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"Lügen landeten auf Müllhaufen der Geschichte"

Untersuchungsbericht bestätigt: Britische Armee ermordete 1972 irische Bürgerrechtler. Ein Gespräch mit Gerry Adams

Gerry Adams (61) ist seit 1983 Vorsitzender der irisch-republikanischen Partei Sinn Féin.



Der Untersuchungsbericht der zwölf Jahre tätigen Saville-Kommission hat jetzt bestätigt, daß die britischen Soldaten beim »Bloody Sunday« 1972 grundlos und ohne Warnung das Feuer auf Teilnehmer eines Bürgerrechtsmarsches im nordirischen Derry eröffnet haben. Was sagen Sie dazu?

Das war der Tag der Angehörigen der Opfer. Sie haben dafür gekämpft, daß die englische Regierung ihre Politik der Vertuschungen und Verdrehungen beendet. Was das Geschehen an jenem 30. Januar 1972 anbelangt, so sind die Tatsachen eindeutig: Die Fallschirmjäger haben 14 Zivilisten getötet, die für ihre Bürgerrechte demonstrierten. 13 weitere Demonstranten wurden verletzt. Der Report belegt, daß niemand von ihnen bewaffnet war und daß niemand eine Bedrohung war.

Der Abschlußbericht widerlegt die Behauptungen des Widgery-Tribunals vom April 1972 ...

Der Bericht von Lord Saville hat die Lügen des Barons und damals zweithöchsten englischen Richters John Passmore Widgery auf den Müllhaufen der Geschichte befördert. Auf dem Müll landeten auch die von höchsten Stellen des britischen Establishments autorisierten Verschleierungsaktionen, die fast vier Jahrzehnte lang betrieben wurden. Bei dieser Gelegenheit möchte ich betonen, daß meine Partei Sinn Féin die Familien weiterhin unterstützen wird.

Der Blutsonntag markierte einen Wendepunkt. Warum?

Man muß vorausschicken, daß alles, was die englische Regierung tut, im Kontext des nationalen Interesses stattfindet. Das ist heute ebenso der Fall wie 1972. Die Armee ist ein bewaffneter Arm des britischen Systems. Sie ist untrennbar mit den Auslands- und Inlandsgeheimdiensten MI5 und MI6 verbunden. 1970 verfolgte die britische Armee in Nordirland einen militärstrategischen Ansatz, der auf ihrer Erfahrung in den fast 50 Kolonialkriegen fußte, die sie in den vorangegangenen 25 Jahren geführt hatte.

Was bedeutet das konkret?

Das schloß die Folterung der Gefangenen, die Rekrutierung von Agenten und Informanten, den Aufbau von Konterguerillagruppen, neue Repressionsgesetze, die Diskriminierung bei der Wirtschaftsplanung und »Shoot-to-Kill«-Aktionen ein --also die gezielte Tötung. Im August 1971 wurde die Internierung ohne Prozeß eingeführt. Vom 9. bis 11. August 1971 erschossen Fallschirmjäger dann im Rahmen der »Operation Demetrius« elf Bürger im Belfaster Stadtteil Ballymurphy. Viele andere wurden getötet oder verwundet.

In dem von Ihnen beschriebenen Kontext war der Beginn echter Ermittlungen über den Bloody Sunday bis 1998 de facto unmöglich. Was passierte dann?

Die Entscheidung des damaligen Premierministers Tony Blair war mutig, diese Untersuchung anzuordnen. Getroffen wurde sie vor dem Hintergrund eines sich entwickelnden Friedensprozesses und von Verhandlungen, die seit Anfang 1998 stattfanden -- das heißt vor dem am 9. April 1998 unterzeichneten Karfreitagsabkommen. Das Unglaubliche ist aber die Dauer von zwölf Jahren.

Warum haben die Recherchen so viel Zeit und Geld verschlungen?

Die enormen Kosten von 195 Millionen Pfund Sterling sind auf die Machenschaften des britischen Verteidigungsministeriums und anderer Elemente im britischen System zurückzuführen. Sie haben hart daran gearbeitet, zu verhindern, daß die Wahrheit ans Licht kommt. Zum Beispiel wurden der Kommission viele Beweismittel vorenthalten, andere Materialien wurden vernichtet. Darunter waren die von der britischen Armee an jenem Tag gemachten Fotos und Filmaufnahmen.

Trotz dieser Versuche konnten die Ermittlungen aber abgeschlossen und die Wahrheit aufgedeckt werden ...

Das ist zweifellos ein Verdienst der Hartnäckigkeit der Angehörigen der Opfer, die der Welt die Wahrheit vor Augen führen wollten, die sie von Anfang an kannten: Ihre Lieben waren unschuldig. Sie waren Zivilisten, die an einer friedlichen Demonstration teilgenommen hatten, um ihre Rechte einzufordern und die Übergriffe und Gewalttaten der Unionisten anzuprangern.

Interview: Orsola Casagrande

Übersetzung: Andreas Schuchardt

Dieses Interview erschien zuerst in der linken italienischen Tageszeitung Il manifesto.

* Aus: junge Welt, 22. Juni 2010


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