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Verratene Revolution

Analyse. Wie es dem Imperialismus gelungen ist, den arabischen Aufstand umzudrehen

Von Werner Pirker *

Einer halben Revolution, lautet eine alte marxistische Erkenntnis, folgt eine ganze Konterrevolution. Was in Tunesien so hoffnungsvoll begonnen hatte, was sich unaufhaltsam Bahn zu brechen und die imperialistische Weltordnung aus den Angeln zu heben schien, hat sich entweder erschöpft oder ist in die falschen Hände geraten. Daß sich die Mächte der globalen Aufstandsbekämpfung von der arabischen Revolutionslosung »Das Volk will den Sturz des Regimes« ermutigt fühlen könnten, Regimewechsel nach ihren Vorstellungen zu inszenieren und westliche Militärinterventionen als eine Art Revolutionsexport darzustellen, und das ausgerechnet in der arabischen Welt, hat man eigentlich nicht für möglich gehalten.

Allein die Tatsache, daß sich die arabischen Volksbewegungen über die Landesgrenzen hinweg verbunden fühlen, läßt darauf schließen, daß die panarabische Idee noch lebendig ist. Das heißt freilich nicht, daß der historisch mit dem Panarabismus als einer nationalistischen Ideologie verbundene Begriff »arabische Revolution« keinen Bedeutungswandel erfahren hätte. In den 50er und 60er Jahren verstand man darunter den Aufbruch junger Nationalstaaten unter Führung der Militärintelligenz, die in reger Kommunikation mit der arabischen Straße eine vom Imperialismus unabhängige, sozial progressive Entwicklungsperspektive verfolgte. Das sowie die Anlehnung dieser Länder an das sozialistische Lager brachte sie in einen scharfen Gegensatz zu den westlichen Hegemonialmächten und zum Zionismus, dessen siedlerkolonialistisches Projekt über die Landnahme Palästinas hinaus gegen die arabische nationale Emanzipation als Ganzes gerichtet war und ist. Israel bildet den staatlichen Stützpunkt der weißen Vorherrschaft in der Region. Aus der Logik seiner Existenz als exklusiv jüdischer Staat, gegründet auf der Enteignung der Palästinenser, ist Israel für den Imperialismus, weil jederzeit gegen die Interessen der arabischen Massen mobilisierbar, der weitaus zuverlässigere Verbündete als die ständig der Gefahr von Volksaufständen ausgesetzte arabische Reaktion.

Gestern und heute

Bildete die »arabische Revolution« von anno dazumal eine Mischung aus bonapartistischem Staatsstreich und Volksbewegung, so speiste sich die »Arabellion« in ihren ursprünglichen Ansätzen aus der spontanen Energie der Volksmassen, vor allem der Mittel- und Unterschichten. Werner Ruf schrieb im Juni 2011 in Z. Zeitschrift Marxistische Erneuerung (Nr. 86): »Neu an den gewaltfreien Protestbewegungen und ihren oft humorvollen Schlachtrufen ist auch, daß sie sich nicht auf die alten (verbrauchten?) Slogans gegen den imperialistischen Erzfeind USA beriefen, Israel nicht zur Ursache allen Übels erklärten oder den Kolonialismus für das Elend der Welt verantwortlich machten. Nein, diese Proteste blicken nach vorn, es geht um die souveräne Gestaltung einer neuen, freien, bürgerlich-rechtsstaatlichen Gesellschaft, in der die Menschen in Würde leben sollen.«

Ob der Verzicht auf Schuldzuweisungen an den Erzfeind USA, an das zionistische Israel und an den Kolonialismus eine nach vorn gerichtete Orientierung zum Ausdruck brachte, sei dahingestellt. In der Geschichtsvergessenheit des Tahrir-Platzes, der mangelnden Distanz zu westlichen Demokratie- und Freiheitsverheißungen und der Ignoranz gegenüber der Fremdbestimmung als wesentliches Entwicklungshemmnis scheint vielmehr die ideologische und konzeptionelle Schwäche der arabischen Rebellion und die Ursache dafür zu liegen, daß sie ihr Veränderungspotential bei weitem nicht auszuschöpfen vermochte.

Das westliche Machtkartell wurde von den Aufständen zunächst auf dem falschen Fuß erwischt. Richteten sie sich doch anfangs ausschließlich gegen Regime, die sich in den Dienst der neoliberalen Kolonialherrschaft gestellt hatten. Dabei hatte US-Präsident Barack Obama das Problem, daß die diktatorischen arabischen Regime der aufgestauten Wut ihrer Bevölkerungen auf Dauer nicht würden standhalten können, durchaus erkannt, als er in seiner vielbeachteten Kairoer Rede vom 4. Juli 2009 demokratische Reformen von oben anmahnte, um einem revolutionären Umsturz zuvorzukommen. Zumal die USA – siehe Indonesien und die Philippinnen – durchaus ihre positiven Erfahrungen mit von ihnen gelenkten »Umstürzen« zur Verhinderung von Umstürzen gemacht haben. Als dann aber das Volk in Tunesien – und gleich darauf das in Ägypten – den Sturz des Regimes wollte, kam in den kapitalistischen Metropolen keine rechte Freude auf. Immerhin schien die gesamte Geschäftsgrundlage zwischen den entwickelten kapitalistischen Industrienationen und den arabischen Despotien zur Disposition zu stehen. Nicht nur aus Anstandsgründen hielten die USA und Co. ihren Spießgesellen anfangs noch die Treue, bevor sie sich in das Unvermeidliche fügten und dieses auch noch als Chance zur Neuordnung der Region zu nutzen verstanden.

Erst als absehbar war, daß Hosni Mubarak, die Zentralfigur der arabischen Kollaboration mit dem Imperialismus, nicht mehr zu halten sein würde, setzte die Absetzbewegung der westlichen Wertegemeinschaft von ihrem Langzeitverbündeten ein. Man hat sie freilich noch im Ohr, die eindringlichen Warnungen vor den Gefahren arabischer Massenaufläufe, wobei eine islamistische Machtergreifung als das bedrohlichste aller möglichen Szenarien an die Wand gemalt wurde. Eindringlich mahnten Washington und Brüssel einen »geordneten Übergang« an, womit der Wechsel von der orientalischen Despotie zur Fassadendemokratie okzidentalen Vorbilds gemeint war – bei ungebrochener Machtkontinuität der privilegierten Klassen.

Westliche Erzählungen

Was man sich im Westen so über den »arabischen Frühling« erzählte, deckte sich mit den Handlungsanleitungen für bunte Revolutionen unter Aussparung von Veränderungen in den Eigentumsverhältnissen. Diejenigen, die bis vor kurzem noch dem islamischen Kulturraum generell die Fähigkeit zur Demokratie abgesprochen hatten und Manifestationen der arabischen Straße nur unter dem Stichwort »Massenhysterie« zu fassen vermochten, sahen plötzlich voller Bewunderung auf die »Demokratiebewegungen« in Nordafrika und Nahost, wobei sich in den deutschen Leitmedien sogar kritische Anmerkungen ob der kulturchauvinistischen Vorurteile gegenüber der islamischen Welt, denen man aufgesessen sei, fanden. Wo sich doch nun zeigen würde, daß die Werte des Westens universeller Natur seien.

Die Meinungsmache in den kapitalistischen Zentren war von Beginn an bemüht, den arabischen Aufstand, dargestellt als Erhebung gegen die orientalische Tyrannei und Hinwendung zu den Verheißungen des Westens, ideologisch zu vereinnahmen, das heißt den realen Verlauf der Ereignisse der eigenen Erzählung anzupassen. Das ging nicht ohne eine gewisse Hinterfragung der bisherigen Politik. Die jahrzehntelange Kumpanei der westlichen Demokratien mit arabischen Diktaturen erschien mit einem Mal als opportunistische, den eigenen Idealen zuwiderlaufende Politik, die der trügerischen Hoffnung auf Stabilität geschuldet gewesen sei. Nun, da die Stunde der Demokratie in Nordafrika und Nahost geschlagen habe, dürften die demokratischen Führungsmächte nicht länger abseits stehen. Das alles blieb nicht ohne Einfluß auf die Aufständischen, die sich westliche Unterstützung erbaten, anstatt sich äußerer Einmischung zu erwehren.

Die »Arabellion« hat die Behauptung, daß die arabischen Gesellschaften demokratieresistent seien, eindrucksvoll widerlegt. Die Ursachen der hartnäckigen Demokratieblockade in diesem Teil der Welt aber werden von den Freunden des arabischen Frühlings konsequent ausgeblendet. Der antidemokratische Charakter der arabischen Regime hat sich nicht einfach so ergeben. Er ist, wie Adam Hanieh in der Z. Nr.86 in bezug auf Ägypten schreibt, »die Art und Weise, wie Kapitalismus notwendig in einer Gesellschaft funktioniert, die geprägt ist von erheblicher (und sich immer weiter ausdehnender) Ungleichheit und die sich in einer Region befindet, welche zentral ist für die Erhaltung der US-Macht auf globaler Ebene«. Das von Obama in seiner Kairoer Rede heuchlerisch beklagte Demokratiedefizit war eine notwendige politische Voraussetzung zur Durchsetzung des neoliberalen Globalisierungsdiktats sowie zur Sicherung der westlichen Vorherrschaft über die Region.

Reichte im Metropolen-Kapitalismus die Spanne der Reaktionen auf die arabischen Ereignisse von skeptisch bis enthusiastisch, so ließ das zionistische Establishment von Beginn an keinen Zweifel daran, daß die arabische Demokratie schlecht für Israel sei. Nicht nur, weil der jüdische Staat, wie es sich für eine »Herrenvolk-Demokratie« geziemt, die »einzige Demokratie in Nahost« bleiben wollte, sondern auch, weil man im Aufruhr der arabischen Straße eine elementare Bedrohung des zionistischen Projekts und der imperialistischen Dominanz als Ganzes sah. Eine zwar naheliegende Vermutung, die aber bisher keine Bestätigung fand.

Anti-Neoliberalismus

Zur den westlichen Fehldeutungen der arabischen Massenerhebungen gehört auch deren Einengung auf die Freiheits- und Demokratieagenda. Die soziale Dimension wird weitgehend ausgeklammert. Hier ist freilich auch der Wunsch der einheimischen und westlichen Eliten, die Volksaufstände bürgerlich-demokratisch kanalisieren und eine tiefgreifende sozialökonomische Umwälzung vermeiden zu können, der Vater des Gedankens. In Wahrheit aber war die soziale Verzweiflung die wichtigste Triebkraft des Aufruhrs, was in der zum Fanal gewordenen Selbstverbrennung des tunesischen Gemüsehändlers Mohamed Bouazizi, eines ausgebildeten Informatikers, zum Ausdruck kam. Unmittelbarer Anlaß für die Verzweiflungstat des jungen Mannes war die ihm von einer Polizistin zugefügte Demütigung, weshalb die Erhebung den Namen »Revolution der Würde« erhielt. Bouazizi gehörte jener verlorenen Generation an, die, obwohl gut ausgebildet, einen Arbeitsmarkt ohne Perspektiven vorfindet.

Die Durchsetzung des Neoliberalismus in Ländern wie Tunesien und Ägypten, aber auch Syrien erfolgte im Zusammenspiel zwischen den internationalen Finanzinstitutionen und den Macht­eliten eines staatsbürokratischen Kapitalismus. In Ägypten hatte sich die bürokratische Bourgeoisie vor allem aus hohen Armeekadern rekrutiert, was zur Herausbildung eines militärindustriellen Komplexes geführt hat. »Die Auswirkungen des Neoliberalismus waren es«, schreibt Adam Hanieh, »die das Land um einiges verwundbarer gegenüber Krisen gemacht haben – insbesondere durch die Vergrößerung der sozialen Ungleichheit und die Schwächung von Mechanismen der sozialen Sicherung«. Der allgemeinen Erhebung in Ägypten vorausgegangen waren, solidarisch begleitet von Facebook-Aktivisten, massive Streikaktionen der Textilarbeiter. Mit dem Verbot von Arbeitsniederlegungen offenbarte der als »Treuhänder der Revolution« auftretende Oberste Militärrat (Supreme Council of the Armed Forces, SCAF) erstmals seinen sozial reaktionären, repressiven Charakter.

Bemüht, die vor allem von jungen Menschen getragenen Volkserhebungen in die Nähe (scheinbar) klassenindifferenter bunter Revolutionen zu rücken, wird ihr Klassencharakter in der westlichen Wahrnehmung weitgehend verdrängt. Auch die anfangs noch friedlichen Proteste gegen das syrische Baath-Regime richteten sich nicht nur gegen die Einparteiendiktatur bzw. den Assad-Clan, sondern vor allem auch gegen die neoliberalen Zumutungen, die die vom Regime im Zusammenwirken mit den üblichen internationalen Verdächtigen (IWF, Weltbank, EU) initiierten Reformen mit sich gebracht hatten.

Während Baschar Al-Assad sein Versprechen, politische Reformen durchzuführen, erst einzulösen begann, als ihm das Wasser schon bis zum Hals stand, wurde der neoliberale Umbau der staatskapitalistischen Wirtschaftsordnung in raschem Tempo durchgeführt. 2006 erfolgte ein regelrechter Liberalisierungsschub. Privatbanken wurden zugelassen, eine Wertpapierbörse eingerichtet, die Körperschaftssteuer gesenkt und neue Investitionsgesetze erlassen. Sie ermöglichten eine hundertprozentige ausländische Eigentümerschaft und vollen Gewinntransfer. Inzwischen befinden sich 50 Prozent des Reichtums in den Händen von fünf Prozent, während bis zu 30 Prozent der Syrer unter der Armutsgrenze leben.[1]

Die neoliberale Offensive hat die Schichten, die bislang die soziale Basis des Regimes gebildet haben – Arbeiter, Bauern, Beschäftigte im öffentlichen Dienst – am härtesten getroffen. Das Assad-Regime hat den Ast, auf dem es saß, selbst abgesägt. Der Dank des internationalen Kapitals blieb ihm indes versagt. Geopolitisch ein Widersacher der neuen imperialistischen Weltordnung geblieben, wurde das Regime und mit ihm die Souveränität des Landes zum Abschuß freigegeben.

Verdrängte nationale Frage

Schien zuvor der Antiimperialismus das bestimmende Moment auf der arabischen Straße zu sein, so zeichnen sich die gegenwärtigen Aufstände eher durch seine Abwesenheit aus. »Es ist bemerkenswert«, schreibt Perry Anderson in der New Left Review (März/April 2011), »daß die Aufstände ein Merkmal gerade nicht zeigen«. Nämlich das nationale. Zwar ließe sich die Ignoranz der Bewegung gegenüber der nationalen Frage aus dem »Urteil der Geschichte über den arabischen Nationalismus, gefallen nach dem Scheitern des Nasserismus in Ägypten« und daraus erklären, daß der Antiimperialismus durch repressive Regime wie dem libyschen, dem syrischen und dem iranischen diskreditiert worden sei, schreibt er. »Dennoch ist es bemerkenswert, daß der Antiimperialismus einem Hund gleicht, der gerade dort nicht – oder noch nicht – bellt, wo die imperiale Gewalt am offensichtlichsten ist.«

Der Imperialismus hat den naiven Kosmopolitismus der Aufständischen gnadenlos ausgenutzt, die Ansätze nationaler Selbstbestimmung seiner »Schutzverantwortung« unterworfen und so die strategische Initiative zurückgewonnen. Die konterrevolutionäre Wende wurde mit der Niederschlagung des Aufstandes in Bahrain durch saudi-arabische Truppen vollzogen. Die Frontstellung war klar: Auf der einen Seite eine überwiegend von der schiitischen Mehrheit getragene Volksbewegung, auf der anderen Seite eine reaktionäre Monarchie, die sich voll in den Dienst der Pax Americana gestellt hat. Während in Bahrain, einem Stützpunkt der 5. US-Flotte, eine gewaltlose Rebellion von Panzern zermalmt wurde, verhalf die christlich-wahabbitische Wertegemeinschaft den libyschen Aufständischen zu ihrem wenig ruhmreichen Sieg über das Ghaddafi-Regime.

So schwer es den politischen Eliten im Westen gefallen ist, sich mit den Volksaufständen in Tunesien, Ägypten und Jemen abzufinden, so leicht fiel es ihnen, die bewaffneten Aufstände zuerst in Libyen und später in Syrien zu unterstützen, um sie schließlich ihren imperialen Interessen nutzbar zu machen. Indem die imperialistischen Warlords den Sturz des Regimes in Libyen und in Syrien zu ihrer eigenen Sache gemacht haben, erfuhr der Gesamtprozeß der arabischen Umbrüche eine entscheidende Wende. Denn trotz verdrängter nationaler Frage stellte der Sturz prowestlicher Regime einen nationalen Souveränitätsgewinn dar. Regimewechsel unter westlicher Regie sind das genaue Gegenteil.

Unter dem Deckmantel des arabischen Frühlings entfaltete sich die altbekannte imperiale Gewaltpolitik, politisch mißliebige Länder ihrer Unabhängigkeit zu berauben und einem »­Nation building«-Programm zu unterziehen. Was im Irak grandios gescheitert ist – das politisch nach US-Vorstellungen getrimmte Land war als das zentrale Element des »Greater Middle East«-Projekts gedacht –, soll nun mit der Errichtung neuer westlicher Stützpunkte in Ländern, die sich dem imperialen Diktat widersetzt haben, nachgeholt werden. War der Einmarsch der Saudis in ­Bahrain eine normale konterrevolutionäre Reaktion auf eine revolutionäre Herausforderung, so ergibt sich die eigentliche Dialektik von Revolution und Konterrevolution in der arabischen Welt aus der konterrevolutionären Vereinnahmung ursprünglicher Volksaufstände.

Halbe Revolution

In Ägypten wurde die Revolution vorerst vom Militärrat, der mit der Billigung des Weißen Haues den Diktator zum Rücktritt zwang, kassiert. Der alte Staatsapparat blieb weitgehend intakt. Der SCAF war vor allem bemüht, eine soziale Vertiefung des Aufstandes nicht zuzulassen und den verfassungsgebenden Prozeß unter seiner Kontrolle zu behalten. Mit der durch ein Referendum erfolgten Annahme von Verfassungsänderungen war die Bildung einer Verfassungsgebenden Versammlung vor der Durchführung von Wahlen verhindert worden. Das Interesse der Moslembruderschaft als der gegenwärtig in der Gesellschaft am stärksten präsenten Kraft, die Wahlen zum frühestmöglichen Zeitpunkt durchzuführen, spielte der Junta in die Karten.

Das Verhältnis zwischen Militärrat als Träger der materiellen Gewalt und Moslembrüdern als der kulturell hegemonialen Kraft schwankte lange Zeit zwischen Kooperation und Konfrontation. Beide Seiten sind an der Aufrechterhaltung der kapitalistischen Ordnung interessiert. Während das Militär über ein dominantes Firmen­imperium organisch mit dem aus den staatsbürokratischen Strukturen hervorgegangenen Kapitalismus verbunden ist, vertritt die Bruderschaft, die sich mittlerweile als Freiheits- und Gerechtigkeitspartei konstituiert hat, die Interessen der jungen islamischen Bourgeoisie. Als eine Partei des »sozialen Gewissens« verfügt sie aber auch über eine Massenbasis in den untersten Schichten. Sie hat zwei Gesichter, das eine ist der Demokratie zugewandt, das andere der Oligarchie.

Die Generäle, denen es nicht zuletzt auch um die Verteidigung ihrer ökonomischen Privilegien geht, haben mit der vom Höchstgericht legitimierten Verabschiedung von Verfassungszusätzen versucht, die Demokratie vollends zur Farce zu machen und sich selbst einen über Staat und Gesellschaft stehenden Status zu sichern. Doch siehe da: Der »machtlose« Präsident Mohammed Mursi verkehrte die militaristische Anmaßung einfach in ihr Gegenteil. Er hob die Verfassungserklärung des Militärrates auf und erklärte Juntachef Mohammed Tartawi als Verteidigungsminister und Oberbefehlshaber der Streitkräfte für abgesetzt. Da stellt sich natürlich die Frage: Woher hatte der Moslembruder plötzlich die Macht, die Macht an sich zu reißen? Er konnte sie nur aus Armeekreisen bezogen haben. Und diese Kreise konnten sich allein deshalb militärintern durchsetzen, weil US-State Department und Pentagon, die praktisch die Oberaufsicht über die ägyptische Armee ausüben, diesen Gegenputsch zumindest gebilligt haben. Der neue Verteidigungsminister Fattah El-Sisi, seit langem Mursis Vertrauter im SCAF, ist eng an amerikanische Dienste angebunden.

Welch bittere Ironie: Eine beeindruckende Massenleistung hat Hosni Mubarak zum Rücktritt gezwungen. Doch es war die Armee. Im Ergebnis des Machkampfes zwischen dem SCAF und Mursi hat sich nun der neue Präsident mehr Kompetenzen angeeignet, als sie Mubarak je hatte. Überraschend kam auch der Waffenstillstand im »Clash of civilisations«, im Kampf der Kulturen. Der politische Islam, noch vor kurzem als die seit dem Kommunismus schlimmste Menschheitsbedrohung verteufelt, tritt mit einem Mal als Verbündeter der westlichen Weltordnungskrieger in Erscheinung.

Ganze Konterrevolution

War in Ägypten von seiten der obersten Demokratieaufsichtsbehörde so wenig Revolution wie möglich erwünscht, weil Revolutionen als historischer Irrweg in den Totalitarismus tunlichst zu vermeiden seien, so kann der Aufstand gegen das Assad-Regime nicht radikal genug verlaufen. Die vom Regime durchgeführte Volksabstimmung über eine neue Verfassung, die eine pluralistische Demokratie vorsieht, wurde von US-Außenministerin Hillary Clinton mit geradezu bolschewistischer Radikalität als »Beleidigung der syrischen Revolution« zurückgewiesen. Nicht Demokratie und Rechtsstaatlichkeit, als deren Garanten sich die imperialen Kriegsherren gerne darzustellen belieben, sondern ein gewaltsam erzwungener »Elitenwandel« ist das Ziel, wobei der neuen »Elitengeneration« die Aufgabe zufällt, die Demokratie, wenn überhaupt, marktkonform zu gestalten und die antiimperialistische Identität des syrischen Staates preiszugeben.

Man kann natürlich der Ansicht sein, daß es von einem revolutionären Standpunkt aus völlig legitim sei, einen radikalen Bruch mit dem alten Regime herbeiführen zu wollen. Doch was ist das für eine revolutionäre Bewegung, die aus sich heraus nicht die Kraft zum Umsturz hat und sich von ausländischen Söldnern an die Macht tragen läßt? Wie sozial ist eine Revolution, deren führende Akteure in Berlin von der regierungsnahen Stiftung Wirtschaft und Politik in Zusammenarbeit mit dem American Institute for Peace für den »Tag danach« ausgebildet werden? Und über den demokratischen Charakter eines vom Golf-Kooperationsrat finanzierten Wandels sollte man sich auch keine falschen Vorstellungen machen.

Mehr als ein Jahr nach Beginn des Aufruhrs haben die Kräfte der nationalen Selbstbestimmung keinen Terraingewinn erzielt, im Gegenteil: Der Imperialismus hat im Bündnis mit der finsteren arabischen Reaktion seine Vorherrschaft über die Region nicht nur zu konsolidieren, sondern auch noch auszubauen vermocht. Nur als antiimperialistische Revolution hätte die arabische Revolution zu sich selbst finden können. So aber ist sie vom Imperialismus enteignet worden, was indes nicht das letzte Wort gewesen sein dürfte.

[1] siehe Jürgen Wagner: Imperialer Neoliberalismus, IMI-Studie nr. 12/2012.

* Aus: junge Welt, Samstag, 1. September 2012


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