Das Exempel Jassin
oder Wie Ariel Scharon Recht behält
Wir danken den "Blättern für deutsche und internationale Politik" für die Erlaubnis zur Wiederveröffentlichung des folgenden Beitrags. Weitere Hinweise am Ende der Seite.
Von Margret Johannsen*
Scheich Ahmed Jassin war der 327. Palästinenser, der seit Beginn der zweiten
Intifada einer „gezielten Tötung“ zum Opfer fiel. So heißt in Israels Regierungsjargon
der Raketenangriff auf den Gründer der islamischen Widerstandsbewegung
Hamas. Hamas, ein Produkt der ersten Intifada, hat den
Oslo-Prozess von Anfang an politisch wie militärisch bekämpft und propagiert
einen islamischen Staat Palästina auf dem gesamten ehemaligen Mandatsgebiet.
Dabei verlangt ihr „bewaffneter Arm“, die Kassem-Brigaden, mit
Terroranschlägen auf israelischem Territorium dem Gegner einen hohen Blutzoll
auch unter Zivilpersonen ab.
In jüngster Zeit haben hohe Funktionsträger allerdings eingestanden, dass
eine „Befreiung“ des ganzen Palästina wohl nur schrittweise möglich sein
wird, was sich als Annäherung an die Anerkennung der Zweistaatenlösung in
den Grenzen von 1967 deuten lässt. Es sind indes weniger die ideologischen
Positionen der Hamas, die der Organisation Zulauf bescheren, als vielmehr
ihr Netz an sozialen Einrichtungen und die Glaubwürdigkeit ihres Einsatzes
in der zweiten Intifada.
Jassin war das politische und geistliche Oberhaupt der Hamas. Er starb vor
der Moschee nach dem frühmorgendlichen Gebet und geht nach seiner „Hinrichtung
ohne Gerichtsverfahren“, wie Menschenrechtler derartige Operationen
nennen, als bisher prominentester „Märtyrer“ in die Geschichte der zweiten
Intifada ein. Ein noch prominenteres Opfer wäre nur Jassir Arafat, Chef
der säkularen Fatah und gewählter Präsident der Palästinenser, der unter
Hausarrest steht und in erster Linie fürchten muss, deportiert zu werden.
Auch wenn die Regierung Scharon bereits mehrfach in jüngster Vergangenheit
die Ermordung Arafats in Erwägung gezogen hat, scheint er bisher noch
nicht zum Abschuss freigegeben.
Der Tod des Hamas-Führers wirft Fragen nach dem Zweck, der Legitimität
und den Konsequenzen der Operation auf. Laut neuester Sprachregelung der
Armee geht es bei der Liquidierungssstrategie, der Mitglieder des militärischen
wie politischen Führungspersonals aller palästinensischen Gruppierungen
zum Opfer fallen, um „gezielte Vereitelung“. Von Töten ist jetzt keine
Rede mehr. Doch Sprachregelungen sind niemals unschuldig, sie haben
Folgen.
In einer Operation „gezielter Vereitelung“ tritt an die Stelle des tödlichen
Aktes sein bloßer Zweck: Es geht darum, einen vermeintlich unzweifelhaft
drohenden Schaden abzuwenden. Auch dafür gibt es ein geläufiges Wort, es
heißt „tickende Bombe“ („ticking bomb“). Jeder versteht, dass man „tickende
Bomben“ entschärfen muss, damit kein Unglück geschieht. Beide Begriffe,
die „gezielte Vereitelung“ wie die „tickende Bombe“, tilgen aber mit dem
Töten auch den Getöteten aus dem Begriff. Die Dehumanisierung des Gegners
ist bekanntlich geeignet, Tötungshemmungen abzubauen.
Die Hemmschwelle sinkt
Israels Liquidierungspolitik ist nicht neu; sie hat Vorläufer in der vorstaatlichen
Periode. Die britische Mandatsmacht bildete jüdische Spezialkräfte zur
Bekämpfung des arabischen Aufstandes von 1936 bis 1939 in Counter-Insurgency-
Techniken aus. Diese „Nachtbrigaden“ genannten Einheiten wurden
nach der Staatsproklamation von 1948 Teil der regulären Streitkräfte. Etwa
die Hälfte des israelischen Generalstabs hat in solchen Spezialeinheiten
gedient. Mit Operationen der Einheit 101 etwa hat sich einst Ariel Scharon
durch besonders riskante und brutale Kommandounternehmen einen Namen
gemacht.
Seit 1967 operieren Elitesoldaten der Armee verdeckt, als Araber verkleidet,
in den besetzten Gebieten. Ihre Aufgabe ist die Verhaftung oder Liquidierung
gesuchter Personen. Die Undercover Units planen ihre Einsätze
zusammen mit dem Inlandsgeheimdienst Schin Bet, der die Opfer bestimmt.
Bis zur ersten Intifada griff der israelische Geheimdienst nur selten zu diesem
Mittel, um Personen aus der Führungsetage des palästinensischen Widerstandes
auszuschalten. Eine Ausnahme war die systematische Kampagne zur Eliminierung
aller Personen, die direkt oder indirekt in die Ermordung von elf
israelischen Sportlern während der Olympischen Spiele 1972 in München
involviert waren.
Während des Oslo-Prozesses, der die Konfliktlösung durch Verhandlungen
auf die Agenda setzte, ging die Zahl der Liquidierungen zunächst deutlich
zurück, um nach Ausbruch der zweiten Intifada umso dramatischer anzusteigen.
Was vor Beginn des Friedensprozesses ein unter strenger Abwägung der
Vor- und Nachteile angewandtes Instrument war, scheint nach dem Scheitern
der Verhandlungen zum Mittel erster Wahl geworden zu sein. Der Verwilderung
der Low-intensity-Kriegsführung entspricht auf der politischen Ebene
das offene Bekenntnis der Regierung zur Eliminierung der Köpfe des bewaffneten
Widerstandes.
Während Israel früher zu solchen Operationen schwieg, um sich nicht dem
Vorwurf des Staatsterrorismus auszusetzen, wissen wir heute sogar, wer im
Kabinett für und wer gegen die Liquidierung von Scheich Jassin stimmte. In
Zeiten des Krieges gegen den Al-Qaida-Terrorismus hält sich die Regierung
Israels offenbar für immun gegen Kritik an völkerrechtlichen Regelverletzungen
im Rahmen asymmetrischer Kriegsführung – zu denen sich die substaatlichen
palästinensischen Akteure mangels militärischer Stärke gleichfalls
berechtigt sehen.
Tatsächlich haben viele Attentate palästinensischer Provenienz mit den Al-
Qaida-Anschlägen gemein, dass sie sich gegen Zivilisten richten. Dass sie
aber hinsichtlich Wurzeln, Motivlagen und Zielen dennoch gänzlich anders
geartet sind und ihren Anspruch auf Legitimität aus dem Befreiungskampf
herleiten, verschwindet hinter einem Begriff von Terrorismus, der ohne analytische
Qualität ist und lediglich als Kampfbegriff fungiert.
In der Antwort Israels auf die zweite Intifada kommt verstärkt militärisches
Gerät zum Einsatz, um Personen auf der Fahndungsliste zu liquidieren:
Sprengfallen, Minen, Bomben, Raketen und Drohnen. Dem hohen technologischen
Standard der israelischen Armee entsprechend handelt es sich dabei
zumeist um Präzisionswaffen. Da diese aber meist in dicht bevölkertem
Gebiet eingesetzt werden, fordern die gezielten Operationen nicht selten das
Leben Unbeteiligter. Fast die Hälfte der 327 Getöteten waren laut PNGO,
dem Sprachrohr der palästinensischen Zivilgesellschaft, sogenannte Innocent
Bystanders.
Das Völkerrecht verbietet das Töten von Nichtkombattanten. Vor der Erosion,
die dem Rechtsstaat nicht erst durch die gezielten Tötungen, sondern
auch durch die jahrzehntelange Besatzung Palästinas widerfährt, hat ihn
eigentlich das Oberste Gericht Israels zu bewahren. Ihm liegt seit Januar 2002
eine Petition von israelischen und palästinensischen Menschenrechtsorganisationen
gegen die Politik der gezielten Tötung vor. Zu mehr als einer Aufforderung
an den Staat, sich zur Legalität dieser Politik zu äußern, haben sich die
Obersten Richter bisher allerdings nicht durchringen können. Eine weit prononciertere
Einschätzung hat dagegen Generalstaatsanwalt Elyakim Rubinstein
abgegeben: Er hält die Liquidierungsstrategie für legal, rät der Regierung
jedoch, sie nur als Ultima Ratio einzusetzen.
Wie die USA für ihre
National Security Strategy vom September 2002 und
nachfolgend für den Angriff auf den Irak 2003, so nimmt auch Israel für seine
Liquidierungsstrategie das Recht auf „vorbeugende Selbstverteidigung“ in
Anspruch. Eine solche Verteidigung läuft darauf hinaus, eine Gefahr bereits
dann abzuwenden, wenn diese (noch) nicht unmittelbar droht.
Die Befürchtung, dass sich dem Staat keine zweite Gelegenheit bieten
könnte, einen mutmaßlichen Gewalttäter an der Ausführung eines künftigen
Gewaltaktes zu hindern, begründet die Liquidierung. Unmittelbare Gefahr
entspringt nicht länger einer konkreten Situation, in der ein Menschenleben
von einem Gewalttäter bedroht ist. An die Stelle der konkreten Gefährdung
tritt vielmehr die bloße Möglichkeit, dass ein Mensch Opfer einer zukünftigen
Gewaltanwendung werden könnte.
Als unmittelbar gilt die Gefahr wiederum deshalb, weil der Staat unter
Umständen keine zweite Gelegenheit erhält, einen möglichen Gewalttäter
daran zu hindern, seine Pläne in die Tat umzusetzen. Letztlich bemisst sich
staatliches Handeln auf diese Weise nicht an dem Erfordernis der Abwendung
einer konkreten Gefahr, sondern an der Frage nach der letzten Möglichkeit
staatlichen Eingriffs, also an dem Wunsch des Staates, das Risiko einer Gewalttat
auszuschalten, solange er die Gelegenheit dazu hat. Letztlich wäre nicht der
schutzbedürftige Mensch, sondern der wehrhafte Staat das Maß der Dinge. Georg Nolte, Staats- und Völkerrechtler in Göttingen, nennt diesen Wechsel im
Rechtsverständnis deshalb auch einen „Schritt in eine andere Rechtsordnung“.
Von der Präventions- zur Siegstrategie
Es scheint allerdings, als habe Israel mehr als nur einen Schritt getan. Denn
die israelischen Liquidierungsoperationen gelten nicht nur Aktivisten.
Scheich Jassin war beileibe nicht das erste Opfer, dem keine konkrete
Gewalttat vorgeworfen wird, die er persönlich begangen oder angeordnet
hätte. Er war nur prominenter als andere, beispielsweise als der am 21.
August 2003 getötete Ismail Abu Schanab, der weithin als das pragmatischste
und moderateste Mitglied der Hamas-Führungsriege galt. Schanab hatte mit
dem ersten, inzwischen zurückgetretenen palästinensischen Ministerpräsidenten
Mahmud Abbas einst über ein Ende der Anschläge (Hudna) gegen
Israelis verhandelt und laut über die Zweistaatenlösung als Chance für die
junge palästinensische Generation nachgedacht.
Jassin dagegen predigte Hass gegen Israel. Er starb, weil er kraft seiner
Doppelrolle als geistlicher und politischer Führer die „Seele“ der von ihm
gegründeten Hamas verkörperte. Er habe die Terrorangriffe gegen israelische
Zivilisten inspiriert und den Tod hundertfach verdient, heißt es von israelischer
Seite.
Als „tickende Bombe“ hat ihn dagegen niemand bezeichnet. Mehr noch:
Weder das Kabinett, das seinen Tod beschloss, noch der israelische Ministerpräsident,
der die Exekution persönlich angeordnet und überwacht haben
soll, noch das Militär, das die Operation ausführte – niemand hegte die Illusion,
dass der Tod Jassins ein Ende des Terrors bringen werde. Man rechnete
im Gegenteil kurzfristig mit Racheakten, versetzte die Polizei in erhöhte
Alarmbereitschaft, verstärkte das Sicherheitspersonal an besonders gefährdeten
Einrichtungen und riegelte die Grenzen zu den besetzten Gebieten ab.
Aber langfristig, so hört man, diene die Hinrichtung Jassins Israels Sicherheit,
da sie Hamas ihres populärsten Kopfes beraube und sich von nun an kein Mitglied
aus der Führungsriege seines Lebens sicher sein könne. Denn mit dieser
„Methode“ soll es weitergehen. Auch Jassins Nachfolger Abdel Asis Rantisi**
und mit ihm die gesamte Hamas-Führung steht auf der Todesliste. Auf diese
Weise, so verlautet es aus dem Sicherheitsestablishment, zwinge man die
Führer in den Untergrund und behindere die operativen Fähigkeiten der
Organisation.
Jassin allerdings stand auf der Todesliste bereits seit zwei Jahren, genauer
seit dem Terroranschlag in Netanya am 27. März 2002, der 30 Israelis das
Leben kostete. Das Selbstmordattentat war der Höhepunkt einer Gewaltwelle,
der zuvor in vier Monaten 545 Menschen zum Opfer gefallen waren,
126 Israelis und 419 Palästinenser. (Wer meint, man dürfe solche Statistiken
nicht führen, nicht Leben gegen Leben aufrechnen, übersieht, dass dies die
Konfliktparteien selbst tun. Israelis wie Palästinenser führen genau Buch.)
Der Anschlag in Netanya war der opferreichste aller von Palästinensern ver-
übten Terrorattentate. Die Antwort Israels hieß Operation Defensive Shield
und forderte bis zu ihrem offiziellen Abschluss am 7. Mai 2002 insgesamt 378
Tote, 294 unter den Palästinensern und 84 unter den Israelis. So viele Opfer
hatte es in sechs Wochen noch nie gegeben. Aber die Operation galt in Israel
als Erfolg, weil die palästinensische „Infrastruktur des Terrors“ erheblich
geschwächt worden sein soll. Damals stand das israelische Militär „kurz vor
dem entscheidenden Sieg“.
Jassin hätte seither jederzeit getötet werden können. Der Wohnort des
Gelähmten war bekannt, Flucht kam für ihn nicht in Frage. Der Zeitpunkt sei
jedoch jetzt günstig gewesen, sagte ein Militärsprecher. In der Tat waren die
sieben Menschen, die außer dem eigentlichen Ziel des Anschlags den Tod
fanden, „nur“ Leibwächter und Verwandte, also keine Unbeteiligten im
engeren Sinne. Deren Tod, so das Kalkül, würde vermutlich keinen Aufschrei
des Entsetzens auslösen wie die 1000-Kilo-Bombe in Gaza-Stadt, die am
22. Juli 2002 ein dreistöckiges Wohnhaus in Schutt und Asche gelegt hatte.
Der mit einem F-16-Kampfflugzeug vorgetragene Einsatz hatte dem Gründer
und Kommandanten des militärischen Flügels der Hamas, Salah Schehada,
gegolten, aber außer ihm starben in dem dicht bevölkerten Stadtteil weitere
13 Menschen, darunter acht Kinder.
Das Kalkül ging auf. In den Stellungnahmen zur Exekution Jassins war tatsächlich
wenig von „Kollateralschäden“ die Rede. Gleichwohl war der Imageschaden
beträchtlich. Dies war sicher auch eine Folge der fatalen Dramaturgie.
Die Gebrechlichkeit des Getöteten stand in der Tat in schaurigem
Kontrast zu dem Hightech-Angriff aus der Luft.
Anders als im Juli 2002 setzten sich die Kritiker jedoch vor allem mit den
politischen Folgen der Operation auseinander. Die Äußerung von Chris Patten
war charakteristisch für eine Vielzahl von Kommentaren zum Tode des
Hamas-Führers. Den 67 Jahre alten, an den Rollstuhl gefesselten Geistlichen
zu töten, sei schlichtweg eine Dummheit, sagte der für äußere Angelegenheiten
zuständige EU-Kommissar und verglich die Hinrichtung Jassins mit dem
Versuch, ein Feuer mit Benzin zu löschen.
War es wirklich eine Dummheit? Zweifel sind angebracht. Die grundsätzliche
Entscheidung stand zwar seit langem fest, aber mehr als eine Option
ergab sich daraus nicht. Der Befehl, der aus der Option schließlich eine Operation
machte, ist ohne den Kontext von Ort und Zeit nicht zu erklären.
Im Gaza-Streifen wohnen auf einem Gebiet, das zweimal so groß wie Washington
D.C. ist, rund eineinhalb Millionen Palästinenser. 80 Prozent sind
Flüchtlinge, über die Hälfte von ihnen lebt in Lagern.
Aus dem Gaza-Streifen jedoch plant Scharon den Rückzug, ohne Verhandlungen.
Am 18. Dezember 2003 hatte er auf der
Sicherheitskonferenz in Herzliya erstmals einseitige Schritte angekündigt, falls die
Roadmap scheitern sollte. Am 3. Februar wurde daraus die Ankündigung eines einseitigen Rückzugs
aus dem Gaza-Streifen. Der Rückzug aus einigen isolierten Siedlungen in der
Westbank soll folgen. Im Tausch dafür hofft Ariel Scharon auf grünes Licht aus
Washington für eine Annexion großer Siedlungsblöcke in der Westbank.
George W. Bush hat sich hierzu bisher nicht durchringen können und hält an
der Roadmap fest, die einen lebensfähigen Staat Palästina schaffen will, allerdings
konkrete Aussagen über dessen Zuschnitt vermeidet. Aber immerhin
sicherte der US-Präsident dem israelischen Ministerpräsidenten zu, dass im
Rahmen einer künftigen Friedensregelung ein Rückzug Israels auf die Grenzen
von 1967 nicht erforderlich sei.
Gaza ist nicht das biblische Judäa und Samaria, der Widerstand von 7500
Siedlern scheint deshalb überwindbar. Aber es gibt ein anderes Hindernis: In
diesem elenden Stück Land ist Hamas besonders populär. Bevor Israel
abzieht, soll Hamas „enthauptet“ werden. Andernfalls ließe die Armee eine
Organisation zurück, deren Kämpfer – wie vor vier Jahren die libanesische
Schiitenmiliz Hisbollah – als Sieger gelten und aus dem Gaza-Streifen
„Hamasland“ machen würde, wie es Generalstabschef Moshe Ja’alon formulierte.
Ohne einen Sieg, der in das palästinensische Bewusstsein die Vergeblichkeit
des bewaffneten Widerstandes „einbrennt“, kommt ein Rückzug für
Scharon deshalb nicht in Frage.
Es geht also um Sieg, nicht um Prävention. Hier stellt sich allerdings die
Frage: Kann Israel wirklich siegen oder geht es nur darum, den Anschein
einer Niederlage im Gaza-Streifen abzuwenden? „Ha’aretz“-Kolumnist Joel
Marcus erinnerte daran, dass US-Präsident Johnson einst auch glaubte, in
Vietnam siegen zu müssen, bevor die Truppen das Land verlassen dürften.
Viel wichtiger jedenfalls als dieses umzäunte Stück Elend ist die Westbank.
Es scheint, als hinge man in Teilen der internationalen Staatengemeinschaft
noch immer der Vision einer fairen, das heißt beiden Seiten zumutbaren
Zweistaatenlösung an. Für Ariel Scharon, den „Vater der Siedlungen“, ist das
ein Albtraum. Was könnte es Besseres geben, um diesem Traum endgültig
den Garaus zu machen, als eine Eskalation der Gewalt, die von Seiten der
Palästinenser zudem noch unter dem Zeichen des Dschihad betrieben wird?
Die Exekution von Scheich Ahmed Jassin drohe einen lösbaren Territorialkonflikt
zwischen zwei Völkern zu einem unlösbaren religiösen Konflikt zu
verwandeln, warnte denn auch der israelische Friedensaktivist Uri Avneri
und warf der Regierung Wahnsinn vor.
Auf dem Weg zu einem Mini-Palästina
Wenn es Wahnsinn war, so hatte er doch Methode. Die Exekution Jassins rührt
an die religiösen Wurzeln des Konflikts und heizt ihn damit auf. Und während
man der erwarteten Eskalation Herr zu werden versucht, wächst auf der Westbank
eine Sperranlage, von Israel als „Sicherheitszaun“ gegen palästinensischen
Terror, von Kritikern als „Apartheidsmauer“ bezeichnet. Es ist ein höchst
umstrittenes Projekt. Populär ist es nur in Israel, wo sich kaum jemand dafür
interessiert, dass dadurch die Palästinenser weite Teile ihres fruchtbaren Landes
verlieren und jede Hoffnung auf eine bessere Wasserversorgung aus den
unterirdischen Reserven an der Westgrenze aufgeben müssen. Rechtlich ist
die Mauer umstritten, weil sie nicht auf der Green Line verläuft und es den
Anschein hat, als diene sie der Annexion palästinensischen Landes.
Die UN-Vollversammlung hat den Internationalen Gerichtshof in Den Haag
bereits um eine völkerrechtliche Beurteilung der Mauer ersucht. Die USA und
die EU haben diesen Beschluss zwar nicht mitgetragen, sich aber kritisch zum
Verlauf der Mauer geäußert. Und zu allem Überfluss gaben Israels Oberste
Richter einer Klage von Palästinensern statt, stoppten an einigen Stellen den
Bau und verlangten eine Verlegung weiter nach Westen.
Folgte die Politik tatsächlich diesem Urteil, müssten mehr Siedlungen östlich
der Mauer verbleiben. Wer aber wollte dies wagen, wenn die Situation im
Gaza-Streifen eskalieren und auch auf die Westbank übergreifen würde?
Wem wollte es dann nicht einleuchten, dass es eine sauberere Lösung ist, die
Siedlungen mit einer Mauer gegen die feindliche Umwelt abzuschirmen, als
zu ihrem Schutz ständig mehr Soldaten schicken zu müssen? Was wiegt
schließlich ein sechs oder auch 20 Kilometer breiter Streifen Land für die
Palästinenser gegen die Sicherheit der Siedler?
Mit der bedingten Annahme der Roadmap hat sich der israelische Ministerpräsident
zur Zweistaatenlösung bekannt. Diese könnte in Form eines Mini-
Palästinas implementiert werden, das zuerst im Gaza-Streifen entsteht (den
Israel sowieso lieber heute als morgen loswerden würde) und später einmal
durch eine Hand voll Homelands auf der Westbank komplettiert wird. Wenn,
wie zwischen Scharon und Bush formell vereinbart, der künftige Grenzverlauf
sich an den demographischen Gegebenheiten vor Ort orientieren soll, liegt es
nahe, facts on the ground zu schaffen. Die interne Vertreibung von Palästinensern,
die der Mauer weichen müssen, zeigt bereits heute, wie dies geht.
Im Zeichen des Kampfes gegen den transnationalen Terrorismus lässt sich
der Ruf nach Vergeltung des Attentats auf Scheich Jassin also trefflich für die
Absicht Scharons nutzen, einen lebensfähigen Staat Palästina in den Grenzen
von 1967 zu verhindern.
Auf die Europäer hatten die Terroranschläge von Madrid am 11. März 2004
zwar nicht den Effekt, den man in Israel erwartet hatte, nämlich mehr Verständnis
für Israels Kampfansage an den palästinensischen Terrorismus zu
wecken. Gleichwohl konnte man auf Toleranz in Washington hoffen. Für die
Bush-Administration boten die Bomben von Madrid eine Gelegenheit, den
11. September 2001 in Erinnerung zu rufen. George W. Bush braucht den
Krieg gegen den Terrorismus seinerseits für seine Wiederwahl. Dabei machte
er in diesem Krieg in letzter Zeit wahrlich keine gute Figur. Zu Hause wirft
man seiner Regierung vor, die Warnungen vor Al Qaida nicht ernst genug
genommen zu haben; und im Irak scheint es, als habe der Krieg den islamistischen
Terror geradezu ins Land gebombt.
Ariel Scharon hatte nach dem 11. September versucht, auf den Zug aufzuspringen
und aus Jassir Arafat den Osama Bin Laden der Palästinenser zu
machen. Zweieinhalb Jahre danach versuchte er es erneut, mit veränderter
Rollenbesetzung: Aus Al Qaida wurde Hamas, aus Bin Laden Jassin.
Wie das Attentat auf den israelischen Ministerpräsidenten Itzhak Rabin von
1995 zeigt, kann die Ermordung eines politischen Führers einen Friedensprozess
unterminieren. Aber sie kann keinen Terror verhindern, der einem national-
religiösen Konflikt entspringt. Wie die heftigen Reaktionen in den arabi-
schen Gesellschaften auf die Liquidierung Jassins zeigen, vergrößert diese
eher die Schar derer, die sich zur Rache aufgerufen fühlen.
Darf Hamas mitregieren?
Wer dagegen im Nahen Osten eine Verhandlungslösung will, muss im politischen
System der Palästinenser die Kräfte stärken, die auf Verhandlungen
anstatt auf Gewalt setzen. Die Exekution Jassins hat das Gegenteil
bewirkt. Die Palästinensische Autorität (PA), die unter der Besatzung ihre
Funktionsfähigkeit eingebüßt hat, kann gegen die irregulären bewaffneten
Kräfte nicht vorgehen, solange das Volk nach Vergeltung ruft. Hamas,
ohnehin in den meisten Universitäten, Gewerkschaften und wichtigsten
Berufsverbänden aus den letzten Wahlen gestärkt hervorgegangen, reitet
auf einer neuerlichen Sympathiewelle. Wenn es nach dem israelischen
Rückzug aus dem Gaza-Streifen dort allgemeine Wahlen geben sollte, wie
sie der frühere Chef der palästinensischen Sicherheitsdienste in Gaza,
Mohammed Dahlan, fordert, so ist zu erwarten, dass Hamas zum ersten Mal
auch an nationalen Wahlen teilnehmen und ihre jüngsten Wahlerfolge
wiederholen wird. Insofern besteht guter Grund für das Selbstbewusstsein,
mit dem die Organisation Anfang April ihren Anspruch öffentlich anmeldete,
nach dem israelischen Rückzug Regierungsverantwortung zu übernehmen.
Die besondere Ironie: Die Diskussion über eine konstruktive Rolle
der Hamas in der PA hatte Scheich Jassin angestoßen, kurz bevor er dem
Attentat zum Opfer fiel.
Ist eine Regierungsbeteiligung der Hamas ein Grund zur Besorgnis? Das
kommt darauf an. Ihre Oppositionsrolle ersparte der Organisation jene Korruptionsvorwürfe, denen sich die PA und die sie tragende Fatah ausgesetzt
sieht. Wenn Hamas sich an den kleinen und großen Geschäften des Regierens
beteiligt, wird sie ihre Erfahrung im Aufbau und Betrieb sozialer Dienste und
in den Selbstverwaltungsstrukturen der Universitäten, Gewerkschaften und
Berufsverbänden einbringen können. Auszuschließen ist allerdings ebenso
wenig, dass sie sich dabei selbst entzaubert. Jedenfalls wird sie an ihren administrativen Erfolgen gemessen werden und Rechenschaft ablegen müssen.
Darin liegt die Chance einer Zivilisierung der Organisation, deren quasi militärische
Formationen ihre Daseinsberechtigung bisher dem bewaffneten Kampf verdanken, von dessen „Erfolgen“ bisher wiederum auch die „Mutterorganisation“
zehrt.
Israel aber scheint entschlossen, die Transformation der Hamas in eine politische
Partei mit Gewalt zu verhindern und die Liquidierung der Hamas-Führungsriege
fortzusetzen. Ob dies Hamas zum Einlenken veranlassen wird,
bleibt abzuwarten.
Wenn die Opfer der Liquidierungsstrategie auch weiterhin solche Hamas-
Führer sind, die sich wie Ismail Abu Schanab – oder auch der getötete Scheich
Jassin – für ein Ende des Terrors im Tausch gegen ein Ende der Besatzung
ausgesprochen haben, dann dürften am Ende die radikalsten, rein militärisch
orientierten Hardliner triumphieren. Wenn auch diese liquidiert werden, steht
eine Zersplitterung der bisher hierarchisch organisierten, diszipliniert agierenden
und daher auch kalkulierbaren Hamas ins Haus. Ihr säkulares Gegenstück,
die Fatah, erlebt gerade einen solchen Niedergang – mit der Folge, dass
sich in den Palästinensergebieten Chaos ausbreitet und sich Anzeichen einer
Kommerzialisierung der Gewalt mehren. Ob Hamas, wenn ihr die Autorität
einer zentralen Leitung abhanden kommt, ein ähnlicher Absturz in die Niederungen
des Bandenwesens droht? Es sind auch andere, weit beunruhigendere
Szenarien vorstellbar, zum Beispiel eine Allianz des national motivierten
Dschihad der Hamas mit dem apokalyptischen Terrorismus von Al Qaida.
Dann aber hätten die israelischen Hardliner – im Sinne einer Selffulfilling Prophecy
– am Ende tatsächlich Recht behalten.
* Dr. Margret Johannsen, Politikwissenschaftlerin und Nahostexpertin am Institut für Friedensforschung und Sicherheitspolitik der Universität Hamburg (IFSH).
** Rantisi wurde am 17. April 2004, also nach der Fertigstellung dieses Manuskripts, ebenfalls Opfer eines gezielten Angriffs der israelischen Streitkräfte. Siehe unsere Nahostchronik (Anm. der Redaktion dieser Homepage).
Dieser Beitrag erschien in: Blätter für deutsche und internationale Politik, Heft 5/2004, S. 605-613
Die "Blätter" erscheinen monatlich und sind zu beziehen bei:
Blätter Verlagsgesellschaft
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