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Naher Osten: Kann die Genfer Initiative weiterhelfen?

Was steht drin? Welche Chance hat sie? Meinungen und Stellungnahmen

Die sog. Genfer Vereinbarung wurde Mitte Oktober unter Schweizer Vermittlung zwischen israelischen und palästinensischen Politikern abgeschlossen wurde. Am 1. Dezember soll sie in Genf von den Partner unterzeichnet werden. Ministerpräsident Scharon und andere Mitglieder seines Kabinetts haben die Vereinbarung sofort zurückgewiesen und sogar von Landesverrat gesprochen. In der israelischen Bevölkerung - nicht nur in der Friedensbewegung - fanden die Vorschläge dagegen große Beachtung. Unterschiedliche Reaktionen (Zustimmung bis zu demonstrativem Protest) gab es auch von palästinensischer Seite, wobei hier insbesondere die ungenügende Verankerung eines Rückkehrrechts der Flüchtlinge kritisiert wird.
Die Vereinbarung enthält neben einer Präambel 17 Artikel, in denen der Versuch gemacht wird, alle wesentlichen Streitpunkte des Jahrzehnte dauernden Nahostkonflikts zum Vorteil beider Seite, vor allem aber im Interesse eines anhaltenden Friedens zu lösen. Lediglich die Artikel 12, 13 und 14 (darin geht es um die Wasserfrage, um die wirtschaftliche Zusammenarbeit und um das Rechtswesen) sowie ein Annex X müssen später noch ergänzt werden.
Im Folgenden geben wir zunächst einen kurzen Überblick über die wichtigsten Inhalte der Vereinbarung (den gesamten Text haben wir im englischen Original dokumentiert: The Geneva Accord).
Im Anschluss daran dokumentieren wir zwei Stellungnahmen, die sich zustimmend zu der Vereinbarung äußern:
  • eine Anzeige von der israelischen Friedensorganisation Gush Shalom (Uri Avnery), die am 28.11.2003 in "Ha'aretz" erschien;
  • eine von Reiner Bernstein initiierte Anzeige, die Anfang Dezember in der Süddeutschen Zeitung erscheint;
(Eine weitere Stellungnahme europäische Juden und Jüdinnen haben wir bereits an anderer Stelle dokumentiert: Presseerklärung der European Jews for a Just Peace.


Das Genfer Abkommen (Geneva Accord)

Die wichtigsten Punkte in der Vereinbarung sind:
  • Die internationale Grenze zwischen Israel und Palästina (Palestine) verläuft - entsprechend der UN-Resolutionen 242 und 338 - entlang der Waffenstillstandslinie vom 4. Juni 1967. Einzelne Gebiete werden im Verhältnis 1:1 ausgetauscht, einziges Kriterium ist die Fläche. Dadurch können einige Siedlungen an Israel angeschlossen werden. Die aufgegebenen Siedlungen fallen an Palästina. (Art. 4)
  • Artikel 4 Ziff. 6 sieht außerdem vor, dass ein Korridor zwischen dem Gazastreifen und dem Westjordanland (West Bank) gebildet wird; er soll unter israelischer Souveränität, aber unter palästinensischer Verwaltung liegen und immer offen sein (permanently open).
  • Jerusalem ist die Hauptstadt beider Staaten. Israel und Palästina haben jeweils die Souveränität über die ihnen unterstellten Stadtbezirke. Auch die Altstadt wird aufgeteilt. Das jüdische Altstadtviertel sowie die Klagemauer fallen an Israel, zu Palästina gehören die christlichen und muslimischen Quartiere sowie das Gelände der Aksa-Moschee. Über den Tempelberg soll außerdem eine Internationale Gruppe wachen. (Der Jerusalem betreffende Artikel 6 ist sehr umfangreich, was der Schwierigkeit geschuldet ist, hier zu beiderseits zufrieden stellenden Regelungen zu kommen.)
  • In Artikel 7 wird grundsätzlich das Recht der palästinensischen Flüchtlinge gemäß Resolution 242 des UN-Sicherheitsrats und 194 der UN-Generalversammlung anerkannt. Nur eine symbolische Zahl von palästinensischen Flüchtlingen erhält das Recht auf Rückkehr. Andere sollen von Drittstaaten aufgenommen werden. Wer nicht zurückkehren darf, erhält eine Kompensationszahlung.
  • Die palästinensischen und arabischen Häftlinge sollen nach Artikel 15 frei gelassen werden (wofür ein gestuftes Verfahren für drei Kategorien von Gefangenen vorgesehen ist).
  • Zur Umsetzung des Abkommens und zu dessen Überwachung soll eine Implementierungs- und Verifikationsgruppe (IVG) gebildet werden, der auch die Mitglieder des sog. Nahost-Quartetts (USA, Russland, EU und UN) angehören sollen.
  • Artikel 5 enthält friedenspolitisch wegweisende, möglicherweise aber auch sehr umstrittene Regelungen. Positiv ist sicher die Festlegung, dass beide Staaten am Aufbau eines von Massenvernichtungswaffen freien Nahen Ostens arbeiten sollen. Auch wenn die israelischen Atomwaffen hierbei nicht namentlich erwähnt werden, wären sie mit die ersten, die zur Disposition stehen müssten. Palästina soll ein entmilitarisierter Staat sein, der allerdings über starke Sicherheitskräfte verfügen soll ("strong security force"). Eine solche einseitige Beschränkung angesichts einer hochgerüsteten israelischen Armee dürfte bei vielen Palästinensern auf Unverständnis stoßen.
Zusammenstellung: Pst

Den vollständigen Text können Sie in englischer Sprache lesen: The Geneva Accord.


AN IMPORTANT STEP

"Gush Shalom" welcomes the "Geneva initiative" which is to be launched officially next Monday. This is an important step in the right direction.

We shall discuss at a later date the differences between this document and the Draft Peace Treaty published by Gush Shalom two years ago.

At this point in time, the important thing is to emphasize:
  • THERE IS A PARTNER FOR PEACE!
  • THERE IS A BASIS FOR PEACE!
  • THERE IS LIFE AFTER SHARON!
Gush Shalom ad published in Ha'aretz, November 28, 2003
(Anzeige von Gush Shalom, erschienen in "Haaretz" am 28.11.2003)


Ein Zeichen der Hoffnung für Palästinenser und Israelis

Nach zweijähriger Vorarbeit haben am 1. Dezember 2003 eine israelische und eine palästinensische Delegation unter Führung des früheren Justizministers Yossi Beilin und des ehemaligen Mitglieds der palästinensischen Autonomiebehörde Yasser Abed Rabbo ein Dokument unterschrieben, das als "Genfer Initiative" bezeichnet worden ist.

Diese Vereinbarung hat die endgültige Regelung des bitteren israelisch-palästinensischen Konflikts zum Ziel, indem
  • beide Seiten das Ende der jahrzehntelangen Konfrontation bestätigen sowie einen Übergang von der Logik des Krieges in die Logik des Friedens, der Sicherheit, der Stabilität und der Zusammenarbeit einleiten,
  • beide Seiten die Anerkennung des Rechts des jüdisch-israelischen Volkes und des arabisch-palästinensischen Volkes auf eigene Staatlichkeit beurkunden sowie
  • beide Seiten ihre Verpflichtung auf die Normen des internationalen Rechts und die Charta der Vereinten Nationen unterstreichen,
  • die Kontrolle und Koordination bei der Durchführung der Vereinbarung einer international besetzten "Implementation and Verification Group" übertragen wird und eine multinationale Streitmacht die beiderseitige Sicherheit garantieren soll.
Dazu ist es nach Auffassung der Autoren notwendig, dass sich Israel auf die Grenzen von 1967 zurückzieht unter Wahrung des Rechts auf beiderseitig vereinbarte Modifikationen, dass die jüdischen Siedler nach Israel zurückgeführt werden, dass ein ständiger Korridor zwischen der Westbank und dem Gazastreifen geöffnet wird, dass Jerusalem neben der Hauptstadt Israels auch die Hauptstadt des Staates Palästina wird und dass für die palästinensischen Flüchtlinge von 1947/48 eine gerechte Regelung gefunden wird.

Mit der "Genfer Initiative" liegt der internationalen Öffentlichkeit zum ersten Mal der Entwurf eines Vertrages vor, der von namhaften Israelis und Palästinensern ausgearbeitet worden ist. Nach unserer Auffassung verdienen die Bemühungen beider Delegationen unsere volle Unterstützung, für Einzelfragen bleiben Verhandlungsspielräume offen. Wir fordern von den Adressaten der Vereinbarung, der Regierung des Staates Israel und der Palästinensischen Autonomiebehörde, die Aufnahme direkter Verhandlungen auf dieser Grundlage. Gleichzeitig erwarten wir besonders von den USA, den Mitgliedstaaten der Europäischen Union und von Russland dringend, dass sie die Genfer Initiative unterstützen und nachdrücklich ihren Einfluss auf die Konfliktparteien zur Geltung bringen.

Die Genfer Initiative bietet eine in die Zukunft weisende Grundlage für die Regelung des israelisch-palästinensischen Konflikts. Deshalb muss das Jahr 2004 zum Jahr des tragfähigen Kompromisses und der friedlichen Koexistenz werden. Wir rufen alle Menschen in unseren Ländern auf, mit ihren Mitteln diesem Ziel zum Erfolg zu verhelfen!

Verantwortlich: Judith & Reiner Bernstein, München. Email: Reiner.Bernstein@web.de.

Der Text erscheint mit einer Anzahl von persönlichen Unterzeichnern Anfang Dezember in der Süddeutsche Zeitung.


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