partei für Araber und Juden. Die Mehrheit unserer Mitglieder sind Araber. Wir sind Bestandteil des palästinensischen Volkes, aber gleichzeitig auch der israelischen Gesellschaft. Die Versöhnung zwischen Fatah und Hamas haben wir befürwortet. Aber die Mehrheit der israelischen Gesellschaft hat Angst vor dieser Versöhnung. Die Netanjahu-Regierung hat kein Interesse daran, mit den Palästinensern zu verhandeln. Egal, ob diese gespalten oder vereint sind. Als Voraussetzung fordert sie, Hamas müsse Israel anerkennen. Auf der anderen Seite ist die faschistische Partei Israel Beitenu mit Außenminister Avigdor Lieberman an der Regierung beteiligt. Auch die Palästinenser können nicht als Vorbedingung verlangen, dass alle Parteien in Israel sie anerkennen. Die Friedensgespräche müssen zwischen gewählten Vertretern beider Seiten stattfinden.

Im September wollen die Palästinenser ihren eigenen Staat ausrufen. Wie sehen Sie die Chancen, dass ihnen dieses Vorhaben gelingen wird?

Diese Frage sollte die Weltgemeinschaft klären und nicht in den Händen von Israel lassen. Obwohl ich mir eigentlich immer gewünscht hatte, dass ein palästinensischer Staat durch einen Dialog zwischen Israelis und Palästinensern entsteht. Aber seit mehr als 60 Jahren hängt die Zukunft der Palästinenser an der israelischen Regierung. Ich gehe davon aus, dass die UNO im September eine Resolution verabschieden wird, die einen Palästinenserstaat anerkennt. Das bringt die Situation in die richtigen Bahnen. Bisher konnte Israel darüber bestimmen, was es den Palästinensern geben will. Aber wenn die Israelis laut UNO-Resolution in den Palästinensergebieten als Besatzer gelten würden, dann wäre der Druck groß, dass Israel sich von diesem Land zurückziehen muss.

Gehen wir davon aus, die Vereinten Nationen verabschieden diese Resolution. Israel müsste sich dann aus den besetzten Gebieten zurückziehen und zwei Staaten würden nebeneinander bestehen. Wären das wirklich gute Voraussetzungen für dauerhaften Frieden? Die Flüchtlingsfrage beispielsweise wäre dann noch immer nicht geklärt.

Über diese Frage müssten Israel und Palästina im Dialog bleiben, um eine gerechte Lösung zu finden. Zumindest wäre aber nach dieser Resolution absolut ausgeschlossen, dass Israel weiterhin Mauern und Siedlungen baut.

** Aus: Neues Deutschland, 17. Mai 2011


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