Der Mitchell-Report über die Ursachen der Gewalt im Nahen Osten
Israel blockt - Autonomiebehörde stimmt zu - Die Kritik aus dem Westen an Sharon nimmt zu
Erinnern wir uns: Unter Vermittlung und in Anwesenheit des US-Präsidenten Bill Clinton, des UN-Generalsekretärs Kofi Annan, des europäischen "Mr. GASP", Javier Solana und des ägyptischen Gastgebers, Präsident Hosni Mubarak, fand am 16. und 17. Oktober 2000 im ägyptischen Scharm el-Scheich ein Gipfeltreffen zwischen Barak und Arafat statt. Ziel des Treffens war es, die Spirale der Gewalt, die seit dem Besuch des rechtskonservativen Ariel Sharon auf dem Tempelberg Ende September wieder aufgeflammt war (Intifada 2), zu benden. Ein Ergebnis der Verhandlungen bestand darin, eine internationale Untersuchungskommission einzuseten, die die Unruhen der letzten zweieinhalb Wochen untersuchen sollte. Gegen solch eine Kommission, von Arafat gefordert, hatte sich der damals amtierende israelische Ministerpräsident Barak stets ausgesprochen. Barak war allenfalls dazu bereit, die USA mit den Untersuchungen zu beauftragen. Man einigte sich also auf einen Kompromiss: Die internationale Kommission wird von einem US-Amerikaner, dem ehemaligen Senator George Mitchell, geleitet. Neben Mitchell waren an dem Report ein weiterer ehemaliger US-Senator, Warren B. Rudman, der ehemalige türkische Präsident Suleyman Demirel, der norwegische Außenminisetr Thorbjorn Jagland und der EU-Sonderbeauftragte Javier Solana beteiligt.
Am 4. Mai 2001 wurde der Bericht der israelischen Regierung und der palästinensischen Autonomiebehörde übergeben. Mit dem Untersuchungsergebnis befassen sich nun auch US-Präsident George W. Bush und UN-Generalsekretär Kofi Annan, die EU Kommission in Brüssel sowie die Regierungen von Ägypten und Jordanien: sie alle waren am Nahost-Krisengipfel von Scharm el-Scheich beteiligt gewesen. Schon bald nach dem Empfang des Mitchell-Reports signalisierte die palästinensische Autonomiebehörde ihre grundsätzliche Zustimmung zu dem Bericht - obwohl darin auch die Gewaltanwendung durch Palästinenser kritisiert wird. Autonomieminister Yassir Abed Rabbo erklärte auch im Namen Arafats, die Empfehlungen der Kommission könnten "einen Weg aus der aktuellen Krise zeigen". Von israelischer Seite kamen dagegen widersprüchliche Stellungnahmen. Während z.B. Außenminister Shimon Peres das Papier "fair und balanciert" nannte, konnte der Ministerpräsident Sharon dem Report kaum etwas Gutes abgewinnen. Vor allem wies er die kritischen Passagen über die gewaltfördernde Wirkung des israelischen Siedlungstätigkeit in den besetzten Gebieten als unannehmbar zurück. Andere konservative Rergierungsmitglieder und Knesseth-Abgeordnete meinten gar, der Mitchell-Report werde bald im Regal der Geschichte verstauben. Der aufgeklärtere israelische Kommentator Sever Plotzker nannte - einem Bericht der Frankfurter Rundschau vom 8. Mai 2001 zufolge - solche Äußerungen "idiotisch". Und er äußerte die Vermutung, dass alle westlichen Regierungen, allen voran die US-Administration, diesen Bericht akzeptieren würden. In der Tat kamen kurz darauf die ersten positiven Rückmeldungen aus den westlichen Hauptstädten, verbunden mit einer vergelcihsweise scharfen Kritik an der halsstarrigen Haltung der Sharon-Regierung. Israel, das ist der Eindruck der letzten Tage, gerät wegen der zunehmenden militärischen Operationen im Gazastreifen und neuerdings auch im Westjordanland immer mehr unter Beschuss.
Dabei ging der Bericht gerade mit Sharon äußerst schonend um. Sein Besuch auf dem Tempelberg habe die neuerliche Intifada nicht verursacht, sondern allenfalls mit dazu beigetragen. Die wahren Ursachen liegen nach Auffassung des Reports woanders: Einmal liegen die Wurzeln des Konflikts darin, dass einige Israelis nicht "verstehen, welche Demütigungen und Frustration Palästinenser alltäglich als Resultat eines Lebens unter Okkupation ertragen müssen, verstärkt durch israelische Militärpräsenz und Siedlungen in ihrer Mitte". Auf der anderen Seite würden aber auch "einige Palästinenser" nicht begreifen, wie die aus ihren Reihen ausgehenden Terrorakte den Glauben der Israelis an Koexistenz immer wieder untergraben müssten. Entsprechend werden von der Autonomie-Behörde konkrete Schritte gegen Bombenleger und andere Kämpfer verlangt. Die israelische Regierung dagegen wird aufgefordert, "vertrauensbildende Maßnahmen" erbringen zu müssen. Und, das ist eine Schlüsselstelle in dem Report, die die Rechte in Israel so aufbringt: Ein Ende der Gewalt sei nicht möglich ohne "Einfrieren aller Siedlungsaktivitäten, inklusive des 'natürlichen Wachstums'". Außerdem mahnt der Report zügigere Verhandlungen an. Verhandlungen dürften "nicht über Gebühr vertagt" werden. Genau das hat aber gerade Sharon praktiziert, als er die von Ägypten und Jordanien angeregte vierwöchige Waffenpause vor einer Rückkehr an den Verhandlungstisch für zu kurz hielt. - Bis zum 15. Mai sollen sich die israelische Regierung und die Autonomiebehörde offiziell zu dem Bericht äußern. (Hier geht es zu
Auszügen aus dem Abschlussbericht der Mitchell-Kommission )
Derweil eskaliert die Gewaltspirale zwischen Israel und Palästinensern weiter. Am 5. Mai hatten die Israelis das Hauptquartier des palästinensischen Geheimdienstchefs Taufik Tiraui in der autonomen Stadt Jericho mit sieben Raketen in Schutt und Asche gelegt. Bei diesem Angriff wurden 20 Palästinenser verletzt. Israel hat Tiraui im Verdacht, "Drahtzieher" bei palästinensischen Anschlägen zu sein. Am 6. Mai drangen israelische Soldaten mit Panzern erstmals auch im Westjordanland in einen autonomen palästinensischen Ort ein. In Beit Dschalla in der Nähe von Jerusalem wurden ein Palästinenser getötet und 20 verletzt. Der Ort wurde gleichzeitig von einem nahe gelegenen Militärstützpunkt aus mit Granaten beschossen. Dabei wurden mindestens drei Kinder verletzt. Am 8. Mai wurde ein jüdischer Siedler erschossen aufgefunden. Zur Tat bekannten sich zwei verschiedene palästinensische Gruppierungen. Ein anonymer Anrufer, der sich als Mitglied der Vereinigung "Streitkräfte des Volkswiderstands" ausgab, bezeichnete den Mord an dem Siedler als "Vergeltung" für den Tod eines vier Monate alten Babys. Das kleine Mädchen war einen Tag zuvor in Gaza bei einem israelischen Angriff getötet worden.
Die Situation wurde am 8. Mai weiter dadurch aufgeheizt, dass Israels Marine ein libanesisches Waffenschiff aufgriff. Das Schiff hatte Raketen und Munition geladen, die nach israelischen Angaben zu den Palästinensern geschmuggelt werden sollten. Das Schiff wurde in israelischen Gewässern nahe der Grenze zu Libanon gestoppt. Es war mit modernen Katjuscha-Raketen, Rampen zum Abschuss von Panzerabwehrraketen und Munition für Kalaschnikow-Schnellfeuergewehre beladen, sagte ein Sprecher der Marine. Der Oberbefehlshaber der israelischen Marine, Generalmajor Jedidia Jaari warnte inzwischen, dass die Waffenlieferungen aus Libanon die Ausgangslage in dem seit mehr als sieben Monaten andauernden Kleinkrieg in den Palästinensergebieten grundsätzlich ändern könnten. Katjuscha-Raketen haben eine Reichweite von mehr als acht Kilometern und könnten damit von Gazastreifen aus mehrere süd-israelische Orte treffen. Auftraggeber sei die Volksfront für die Befreiung Palästinas (PFLP) von Ahmed Dschibril gewesen. Dies allerdings wird von der PLO bestritten. Der palästinensische Informationsminister Jassir Abed Rabbo sagte, die Organisation Dschibrils sei kein Bestandteil der Palästinensischen Befreiungsorganisation PLO mehr.
Pst
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