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Bloody Sunday - Spitze des Eisbergs

Von Uschi Grandel *

Ohne die 38-jährige Hartnäckigkeit der Familien und die große Solidarität, die sie erfuhren, wäre die Wahrheit über Bloody Sunday nie ans Tageslicht gekommen. Was lernt man aus Bloody Sunday? Wir dokumentieren im Folgenden einen Kommentar von Uschi Grandel, der Herausgeberin des Online-Dienstes Info Nordirland / Baskenland

Am Sonntag, den 30. Januar 1972, ermordete 1-Para, eine als brutal bekannte Einheit der britischen Armee, in Derry 14 unbewaffnete Zivilisten. Bloody Sunday. Eine schnelle erste Untersuchung durch Lord Widgery erklärte den Mord zur legitimen Abwehr von Terroristen. Bloody Sunday war eines der großen traumatischen Ereignisse im nordirischen Konflikt. Am Dienstag, den 15. Juni 2010, hatte die 38-jährige Kampagne der Familien für die offizielle Anerkennung der Unschuld der Ermordeten und Verwundeten nun endlich Erfolg.

Lord Saville bestätigt in seinem Abschlussbericht zur Untersuchung von Bloody Sunday, dass nun auch offizielle Wahrheit ist, was an Bloody Sunday jeder sehen konnte: dass die britische Armeeeinheit 1-Para ein Massaker unter unbewaffneten Menschen anrichtete, die keine Gefahr für die Soldaten darstellten. Für die Familien und die vielen Tausende, die über Jahre die Kampagne solidarisch begleitet haben und die vor der Guildhall in Derry, dem Rathaus, gespannt auf die Veröffentlichung warten, ein großartiger Moment, der weltweit für Schlagzeilen sorgt.

Der neue britische Premierminister David Cameron entschuldigte sich in einer Rede vor dem britischen Unterhaus mit klaren Worten:

"Was an Bloody Sunday passierte, war nicht gerechtfertigt und nicht zu rechtfertigen. Es war falsch … Die Regierung trägt die oberste Verantwortung für das Verhalten der Streitkräfte und deshalb erkläre ich für die Regierung und für das Land mein tiefstes Bedauern.“

Aber so klar, wie der britische Premierminister sich für Bloody Sunday entschuldigt, so klar machte er auch, dass er Bloody Sunday als einmaliges bedauernswertes Fehlverhalten von Soldaten gesehen haben möchte.

Das ist es aber nicht. Auf dem Weg von Belfast nach Derry kurz hinter dem kleinen Städtchen Dungiven erinnern dreihundert Schilder mit den Namen der Opfer an die dreihundert Menschen, die ebenfalls direkt von der britischen Armee ermordet wurden, die Mehrzahl von ihnen Zivilisten, viele Frauen und Kinder. Die Erzählungen der Familien gleichen denen der Angehörigen der Bloody Sunday Opfer.

Bloody Sunday kein Einzelfall

Die Organisation Relatives for Justice ist wie die Angehörigen der Bloody Sunday Opfer eine Selbsthilfe-Organisation für Menschen, die Angehörige durch gewalttätige Aktionen staatlicher Organe oder durch Zusammenarbeit des Staates mit pro-britischen Gangs verloren haben. Sie hat die Mahnmale aufgestellt. Ihr Direktor Mark Thompson erklärt:

"Die 300 Namen an der Strasse nach Derry sind Zeugnis des menschlichen Leids, der fürchterlichen Hinterlassenschaft britischer Gewalt in unserem Land. Wir erinnern an alle Opfer staatlicher Gewalt und bleiben weiterhin dem Kampf um die Wahrheit für alle Familien verpflichtet.“

Auf einer Pressekonferenz betroffener Familien aus Belfast, zu der Sinn Fein Präsident Gerry Adams als Abgeordneter für West Belfast geladen hatte, beschreiben die Familien des Ballymurphy Massakers, wie im August 1971, wenige Monate vor Bloody Sunday 1-Para im Westbelfaster Stadtviertel Ballymurphy elf Zivilisten in 36 Stunden ermordete. Unter den Ermordeten befand sich der lokale Pfarrer, ein englischer Sozialarbeiter, eine Mutter von acht Kindern. Sie wurden von derselben Einheit der britischen Armee getötet, die an Bloody Sunday zum Einsatz kam:

„Als 1-Para das Feuer eröffnete, versuchte Bobby Clarke, Kinder in Sicherheit zu bringen. Er wurde angeschossen. Father Hugh Mullan wollte dem verletzten Mann helfen, wurde bei diesem Rettungsversuch durch Kugeln in Brust und Rücken tödlich getroffen. Der daraufhin zu Hilfe eilende Frank Quinn wurde ebenfalls erschossen.“ (Auszug aus dem Bericht : Die Elf aus Ballymurphy vom August 2007)

In der offiziellen Statistik tauchen diese Toten als bewaffnete Kämpfer und Terroristen auf. ähnliche direkte Gewaltaktionen britischer Armee-Einheiten gab es an vielen anderen Orten. Die britische Armee, ihre Militärgeheimdienste, wie z.B. Military Reaction Force oder die Force Reconnaissance Unit, waren zusammen mit der nordirischen Polizei RUC und deren Hilfstruppe UDR direkt für 400 Tote in ungeklärten Umständen verantwortlich. Betrachtet man auch noch die Morde durch pro-britische Todesschwadronen, die von britischen Stellen mit Waffen und Informationen versorgt wurden, so sind es viele Hunderte mehr.

Lehren aus Bloody Sunday

Die Lehren aus Bloody Sunday? Es ist möglich, die Wahrheit ans Tageslicht zu bringen. Das ist die positive Erfahrung aus dem 38-jährigen Kampf der Familien um Wahrheit. Der Widerstand der britischen Regierung und der britischen Armee war ungeheuer groß. Die Versuche, die Veröffentlichung des Berichts zu stoppen, liefen bis zuletzt. Und der Report gibt die Wahrheit nur in den Scheibchen, die er unbedingt geben muss. So bleibt die Frage der politischen Verantwortung der hohen Regierungs- und Armeeränge im Bloody Sunday Bericht außen vor.

Eine weitere Lehre aus Bloody Sunday? Im Gegensatz zu den Behauptungen des britischen Premierministers ist Bloody Sunday kein Einzelfall, sondern zeigt das Vorgehen der britischen Armee in Irland. Nicht nur die Brutalität der Soldaten, sondern auch die Art und Weise, wie dies vertuscht wurde, wie Propaganda eigene Morde zu Notwehr und unschuldige Opfer zu Terroristen stempelt und in diesem Netzwerk von Diffamierungen und staatlicher Gewalt die Opfer völlig rechtlos und die Täter nicht verfolgt werden.

Es bleibt noch viel zu tun für die ganze Wahrheit, aber der Dank gebührt erst einmal den Familien der Bloody Sunday Opfer und ihrer Hartnäckigkeit, die ein gutes Beispiel und Lehre für uns alle ist.

21. Juni 2010

* Quelle: Website von Info Nordirland; www.info-nordirland.de


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