Dieser Internet-Auftritt kann nach dem Tod des Webmasters, Peter Strutynski, bis auf Weiteres nicht aktualisiert werden. Er steht jedoch weiterhin als Archiv mit Beiträgen aus den Jahren 1996 – 2015 zur Verfügung.

Was folgt den Aufständen?

Der Publizist Bernhard Schmid über die revolutionären Prozesse in Nordafrika *


Am 17. Dezember 2010, also vor genau einem Jahr, zündete sich ein Straßenhändler vor einer Polizeiwache in dem tunesischen Städtchen Sidi Bouzid selbst an, um gegen die häufigen Repressalien seitens der Polizei gegen seinesgleichen zu protestieren. Noch bevor er im Januar an seinen Verletzungen starb, breiteten sich die vor Ort beginnenden Proteste der seit langem unterdrückten Bevölkerung gegen die staatlichen Autoritäten im Land aus. In der Folge wurde nicht nur der tunesische Herrscher Ben Ali gestürzt. Ähnlicher Aufruhr brach in ganz Nordafrika und im Nahen und Mittleren Osten los, mehrere Staatschefs wurden abgesetzt oder zumindest mit den stärksten Protesten seit langem konfrontiert. Allerdings gestalten sich die Umbrüche nicht nur schwierig, sondern auch unterschiedlich. Die Welt blickt nach Rückschlägen und Wiederaufflammen der Bewegungen, nach erkämpften Parlamentswahlen und brachialer Repression weiterhin gespannt auf die arabischsprachigen Länder.


Ihr aktuelles Buch heißt: »Die arabische Revolution?« Warum das Fragezeichen?

Es soll anzeigen, dass es um einen offenen Prozess geht. Es gibt eine demokratische Revolution, die aber starke soziale Aspekte hat: Die Leute wollen nicht nur eine andere Regierung, sondern ein anderes Leben.

Eine wichtige Formulierung in Ihrem Buch ist: Die Diktaturen Nordafrikas wurden »enthauptet«. Was bedeutet das?

Das bedeutet, dass der Kopf weg, der Rumpf aber zum Teil noch da ist. Von »Enthauptung « spreche ich in Bezug auf Tunesien und Ägypten, weil in beiden Ländern die langjährigen Präsidenten zum Rücktritt gezwungen wurden. Die jeweiligen Staatsparteien wurden dann auch verboten. Übrigens wurden sie erst nach den Umstürzen aus der Sozialistischen Internationale ausgeschlossen, dem Zusammenschluss der sozialdemokratischen Parteien. Die Regime wurden aber nicht an Rumpf und Gliedern zerstört. Der Sockel des tunesischen Regimes waren Polizei und Nachrichtendienste. Diese Polizei ist nicht zerschlagen. Sie war lediglich einige Wochen lang in die Defensive gedrängt. Eine prominente linke Anwältin, Radhia Nasraoui, hat schon im Mai von neuen Folterfällen gesprochen, und im August gab es wieder den ersten Toten bei einer Demonstration. Der Polizeiapparat ist also kaum angetastet, auch wenn sich die Leute mehr trauen. Die Reichtumsverteilung wird übrigens auch nicht angetastet. In Ägypten ist es ähnlich, dort ist die Armee bekanntlich der entscheidende Machtfaktor. Sie hat ja nach dem Abgang Mubaraks direkt die Macht übernommen. Sie führt inzwischen auch direkt die Repression aus, nachdem sie bei den Demonstrationen gegen Mubarak populär blieb, als sie sich zwischen die prügelnde und mordende Polizei und die Demonstrationen stellte. 12 000 bis 13 000 Zivilpersonen wurden bisher von Armeegerichten verurteilt – wegen Demonstrationsdelikten wie Unruhestiftung und Landfriedensbruch, aber auch unliebsamer Berichterstattung im Internet. Und die berüchtigte ägyptische Staatssicherheit Amn al-Daula hat sich auch, unter dem nur leicht abgeänderten Namen »Nationale Sicherheit«, wieder gegründet.

Haben die Bewegungen das Potenzial, sich auch gegen diese Machtapparate durchzusetzen? Oder sind die jetzt »losgelassen « und damit umso stärker und brutaler?

Das war eine Zeit lang so, ändert sich aber periodisch. Definitiv ist die bleierne Angst vor ihnen weg. Es gibt ein neues Selbstvertrauen, auch eine Politisierung bei sehr vielen Menschen. Die Bewegungen basieren auf dem Wunsch nach einem besseren Leben. Die demnächst zu bildenden Regierungen werden da viele Enttäuschungen bringen. Die Bevölkerung hat gesehen, was sie erreichen kann. Die Konflikte dürften bei Enttäuschungen wieder ausbrechen.

Gibt es in den verschiedenen Ländern gemeinsame Entwicklungen? Oder sollten sie nicht so global, sondern eher für sich betrachtet werden?

Es gibt eine globale arabischsprachige Öffentlichkeit, die unter anderem durch Medien hergestellt wird. Und es gibt eine Gleichzeitigkeit der Revolten. Das ändert aber nichts daran, dass die Staaten ihre eigenen Charakteristika haben. Das marokkanische Regime, eine Jahrhunderte alte Monarchie, ist ein anderes als das mafiöse tunesische Regime unter Ben Ali, das keine vergleichbare historische Tiefe hatte. Algerien ist ein Sonderfall, weil die Gesellschaft auf Grund des blutigen Bürgerkrieges von 1992 bis 1998 relativ konfliktmüde reagiert. Dort entladen sich die Konflikte eher in zeitlich und räumlich begrenzten spontanen Eruptionen in Form von Riots. Die Regimes reagieren auch unterschiedlich. In Tunesien und Ägypten wurden sie dazu gezwungen, Zugeständnisse zu machen. In Marokko bietet das Regime als Ausweg institutionelle Reformen etwa in Form der Verfassungsänderung vom Juni/Juli, die den autoritären Charakter der Monarchie etwas relativieren. In anderen Ländern gibt es rein repressive Antworten, siehe Syrien. Auch in Bahrain stand die Repression im Vordergrund. Manche Staaten probieren einen Mix aus repressiven Antworten und dem Versuch, den sozialen Frieden zu kaufen, indem Geld ausgeschüttet wird. Das gilt für Saudi-Arabien und Algerien.

In Ihrem Buch werfen Sie die Frage auf: »Was und wer ist da in Bewegung geraten? « Wie lautet die Antwort?

Es sind vor allem soziale Kräfte in Bewegung geraten. Die politischen Parteien waren nicht die Akteure. Da sind zum Einen die in Armut gehaltenen und zum Teil in subproletarischen Verhältnissen lebenden Bevölkerungsteile, und da vor allem die geburtenstarke junge Generation zwischen 15 und 30 Jahren. Ein Teil dieser Generation hat keine halbwegs erträglichen Jobchancen, zumindest nicht auf dem regulären Arbeitsmarkt, und ist somit zum Teil auf den so genannten informellen Sektor angewiesen. Dann gerieten die gebildeten Schichten in Bewegung, etwa Juristinnen und Juristen, die ständig mit dem Unrecht des Staates konfrontiert gewesen waren. In Ägypten waren es eher die gebildeten Schichten, die den Impuls aus Tunesien aufnahmen. Ein anderer wichtiger Faktor waren die Gewerkschaften, jedenfalls die unabhängigen unter ihnen. Eine Staatsgewerkschaft wie die ETUF in Ägypten unter Mubarak wird nicht zum Generalstreik aufrufen, aber es gab daneben auch oppositionelle Gewerkschaften.

Ein weiterer Akteur sind die islamistischen Kräfte.

Allgemeiner: die politischen Kräfte. Die stärkste ist aber der politische Islam. Für ihn war es am Anfang schwierig, sich auf die Proteste zu beziehen, denn seine Anhänger verstehen sich ja schon als Träger eines Gerechtigkeitsideals, und einer gerechten Alternative zu einem als ungerecht verstandenen Bestehenden, das auf einem moralischen Niedergang beruhe. Sie wollen durch eine Remoralisierung, gerade auch bei Familien- und Sexualmoral, eine aus ihrer Sicht kranke Gesellschaft »heilen «, die unter importierten Ideologien leide. Das ist nicht im linken Sinne progressiv, aber sie mussten sich gleichzeitig irgendwie darauf beziehen, dass relevante Teile der Gesellschaft gegen einen als ungerecht empfundenen Zustand in Bewegung gerieten. Trotz einer – nur vordergründig – gemeinsamen Ideologie positionieren sich islamistische Parteien unterschiedlich im politischen und sozialen Raum: Manche sind konservative Reformparteien mit sozialem Anspruch, manche sind wirtschaftsliberal, andere sind eher faschismus- ähnliche Bewegungen.

Die Annahme, »der« Islamismus bekomme nun in den arabischen Ländern eine gefährlich starke Position, ist also nicht gerechtfertigt?

Überhaupt nicht. Es gibt da keine Einheitlichkeit. Das ist zwar eine politische Kraft, mit der zu rechnen ist, sie muss sich aber in unterschiedlichen Kontexten positionieren und ist dadurch Widersprüchen ausgesetzt. Es gibt keine Kommandozentrale und keine einheitliche politische Willensbildung. Diese Bewegungen sind politisch sicherlich eher auf der Rechten als auf der Linken zu verorten, aber die Frage ist, ob sie das demokratische Spiel mitspielen. ! Und wenn eine entsprechende Partei bei Wahlen an die Macht kommt? Das war ja in Tunesien der Fall, wo En-Nahdha über 40 Prozent der Parlamentssitze erreichte.

Aber diese Partei ist ja nicht so radikal.

Ja, aber sie bezieht sich auf den Islam als Quelle ihrer Ideologie. Ihre aktuelle Strategie ist Produkt der Geschichte ihres Landes. Sie war etwa das Hauptopfer der Repression unter dem alten Regime, und im Kampf dagegen hat sie sich für strategische Bündnisse mit linken, liberalen, nichtgläubigen Kräften entschieden.

Ist es möglich, dass sie sich jetzt, wo sie dieses starke Wahlergebnis erreicht hat, wandelt und radikalere, religiöse Politik macht?

Es wird Spannungen innerhalb der Partei geben. Es ist aber angesichts der jüngeren politischen Entwicklung und der gesellschaftlichen Erwartungen nicht anzunehmen, dass sie sich mit Gewalt durchsetzen und alle anderen Parteien ausschalten wird. Sie hat sich strategisch dafür entschieden, das demokratische Spiel mitzuspielen und Koalitionen und Bündnisse einzugehen. Die Gefahr ist eher, dass sie eine wirtschaftsliberale Politik macht, die die Bourgeoisie wieder so restauriert, wie sie war, und nicht, dass sie Scharia-Gerichte einrichtet.

Gemeinhin wird der Elektronik eine zentrale Rolle in den nordafrikanischen Revolten zugesprochen. Was sagen Sie dazu?

Dazu habe ich im Buch ein eigenes Kapitel geschrieben. Die neuen Medien, die modernen Kommunikationsmittel wurden eingesetzt, um Medienzensur (die in Tunesien absolut war) und Versammlungsverbote zu umgehen, um sich zu verabreden. Es verbietet sich aber jegliche Fetischisierung von Technik. Der dümmliche Glaube, dass es sich um eine »Facebook-Revolution« gehandelt habe, ist purer Unfug. Die Revolution fand nicht im virtuellen Raum statt, dort wurde sich nur verabredet und auf aktuelle Ereignisse hingewiesen. Nicht uninteressant ist dabei auch, dass zuerst das ägyptische Regime, danach auch das libysche, das syrische und zum Teil in Bahrain, das Internet für ihre Bevölkerungen dicht machten, tagelang und wiederholt. Das hat ja nicht dazu geführt, dass der Protest abgebrochen wäre. Die Bewegung wurde sogar noch breiter und stärker, als das Internet weg war.

Sie sagen, dass die Bewegung in Tunesien keine Gesellschaftsalternativen zu bieten hat, und dass auch deshalb die religiösen Kräfte Erfolg haben, die mit ihren moralischen Diskursen Zuversicht verbreiten können. Welche Debatten gibt es zu der Frage, was nach dem Regimesturz kommen soll? Gibt es da Gemeinsamkeiten über Ländergrenzen hinweg?

In Tunesien brachen die Streiks im Sommer ein, weil die wirtschaftliche Situation sich negativ entwickelte. Den Leuten wurde immer klarer die Drohung um die Ohren gehauen: Die Bourgeoisie zieht ihre Investitionen ab, wenn ihr nicht spurt. Nach dem Rückfluss der Streikbewegung hat tatsächlich der Moraldiskurs der Religiösen als Trost gewirkt, als Mittel gegen die sich ausbreitende Verunsicherung. Es gibt keine greifbare Alternative in Form eines Wirtschaftssystems. Die Bilanz des real existierenden Sozialismus ist präsent, und nicht nur die aus dem Osten. Algerien war ja ein staatssozialistisches Land, der Südjemen auch. Der Sozialismus ist auch diskreditiert durch Regime, die sich als sozialistisch bezeichneten, aber eher nationalistisch-militaristisch waren, wie die der Baath-Partei in Syrien und Irak. Da es heute nicht mehr die Bündnisoption des sozialistischen Blockes gibt, fehlt ein Gegenmodell, auch wenn die Verteilung des Reichtums im bestehenden System als skandalös eingestuft wird.

* Bernhard Schmid, geboren 1971, lebt seit fünfzehn Jahren in Paris, wo er als promovierter Jurist bei einer antirassistischen Organisation arbeitet. Dazu ist er freier Journalist für mehrere deutschsprachige Zeitungen und Zeitschriften, sowie Autor mehrerer Bücher über europäische neofaschistische Bewegungen und zu arabischen, beziehungsweise afrikanischen Ländern. Im Oktober erschien sein jüngstes Buch »Die arabische Revolution? Soziale Elemente und Jugendprotest in den nordafrikanischen Revolten« (Edition Assemblage, brosch., 118 S., 12,80 €). Darin beleuchtet Schmid die Subjekte der Bewegungen, die Antworten der Regimes, die Rolle der mächtigen Staaten Europas und Amerikas – und die emanzipatorischen Potenziale der Revolten.

Interview: Ralf Hutter

Aus: neues deutschland, 17. Dezember 2011



Zurück zur Nahost-Seite

Zur Tunesien-Seite

Zur Ägypten-Seite

Zurück zur Homepage