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Israel-Palästina: Der Abschlussbericht der Mitchell-Kommission

"So viel ist schon erreicht worden, so viel steht auf dem Spiel"

Am 17 Oktober 2000 hatte der damalige amerikanische Präsident Clinton zum Abschluß des Gipfeltreffens in Scharm al Scheich die Gründung einer Kommission vorgeschlagen, die die Gründe für die Al-Aqsa-Intifada, untersuchen sollte. Anfang November 2000 nahm die Kommission unter Leitung des ehemaligen amerikanischen Senators Mitchell ihre Arbeit auf. Ihr gehören der frühere Nato-Generalsekretär Solana, der frühere türkische Präsident Demirel und der norwegische Außenminister Jagland an. Der Kommission sollte es nicht um die Frage nach Schuld oder Unschuld gehen, sondern darum, die Tatsachen festzustellen. Der Abschlussbericht, der jetzt vorgelegt wurde, vermeidet es denn auch einer Partei die alleinige Verantwortung zuzuschreiben. Die Palästinensische Nationalbehörde erklärte als erste betroffene Partei ihr Einverständnis mit dem Bericht, die Haltung der israelischen Regierung wird von den Medien mit "Jein" umschrieben - zwar sei man mit zahlreichen Passagen einverstanden, lehne jedoch die Forderung nach Einstellung weiterer Siedlungstätigkeit prinzipiell ab.
Nachstehend dokumentieren wir Auszüge aus der inoffiziellen Version des Abschlussberichts (in der Übersetzung der Frankfurter Allgemeinen Zeitung vom 17. Mai 2001)


... Trotz ihrer langen Geschichte und ihrer großen Nähe zueinander scheinen einige Israelis und Palästinenser die Sorgen des anderen nicht richtig zu würdigen. Einige Israelis scheinen nicht zu verstehen, welche Entwürdigung und Frustration die Palästinenser wegen der israelischen Besatzung, der Präsenz des Militärs und der Siedlungen täglich ertragen müssen, noch scheinen sie die Entschlossenheit der Palästinenser zu begreifen, ihre Unabhängigkeit und Selbstbestimmung zu erlangen. Einige Palästinenser scheinen nicht zu verstehen, in welchem Ausmaß der Terrorismus die Angst im israelischen Volk schürt und damit den Glauben an die Möglichkeit der Koexistenz untergräbt. Auch scheinen sie nicht die Entschlossenheit der israelischen Regierung zu verstehen, alles Notwendige zum Schutz der Bevölkerung zu tun ...

So viel ist schon erreicht worden, so viel steht auf dem Spiel. Wenn es den beiden Parteien gelingen soll, ihre gemeinsame Bestimmung zu verwirklichen, müssen die eingegangenen Verpflichtungen verwirklicht, internationales Recht geachtet und die Menschenrechte geschützt werden. Wir ermutigen sie, zu Verhandlungen zurückzukehren, wie schwer das auch fallen mag. Es ist der einzige Weg zu Frieden, Gerechtigkeit und Sicherheit ...

Was ist passiert?

Ende September 2000 erhielten israelische, palästinensische und andere Vertreter die Nachricht, daß der jetzige Ministerpräsident Scharon (damals war er Knesset-Abgeordneter) einen Besuch auf dem Jerusalemer Tempelberg plane. Am 28. September machte er den Besuch in Begleitung von tausend israelischen Polizisten. Obwohl die Israelis den Besuch in einem innenpolitischen Zusammenhang sahen, empfanden ihn die Palästinenser als höchst provokativ. Tags darauf standen sich am selben Ort eine große Zahl unbewaffneter Palästinenser und ein großes israelisches Polizeiaufgebot gegenüber. Nach Auskunft des amerikanischen Außenministeriums hielten die Palästinenser Großdemonstrationen ab und bewarfen die Polizisten mit Steinen ... Die Polizei setzte gummiummantelte Stahlgeschosse und scharfe Munition ein..., tötete vier Personen und verletzte etwa zweihundert. Nach Angaben der israelischen Regierung wurden vierzehn Polizisten verletzt. Ähnliche Demonstrationen fanden an den darauffolgenden Tagen statt. So begann die sogenannte Al-Aqsa-Intifada ...

Die israelische Regierung behauptet, der unmittelbare Auslöser für die Gewalt sei das Scheitern der Verhandlungen in Camp David am 25. Juli 2000 gewesen ... Aus diesem Blickwinkel betrachtet, erscheint die palästinensische Gewalt durch die Autonomiebehörde geplant mit der Absicht, 'gezielt palästinensische Opfer herbeizuführen, um auf diese Weise die diplomatische Initiative zurückzugewinnen'. Die Palästinensische Befreiungsorganisation (PLO) bestreitet den Vorwurf, die Intifada sei geplant gewesen. Sie behauptet aber, daß 'Camp David nichts weniger darstellte als den Versuch Israels, seine Macht am Boden auf die Verhandlungen auszudehnen'. Aus Sicht der PLO reagierte Israel auf die Unruhen mit dem exzessiven und illegalen Einsatz von tödlicher Gewalt gegen die Demonstranten, ein Verhalten, das Israels Verachtung für das Leben und die Sicherheit der Palästinenser gezeigt habe ...

In ihren Eingaben haben beide Seiten Behauptungen über Motivation und Kontrolle des anderen aufgestellt. Uns wurden keine überzeugenden Beweise dafür vorgelegt, daß der Besuch Scharons mehr war als ein innenpolitischer Akt; auch haben wir keine überzeugenden Beweise dafür erhalten, daß die Autonomiebehörde den Aufstand geplant hat ...

Es gibt aber auch keine Beweise, auf deren Grundlage man schließen könnte, daß die Autonomiebehörde konsequent Anstrengungen unternommen hätte, um die Demonstrationen einzudämmen und die Gewalt unter Kontrolle zu bringen. Auch gibt es keine Beweise, daß die israelische Regierung konsequente Anstrengungen unternommen hätte, nichttödliche Mittel zur Kontrolle der Demonstrationen unbewaffneter Palästinenser einzusetzen ...

Der Besuch Scharons hat nicht zur Al-Aqsa-Intifada geführt ... Bedeutsamer waren die folgenden Ereignisse: die Entscheidung der israelischen Polizei am 21. September, tödliche Mittel gegen palästinensische Demonstranten einzusetzen, und das Versäumnis beider Seiten, Zurückhaltung zu üben.

Warum ist es passiert?

Beide Seiten sehen die Nichteinhaltung von erreichten Übereinkommen seit Beginn des Friedensprozesses als Beweis für einen Mangel an Rechtschaffenheit. Dieser Schluß hat zu einem Vertrauensverlust noch vor den Endstatusverhandlungen geführt ...

Aus palästinensischer Sicht kündigten 'Madrid' und 'Oslo' die Aussicht auf einen eigenen Staat an ... Die Palästinenser sind wütend über das Wachsen der Siedlungen ... Die PLO behauptet auch, daß die israelische Regierung Verpflichtungen wie den weiteren Rückzug aus dem Westjordanland und die Freilassung palästinensischer Gefangener nicht eingehalten hat ... Aus israelischer Sicht beeinträchtigt der Ausbau der Siedlungen ... nicht das Ergebnis der Endstatusverhandlungen . . . Die israelische Regierung hält ihren Vorwurf aufrecht, die PLO habe ihre ... Versprechen gebrochen, indem sie weiter auf den Einsatz von Gewalt für politische Zwecke setzt ...

Die Gewalt beenden

Seit 1991 haben sich beide Seiten in allen Übereinkommen stets zur Gewaltlosigkeit bekannt ... Wichtig ist es, daß die Autonomiebehörde eine umfassende Anstrengung unternimmt, ein vollständiges Ende der Gewalt zu erreichen, und daß die israelische Regierung dies deutlich sieht. Die israelische Regierung muß eine hundertprozentige Anstrengung unternehmen, daß es an möglichen Reibungspunkten ... nicht zu neuen Feindseligkeiten kommt ... Wenn bei de Seiten weitere Gewalt verhindern wollen, ist eine Wiederaufnahme der Sicherheitszusammenarbeit zwingend.

Wiederaufbau von Vertrauen

... Trotz der gegenwärtigen Gewalt und des gegenseitigem Vertrauensverlustes haben beide Seiten wiederholt ihren Wunsch nach Frieden ausgedrückt ... Wir glauben, daß die Autonomiebehörde die Verantwortung für den Wiederaufbau des Vertrauens trägt, indem sie klar macht ..., daß Terrorismus verwerflich und unannehmbar ist... Die israelische Regierung hat auch eine Verantwortung für den Wiederaufbau von Vertrauen. Ein Ende der palästinensisch-israelischen Gewalt wird sehr schwierig sein, wenn die israelische Regierung nicht alle Siedlungsaktivität einstellt . . . Beide Seiten müssen deutlich machen, daß gewalttätige Demonstrationen nicht toleriert werden ... Wir rufen alle Beteiligten dazu auf . . ., gegenseitiges Verständnis und Toleranz zu fördern und von Aufwiegelung und feindlicher Propaganda abzusehen ... Wir erkennen Israels Sicherheitsbedürfnisse an. Wir glauben aber auch, daß die israelische Regierung die Abriegelungen aufheben, der Autonomiebehörde alle ausstehenden Steuergelder überweisen und es den Palästinensern erlauben sollte, an ihre Arbeitsstellen in Israel zurückzukehren. Die Abriegelungspolitik spielt in die Hände der Extremisten ...

Wir können keiner Seite vorschreiben, wie sie ihre politischen Ziele am besten verfolgen soll. Aber der Aufbau einer neuen bilateralen Beziehung, die ein Ende der Gewalt untermauerte und darüber hinausginge, braucht eine intelligente Risikobereitschaft. Notwendig ist an erster Stelle, daß beide Seiten bereit sind, sich als Partner anzuerkennen.

Empfehlungen

Die israelische Regierung und die palästinensische Autonomiebehörde sollten ihre Verpflichtung auf getroffene Übereinkünfte bestätigen..., ein bedingungsloses Ende der Gewalt herbeiführen... und sofort die Sicherheitszusammenarbeit wiederaufnehmen. Wirkungsvolle Zusammenarbeit zur Verhinderung der Gewalt wird zur Wiederaufnahme von Verhandlungen ermutigen ...

Die palästinensische Autonomiebehörde und die israelische Regierung sollten ... Aufwiegelungen aller Art verdammen. Die palästinensische Autonomiebehörde sollte ... deutlich machen, daß Terrorismus verwerflich und unannehmbar ist ... Die israelische Regierung sollte sämtliche Siedlungsaktivität einfrieren ... ; die von der israelischen Regierung gewünschte Sicherheitszusammenarbeit kann nicht auf Dauer gleichzeitig mit Siedlungsaktivität bestehen ... Die israelischen Verteidigungskräfte sollten einen Rückzug in ihre Stellungen vor dem 28. September 2000 erwägen ... Die israelische Regierung sollte sicherstellen, daß die Verteidigungskräfte ... Maßnahmen ergreifen, die zu nicht-tödlichen Antworten auf unbewaffnete Demonstranten ermuntern ... Die israelische Regierung sollte die Abriegelungen aufheben ... Die palästinensische Autonomiebehörde sollte ihre Zusammenarbeit mit den israelischen Sicherheitsbehörden erneuern.

Um einen wirksamen politischen Kontext für die praktische Zusammenarbeit beider Seiten zu gewährleisten, dürfen Verhandlungen nicht über Gebühr hinausgeschoben werden, und sie müssen, nach unserer Auffassung, im Geist des Kompromisses, der Versöhnung und der Partnerschaft geführt werden, ungeachtet der Ereignisse der vergangenen sieben Monate.

Ein weiterer Bericht über den Mitchell-Report

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