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NATO wegen Angriffskrieg unter Anklage / Friedensbewegung spricht von "Ermordung" Gaddafis / IPPNW: Flüchtlinge aus Libyen in Deutschland aufnehmen

Reaktionen aus der Friedensbewegung auf den Tod Gaddafis: Erklärungen von Friedensratschlag, IPPNW und "Stop the War Coalition"


Es gab nicht viele Stellungnahmen aus der Friedensbewegung zum NATO-Krieg gegen Libyen. Diese Zurückhaltung überrascht, da es sich beim Libyen-Einsatz um einen geradezu exemplarischen völkerrechtswidrigen Krieg ums Öl handelte. Wenn dessen erste Phase nun vorbei ist, heißt das keineswegs, dass sich die Hauptkriegsakteure nun einfach zurückziehen und Libyen sich selbst überlassen. Sie werden der Interimsregierung noch die Rechnung präsentieren.
Im Folgenden dokumentieren wir zwei Erklärungen aus der deutschen Friedensbewegung (Bundesausschuss Friedensratschlag und IPPNW) sowie einen Beitrag von Lindsey German von der britischen "Stop the War Coalition" und eine Erklärung von pax christi Österreich.


Friedensratschlag klagt NATO an

Pressemitteilung des Bundesausschusses Friedensratschlag
  • NATO der Führung eines Angriffskriegs bezichtigt
  • Friedensratschlag: Krieg gegen Libyen war von Anfang an völkerrechtswidrig
  • "Wir teilen nicht Jubel über Gaddafis Tod"
Berlin/Kassel, 24. Oktober 2011 - Anlässlich des gewaltsamen Endes der Ära Gaddafi in Libyenerklären Dr. Peter Strutynski und Lühr Henken in einer ersten Stellungnahme:

Der Bundesausschuss Friedensratschlag klagt die NATO an wegen Führung eines Angriffskrieges gegen Libyen. Von Anfang an, so heißt es in einer Erklärung vom Montag, haben Frankreich, Großbritannien und die USA nicht den "Schutz der Bevölkerung", sondern den Sturz des libyschen Regimes zum Ziel gehabt.

Dies wird durch drei Umstände belegt:
  1. Frankreichs Präsident Sarkozy gab bereits am 9. März im französischen Fernsehen als Ziel den Sturz Gaddafis vor. Die diesem Ansinnen zugrunde liegenden Behauptungen, Gaddafis Luftwaffe würde friedliche Demonstranten bombardieren, konnten bisher ebenso wenig bestätigt werden wie Meldungen über angebliche andere Gräueltaten Gaddafis im Februar/März. Solche Gerüchte zur Grundlage einer Entscheidung über Krieg oder Frieden zu nehmen, ist ein Skandal. Dass sich daran auch der UN-Sicherheitsrat beteiligt hat, gehört zu den Tiefpunkten der Diplomatie der Vereinten Nationen. Fakt ist hingegen: Erst nach Eintritt der NATO zur Unterstützung der libyschen Rebellen eskalierte das Kampfgeschehen zu einem regelrechten Bürgerkrieg. Bei NATO-Eintritt in den Krieg wurden 1.000 Getötete geschätzt, danach ist die Zahl auf über 50.000 Kriegstote angewachsen. Die Zerstörung der Städte ist außerdem immens. Wenn die NATO behauptet, bei ihren über 10.000 Luft- und Raketenangriffen wären keine Zivilpersonen beschädigt worden, ist das eine dreiste Lüge.
  2. Die UN-Resolution 1973 vom 17. März 2011 forderte neben einer "Flugverbotszone" und dem "Schutz der Zivilbevölkerung" auch einen Waffenstillstand. Eine Ermächtigung zum "Regime Change" oder zur Tötung Gaddafis enthielt sie nicht. Vielfältige Angebote zum Waffenstillstand, für Verhandlungen und Vermittlungen wurden von den Rebellen und der NATO entweder ignoriert oder abgewiesen. Denn es ging ihnen nicht um ein Ende der Kämpfe und des Blutvergießens. Das Ziel lautete: "Regime Change", Beseitigung des ungeliebten Gaddafi-Systems. Damit aber hat die NATO die UN-Resolution gebrochen und gegen das Völkerrecht verstoßen.
  3. Der Bombenangriff von NATO-Kampfflugzeugen auf den Fahrzeugkonvoi des flüchtenden Gaddafis am Stadtrand von Sirte nahm dessen Tod bewusst in Kauf. Aber auch diese Tötungsabsicht entbehrt nicht einer gewissen Logik, entledigt man sich dadurch doch eines Zeugen früherer Kumpaneien. Was hätte ein lebender Gaddafi bei einem ordentlichen Gerichtsverfahren (z.B. in Den Haag) nicht alles an peinlichen Waffen- und Ölgeschäften und anderen Abmachungen ans Licht bringen können! Daher die absichtsvolle Tötung, vulgo: Ermordung Gaddafis. Die NATO betätigt sich als Ermittler, Richter und Henker in einem. Mit Rechtsstaatlichkeit hat das nichts zu tun.
Aus diesem Grund kann sich der Bundesausschuss Friedensratschlag auch nicht den Lobeshymnen über die "siegreiche" NATO anschließen. Die unverhohlene Freude über den Tod des libyschen Machthabers Gaddafi zeugt von einem gebrochenen Verhältnis zum Recht auf Leben.

Die Lehre aus dem Libyen-Krieg kann für die Friedensbewegung nur lauten: Die NATO agiert im Auftrag einiger Führungsmächte als aggressiver Militärpakt. Zur Durchsetzung seiner Ziele geht er notfalls auch über Leichen. Die NATO muss gestoppt werden. Sie gehört abgerüstet und aufgelöst. Die Welt braucht keine Kriegsbündnisse, sondern Friedensallianzen.

Für den Bundesausschuss Friedensratschlag:
Peter Strutynski (Kassel)
Lühr Henken (Berlin)


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Flüchtlinge in Deutschland aufnehmen

IPPNW-Presseinformation vom 21.10.2011

In den Reaktionen auf die mutmaßliche Hinrichtung von Muammar al-Gaddafi und weiterer Mitglieder seines Führungszirkels zeigt sich einmal mehr die Brutalität des Krieges und die Gleichgültigkeit der internationalen Gemeinschaft in Bezug auf extralegale Hinrichtungen. „Doch Selbstjustiz und Killerkommandos untergraben die Pfeiler humanitärer Werte, in deren Namen die westlichen Aliierten vorgeben, Kriege zu führen“, erklärt der IPPNW-Vorsitzende Matthias Jochheim.

Im Namen humanitärer Werte appellieren wir an unsere deutsche Bundesregierung, jetzt schnell den Flüchtlingen und MigrantInnen an der tunesisch-libyschen Grenze zu helfen. In Choucha warten etwa 8.000 Menschen seit Monaten unter unerträglichen Bedingungen in dem Lager des UN-Flüchtlingskommissariats (UNHCR). Es ist beschämend, dass sich nur sieben EU-Mitgliedsländer bereit erklärt haben, Flüchtlinge aufzunehmen. Deutschland ist bisher nicht darunter. Zum Vergleich: Tunesien hat etwa 500.000 Libyenflüchtlinge aufgenommen.

In dem durch den Krieg zerstörten Land werden viele Menschen noch lange auf medizinische und humanitäre Hilfe angewiesen sein. Große Teile der Bevölkerung sind durch die Erlebnisse unter Diktatur und Krieg traumatisiert. „Langfristig ist es daher wichtig, dass den erlittenen massiven Traumata nicht noch weitere hinzugefügt werden. Nur so kann sich in Libyen eine auf Dauer friedliche Gesellschaft entwickeln“, so Jochheim abschließend.

Die IPPNW unterstützt bundesweiten Kampagne „Save me – Flüchtlinge aufnehmen“ , um die Aufnahme von Flüchtlingen im Rahmen von UNHCR-Resettlement-Programmen zu erwirken sowie die Aktion „Schiffe der Solidarität“. Weitere Informationen unter http://www.save-me-kampagne.de/


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Behind the gloating over Gadaffi's death the western powers remain mired in endless war

By Lindsey German, Stop the War Coalition

The reported killing of Muammar Gadaffi in Sirte today will mark a new round of celebration by western governments over their intervention in Libya.

As with the capture of Saddam Hussein in Iraq and the killing of Osama bin Laden in Pakistan, it will be described as a turning point and a further victory in the seemingly endless 'war on terror'.

There is little reason for the triumphalism which Hillary Clinton displayed so graphically on her visit to Tripoli yesterday. Nato’s war on Libya was not a ‘humanitarian intervention’ but a war for regime change -- illegal under international law. It was not about helping the people of Libya or about protecting civilians -- many civilians have been killed through Nato attacks.

It was about the western powers attempting to regain control of the region in the face of the Arab uprisings across the Middle East.

Yet despite its overthrow of the regime in Libya imperialism faces many problems in the region. In Libya itself it is already clear that there are many divisions between the different elements in the new government, and not at all clear that a stable regime will emerge. Even if it does, the ordinary people of Libya will see their interests subjugated to the oil companies and other western business, backed up by Nato, which has no intention of vacating the scene.

The consequences of the war on terror elsewhere are not outbreaks of peace and democracy but rather a spreading of the war.

Afghanistan, ten years on, has just experienced its bloodiest two years of war. Iraq remains a society destroyed by war and occupation. Somalia remains war torn with Kenyan troops recently crossing the border. Pakistan suffers drone attacks which have killed thousands. The Israeli oppression of the Palestinians continues. There are threats of intervention over Syria.

The recent alleged plot against the Saudi ambassador to Washington was blamed on sections of the Iranian government and Saudi and Israel are both urging attacks on Iran.

Far from the west conquering all, it is deep in the mire of war. The gloating over Gadaffi should not become an excuse for further interventions that will only spread the carnage further.

20 October 2011


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Die neue Tötungskultur

Erklärung von pax christi-Österreich

Verwackelte Bilder zeigen, wie Gaddafi halbnackt, angeschossen, blutüberströmt und fast bewusstlos von einer johlenden Menge bewaffneter Rebellen durch die Straßen von Sirte gezerrt wurde, bevor er endgültig hingerichtet wurde. Er soll noch um Gnade gefleht haben und ein „Allahu akbar“ war in diesem Gejohle und Geschreie zu vernehmen.

Der Exekution vorangegangen waren wochenlange Bombardements von Sirte durch NATO-Kampfflugzeuge –Hunderte Menschen starben, verbluteten, wurden verstümmelt. Krankenhäuser und andere zivile Einrichtungen wurden getroffen und unter dem Schutz der westlichen Mächte konnten die so genannten Rebellen und neuen Machthaber mit ihren modernen Maschinengewehren aus europäischer Produktion Menschenrechtsverletzungen begehen.

Wir leben in einer neuen Zeit der Faustrache. Obama, Sarkozy und Cameron drücken ihre Zufriedenheit über die Ermordung von Gaddafi aus. US-Militärs töten Osama bin Laden und schicken ihren Drohnen, um weitere Terroristen zu töten. „Erfolg für die Kräfte des Friedens“, nannte es im Mai 2011 die deutsche Bundeskanzlerin. Wir haben uns an den Paradigmenwechsel in der internationalen Politik gewöhnt und rüsten unsere Armeen zu Angriffsarmeen um. Vor 10 Jahren begann die Shoot-and-Kill-Strategie in Afghanistan. Krieg, Mord und Vertreibung gelten als legitimes Mittel der Politik.

Dagegen gilt: Wer Unrecht begeht, muss vor ein Gericht gestellt werden, sein Fehlverhalten muss aufgezeigt und bestraft werden. Dies wäre bei Osama bin Laden wie Gaddafi möglich gewesen. Wer sich auf Demokratie und Menschenrechte beruft, darf seine Politik nicht auf Tötungsstrategien aufbauen. Nie kann die Ermordung von Menschen mit dem Verweis auf Menschenrechte legitimiert werden – dies ist ein Widerspruch in sich. Vielleicht, so kann daher angenommen werden, sind die Triebfedern für die neue Tötungskultur aber auch nicht die Forderung nach Menschenrechten, sondern geostrategische Interessen verbunden mit der Gier nach Energieressourcen.

Der Blick etwas südlicher von Libyen hätte gezeigt, wie ein diktatorisches Regime auch ohne Waffengewalt gestürzt werden kann. Der Friedensnobelpreis an Ellen Johnson Sirleave und Leymah Gbowee macht uns darauf aufmerksam. Ein Charles Taylor war gewiss um vieles brutaler als ein Gaddafi. Die Friedensfrauen von Liberia hatten es ohne Waffengewalt geschafft, einen Bürgerkrieg zu beenden und Charles Taylor und sein Regime zum Abdanken zu zwingen. Auf den Krieg folgte der Frieden, auf die Diktatur folgte Demokratie. Die Friedensfrauen wurden dabei von den benachbarten Staaten und der internationalen Gemeinschaft unterstützt, den Weg zum Frieden auf dem Verhandlungsweg zu suchen. Es wäre auch für Libyen möglich gewesen. Es war auch der Wunsch vieler afrikanischer Staaten. Es passte jedoch nicht zur Kill-Mission, die seit dem März 2011 in Libyen herrschte.

Mitgliedsorganisationen von Pax Christi International haben seit Beginn der Militärintervention immer wieder friedliche Konfliktlösungswege eingemahnt. Krieg kann aus friedensethischer Sicht niemals ein Mittel der Politik sein und die unbedingte Würde menschlichen Lebens gilt selbst den Feinden.

Innsbruck 24.10.2011


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