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Unterricht für Ureinwohner

Nicaragua: Alphabetisierung dringt in Urwaldregionen

Von José Adán Silva (IPS), Managua *

Nicanor García konnte 46 Jahre lang nichts mit Buchstaben anfangen. Für Unterschriften tauchte er seinen Finger in Tinte und machte einen Abdruck. Seit knapp acht Monaten kann er lesen und schreiben. Er ist einer von 60000 Indigenen, die von Studenten unterrichtet wurden. García ist in Bilwaskarma zu Hause. Die Siedlung liegt an der Karibikseite des Landes, in der nordöstlichen, von Urwald bedeckten autonomen Provinz RAAN, an der Grenze zu Honduras, wo seit Jahrhunderten viele ethnische Miskito und Mayangna leben. Die Studenten hatten sich in das schwer zugängliche Gebiet aufgemacht, um die dortigen Bewohner zu alphabetisieren. Unter den Einwohnern, die jetzt lesen und schreiben können, ist auch der Miskito Nicanor García: »Ich kann jetzt mit meinem vollständigen Namen unterschreiben«, erklärt er stolz.

Die Sandinisten hatten nach ihrem Sieg über die Somoza-Diktatur im Jahr 1979 mit der Kampagne begonnen. Damals, unter der Regierung von Daniel Ortega, sank der Anteil der Analphabeten in Nicaragua von 52 Prozent auf zwölf Prozent. Seitdem Daniel Ortega im Jahr 2007 wieder Regierungspräsident ist, wird die Alphabetisierungskampagne fortgesetzt. Sie trägt jetzt den Namen »Von Martí zu Fidel«, benannt nach dem kubanischen Schriftsteller José Martí und dem ehemaligen Staatspräsidenten Fidel Castro, und basiert auf einer in Kuba entwickelten Alphabetisierungsmethode mit dem Titel »’Yo, sí Puedo« (Ich kann das!), die von nicaraguanischen Experten an die lokalen Gegebenheiten angepaßt wurde.

Bereits im Jahr 2009 konnte sich Nicaragua rühmen, den Analphabetismus fast besiegt zu haben. So konnte der Prozentsatz landesweit von 20 auf rund drei Prozent gesenkt werden. Doch Arbeit gab es noch genug. In den beiden autonomen Gebieten der Karibikküste RAAN (Nord) und RAAS (Süd) nämlich war Analphabetenrate noch überdurchschnittlich hoch.

Nach Angaben der Vereinigung für Volksbildung »Carlos Fonseca Amador«, die von der Regierung mit der Leitung der Alphabetisierungskampagne beauftragt worden ist, hatte man sich vorgenommen, in der Provinz RAAN die Quote der Analphabeten von 40 Prozent auf zehn Prozent zu senken. Insgesamt wurden 60000 Indigene in der Region alphabetisiert, die Quote sank sogar auf 4,2 Prozent, so daß die Regierung das Gebiet zum »indigenen Gebiet ohne Analphabetismus« erklärte.

»Fast 500 freiwillige Studenten waren abwechselnd im Einsatz«, erzählt der Leiter der Vereinigung, Orlando Pineda. Die Studenten hätten zunächst die lokalen indigenen Sprachen erlernen müssen, damit ihre Schüler in ihrer Muttersprache lesen und schreiben lernen konnten.

Oft sei es eine Odyssee gewesen, bis zu den Dörfern der Indigenen zu gelangen. »Wir sind 411 Kilometer den Fluß Rio Coco entlang gefahren und haben 124 Gemeinden der Miskito und Mayangna aufgesucht. Sie haben uns mit offenen Armen empfangen, berichtet der Lehrer, der seit 31 Jahren auf dem Gebiet der Alphabetisierung tätig ist.

Der Kurs dauert 65 Tage. Nach zwölf Wochen kontinuierlichem Unterricht sind die Schüler in der Lage, einen Brief an die Familie zu schreiben. Nur wenige Personen hätten das Angebot, lesen und schreiben zu lernen, abgelehnt oder das Lernziel nicht erreicht, sagt Pinera. Von den 54778 Miskito, die an den Ufern des Rio Coco leben, gebe es jetzt noch 2275, die mit Buchstaben weiterhin nichts anfangen können. »Nach der Arbeit sind sie alle ohne Ausnahme zu uns gekommen, jung und alt, und wollten lernen. Nur Schwerkranke haben unser Angebot ausgeschlagen«, berichtet die Studentin Silva Rodríguez.

Die Anstrengungen Nicaraguas werden auch international honoriert. »Trotz der chronischen Armut im Land haben seit 2008 mehr als 400000 Einwohner lesen und schreiben gelernt«, konstatiert der Ständige Sekretär der Weltkulturorganisation UNESCO in Nicaragua, Juan Bautista Arríen. Landesweit leben nach UN-Angaben 47 Prozent der Bevölkerung unter der Armutsgrenze, in den autonomen Provinzen sind es sogar 79 Prozent.

Die guatemaltekische Menschenrechtlerin und UNESCO-Botschafterin Rigoberta Menchú erklärte bei den Feiern zum 30. Jahrestag in Managua, daß es besondere Anerkennung verdiene, »daß man den Indigenen das Lesen und Schreiben in ihrer eigenen Sprache, auf ihren eigenen Territorien und mit Respekt vor ihrer Kultur beibringt«.

Das nächste Ziel der Kampagne ist die südliche autonome Provinz RAAS. Dort leben Indigene der Rama, Garifuna oder Kreol-Sprecher, die bisher ebenfalls keinen Zugang zum Bildungssystem hatten. Nach Angaben des Zensus von 2005 hat Nicaragua rund fünf Millionen Einwohner, etwa neun Prozent von ihnen sind Indigene.

* Aus: junge Welt, 14. September 2010

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Kampagne gegen Analphabetismus in Nicaragua. Große Armut hemmt Initiative der Regierung (10. August 2007)




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