Dieser Internet-Auftritt kann nach dem Tod des Webmasters, Peter Strutynski, bis auf Weiteres nicht aktualisiert werden. Er steht jedoch weiterhin als Archiv mit Beiträgen aus den Jahren 1996 – 2015 zur Verfügung.

Massaker in Sirte vermutet

Milizen töteten in Libyen offenbar Gaddafi-Anhänger nach deren Festnahme *

In der libyschen Stadt Sirte sollen Milizionäre des Übergangsrates 53 Anhänger von Ex-Staatschef Muammar al-Gaddafi nach deren Festnahme getötet haben.

Mitarbeiter der Menschenrechtsorganisation Human Rights Watch fanden in Sirte Leichen, bei denen die Arme mit Plastikbändern hinter dem Rücken gefesselt waren. Die Organisation forderte deshalb am Montag (24. Okt.) den regierenden Übergangsrat auf, »eine unverzügliche und transparente Untersuchung der offensichtlichen Massenhinrichtung einzuleiten und die Verantwortlichen vor Gericht zu stellen«. Auch Gaddafi ist unter bislang ungeklärten Umständen gestorben. Der 69-Jährige war in seiner Heimatstadt Sirte von Milizionären des Übergangsrates festgenommen worden. Viele Anzeichen deuten darauf hin, dass er und sein Sohn Mutassim später gezielt erschossen wurden.

Mitarbeiter von Human Rights Watch waren am Sonntag nahe eines Hotels in Sirte auf die 53 Leichen gestoßen. Die Blutspuren, die Einschüsse im Grasboden und die Verteilung der Geschosshülsen würden darauf hindeuten, dass die meisten Opfer gemeinsam an dieser Stelle erschossen worden waren. Zum Zeitpunkt des mutmaßlichen Massakers hätten Kämpfer des Übergangsrates das Gebiet mit der Fundstelle kontrolliert.

Sollte sich die Massenerschießung eindeutig den Anti-Gaddafi-Milizen zuschreiben lassen, dann wäre dies das schwerste bekannte Kriegsverbrechen, das diese in ihrem acht Monate langen Kampf begangen haben. Bislang wurden vor allem Übergriffe gegen Gaddafi-Anhänger wie willkürliche Verhaftungen und Misshandlungen bekannt. Außerdem wurden mancherorts Dorfbewohner vertrieben, weil sie der Sympathien für Gaddafi verdächtigt wurden.

Der Obduktionsbericht zum Tod Gaddafis soll nach Angaben des untersuchenden Arztes erst in einigen Tagen veröffentlicht werden. Sein Bericht sei noch nicht fertig, sagte der Rechtsmediziner Othman al-Sentani Misrata. Bislang könne er lediglich bestätigen, dass Gaddafi durch Schussverletzungen getötet worden sei; zur Bekanntgabe weiterer Details brauche er die Zustimmung seines Vorgesetzten, des Generalstaatsanwalts. Der Regierungschef des libyschen Übergangsrats, Mahmud Dschibril, hatte dagegen zuvor unter Berufung auf den Obduktionsbericht gesagt, Gaddafi sei nach seiner Gefangennahme am vergangenen Donnerstag (20. Okt.) auf dem Weg ins Krankenhaus im Kreuzfeuer getötet worden.

Sentani sagte, er habe »Antworten auf alle Fragen«, darunter auch die, ob Gaddafi im Gefecht starb oder gelyncht wurde. Er erwarte, dass er »grünes Licht« für die Bekanntgabe erhalten werde.

* Aus: neues deutschland, 25. Oktober 2011

Lesen Sie auch:

NATO wegen Angriffskrieg unter Anklage / Friedensbewegung spricht von "Ermordung" Gaddafis / IPPNW: Flüchtlinge aus Libyen in Deutschland aufnehmen
Reaktionen aus der Friedensbewegung auf den Tod Gaddafis: Erklärungen von Friedensratschlag, IPPNW, "Stop the War Coalition" und pax christi Österreich (25. Oktober 2011)



Libyen frei für Scharia

Von André Scheer **

Während der »Nationale Übergangsrat« (NTC) am Sonntag abend (23. Okt.) offiziell die »vollständige Befreiung« Libyens »mit seinen Städten, Dörfern, Hügeln, Bergen, Wüsten und Lüften« verkündete, setzte die NATO ihre Luftangriffe auf das nordafrikanische Land fort. Allein am Wochenende wurden insgesamt 24 Kampfeinsätze geflogen, teilte die Militärallianz am Montag auf ihrer Homepage mit, verschwieg jedoch, welche Ziele dabei attackiert wurden. Unterdessen wird in der lange umkämpften Stadt Sirte das Ausmaß der Zerstörungen sichtbar. Die US-Menschenrechtsorganisation Human Rights Watch teilte am Montag mit, sie habe in einem Hotel in Sirte die Leichen von 53 mutmaßlichen Anhängern des langjährigen Staatschefs Muammar Al-Ghaddafi entdeckt, die offenbar Mitte Oktober in dem von NTC-Kämpfern kontrollierten Gebäude ermordet wurden.

Die meisten Einwohner sind aus der Stadt geflohen oder verlassen Sirte jetzt, berichtete AFP. Omar Beifala aber wolle bleiben. Mit einem Dutzend Verwandter versuche er, sein zerstörtes Haus notdürftig instand zu setzen. Die Wohnräume seiner Familie seien mehrfach geplündert worden. »Einmal waren es die Truppen von Ghaddafi, einmal die Revolutionäre«, erzählte Beifala dem Reporter. »Für uns sind sie alle gleich.«

Alles anders machen will hingegen NTC-Chef Mustafa Abdul Dschalil. Bei der Befreiungsfeier am Sonntag abend verkündete er vor Tausenden Menschen, künftig werde die Scharia die Grundlage aller Gesetze des nord­afrikanischen Landes sein. Vorschriften, die im Widerspruch zum Islam stünden, würden annulliert. Dazu zählte er Agenturberichten zufolge ausdrücklich auch das bestehende Familienrecht. Schon bisher durfte ein Mann in Libyen bis zu vier Ehefrauen haben, er brauchte dazu allerdings die Einwilligung seiner ersten Frau. Dschalil will diese Beschränkungen nun aufheben. Sultan Al-Qassemi, ein laizistischer Journalist aus den Vereinigten Arabischen Emiraten, kommentierte dies über seinen vielgelesenen Twitter-Account: »Islamische Republik Li­byen– gebracht von der NATO«. Der frühere kubanische Präsident Fidel Castro warf der NATO in einer am Montag vom Internetportal Cuba­debate veröffentlichten Reflexion vor, zum »niederträchtigsten Repres­sionsinstrument« in der Geschichte der Menschheit geworden zu sein.

Für Bundesaußenminister Guido Westerwelle sind in Libyen hingegen »Angst und Unterdrückung der Hoffnung auf Frieden und Freiheit gewichen«. Auf der Homepage des Auswärtigen Amtes heißt es, Dschalil habe als »nächste Schritte« hervorgehoben, daß binnen 30 Tagen eine Übergangsregierung gebildet werden solle, die die Wahl einer verfassunggebenden Versammlung vorbereitet. Die religiösen Parolen verschweigen Deutschlands Diplomaten lieber.

Der Apostolische Vikar in Tripolis, Giovanni Innocenzo Martinelli, kritisierte noch einmal die NATO-Intervention gegen Libyen. »Dieser Krieg hätte doch verhindert werden können, und es ist völlig unverhältnismäßig, mit geballter Militärmacht einem einzelnen Menschen neun Monate lang nachzustellen«, sagte er Radio Vatikan zufolge. Er räumte jedoch zugleich ein: »Aber ich merke jetzt auch, daß die Befreiung für das libysche Volk eine verdiente ist. Diese Menschen haben unter 40 Jahren Diktatur gelitten.« Ghaddafi habe zwar viel für die Religionsfreiheit getan. Zugleich habe er aber den Islam gepredigt und Hinrichtungen angeordnet: »Wie brachte er das zusammen?«

** Aus: junge Welt, 25. Oktober 2011


Zurück zur Libyen-Seite

Zur Menschenrechts-Seite

Zurück zur Homepage