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NATO stürmt Tripolis

Lage in Libyen dennoch unklar. Intervention der westlichen Militärallianz entscheidend für Vormarsch der Rebellen

Von Karin Leukefeld *

Die Lage in der libyschen Hauptstadt Tripolis war auch am Montag (22. Aug.) weiter unübersichtlich und »nicht stabil«, wie ein Kämpfer der Aufständischen von der Nachrichtenagentur Reuters zitiert wurde. Überall werde geschossen, und niemand wisse derzeit, wo sich Staatschef Muammar Al-Ghaddafi aufhalte, sagte auch der Vorsitzende des »Übergangsrates« der Rebellen, Mustafa Mohammed Abdul Dschalil, in Bengasi. Drei Söhne Ghaddafis sollen festgenommen worden sein, hieß es im arabischen Fernsehsender Al- Dschasira. Der libysche Ministerpräsident Al Baghdadi Ali Al-Mahmudi habe sich auf die tunesische Insel Dscherba abgesetzt.

Die in Tripolis ausharrende unabhängige Journalistin und Bloggerin Lizzie Phelan äußerte derweil im russischen Nachrichtensender Russia Today die Vermutung, daß es möglicherweise ein strategischer Schachzug der libyschen Truppen gewesen sei, die Rebellen in die Stadt zu lassen. Diese befänden sich in einem begrenzten Gebiet, während die libyschen Truppen weiterhin die Stadt kontrollierten. Aus dem von ausländischen Journalisten genutzten Hotel Ritsos in Tripolis sind alle Sicherheitsleute und Angestellten verschwunden, berichteten mehrere Reporter dem russischen Sender. Scharfschützen der Rebellen hätten das Hotel umstellt, die Situation sei sehr angespannt. Plünderer seien durch das Hotel gezogen.

Mahdi Nazemroaya vom kanadischen Zentrum für die Untersuchung der Globalisierung (Globalresearch) erklärte, die NATO habe militärische und zivile Infrastruktur bombardiert, um den Rebellen den Weg freizuschießen. Die NATO-Führer müßten deshalb »als Kriegsverbrecher für den Mord an Zivilisten zur Verantwortung gezogen werden«, forderte Nazemroaya. Nach den massiven NATO-Luftangriffen am Wochenende hatte Regierungssprecher Moussa Ibrahim die Zahl der Toten am Sonntag abend mit mindestens 1 300 angegeben. Tausende seien zum Teil schwer verletzt worden.

Seit März hatte das westliche Militärbündnis die Aufständischen mit Tausenden Einsätzen seiner Kampfjets unterstützt. Die Rückendeckung der NATO sei ein »ganz wichtiger Beitrag für den Erfolg der Rebellion « gewesen, bestätigte auch Henning Riecke, Sicherheitsexperte der Deutschen Gesellschaft für Auswärtige Politik (DGAP). Die New York Times berichtete am Wochenende, bewaffnete Predator-Drohnen hätten Einheiten der Regierungstruppen aufgespürt, verfolgt und auf sie gefeuert. Spezialkräfte aus Großbritannien, Frankreich und anderen Ländern hätten die Kämpfer der Rebellen ausgebildet und bewaffnet. In fünf Monaten hat die NATO nach eigenen Angaben insgesamt 19 877 Einsätze gegen das nordafrikanische Land geflogen. Das Einrücken der Rebellen in Tripolis am Wochenende unterstützten NATO-Kampfflugzeuge demnach mit 126 Einsätzen. Dabei berief sich die NATO bis zuletzt auf die Resolutionen 1970 und 1973 des UN-Sicherheitsrates. Diese sahen vor, zum Schutz der Zivilbevölkerung vor Angriffen eine Flugverbotszone über Libyen und ein Waffenembargo durchzusetzen. Dieses wird mit 15 Schiffen im Mittelmeer überwacht, hinderte aber weder Katar noch Frankreich, Waffen für die Rebellen nach Libyen zu schaffen. Als Sieger des Krieges sehen sich bereits die internationalen Multis. »Aussicht auf Ghaddafi-Sturz macht Ölkonzernen Hoffnung«, überschrieb die Nachrichtenagentur Reuters am Montag nachmittag einen entsprechenden Bericht.

* Aus: junge Welt, 23. August 2011


Deutschland steht mal wieder bereit

Dabeisein ist jetzt alles – zur Not auch mit der Bundeswehr

Von René Heilig **


Die Menschen in Libyen könnten beim Wiederaufbau »auf die Unterstützung Deutschlands zählen«, sagt die Regierung. Wer Konkretes erfahren will, trifft bislang auf konfuses Gerede.

Entwicklungshilfe? Nein! Der zuständige Minister Dirk Niebel (FDP) winkt ab. Libyen ist reich. Sieben Millionen Euro als Nothilfe müssen reichen. Sein Parteifreund Guido Westerwelle hat dagegen einen Kredit von 100 Millionen Euro an den nationalen Übergangsrat in Libyen »genehmigt«. Als Sicherheit dienten eingefrorene »Gaddafi-Gelder«. Allein in Deutschland sind das über sieben Milliarden Euro. Und weiter verkündete der deutsche Außenminister im Siegesrausch der Rebellen: Es ist offensichtlich, dass das libysche Volk »eine demokratische, freiheitliche und friedliche Zukunft will. Wir werden helfen, dass die Zeit nach Gaddafi gelingt, dass das Land eine gute, sichere und wirtschaftlich vernünftige Entwicklung nimmt. Dazu stehen wir bereit.«

Man darf es Westerwelle – wie der ganzen Regierung – nachsehen, dass Aussagen zur bilateralen Zukunft im Moment noch vage sind. Denn es ist nicht klar, wer im Nach-Gaddafi-Libyen welche Macht hat und sie mit wem wie teilen muss. Umso gefährlicher sind Aussagen zum Einsatz von Bundeswehr-Einheiten jenseits des Mittelmeeres. Westerwelle kann ihn sich vorstellen, Verteidigungsminister Thomas de Maizière (CDU) mäßigt sich ein wenig: »Wenn es Anfragen an die Bundeswehr gibt, werden wir das konstruktiv prüfen.«

Das Szenario ausgedehnter bewaffneter Kämpfe zwischen den Rebellengruppierungen, die sich nur in der Frage »Gaddafi-Sturz« einig waren, ist nicht unwahrscheinlich. Es sind viele Waffen im Volke. Und so könnte sich die NATO, die den Wechsel herbeigebombt hat, gefordert fühlen, zum »Stabilisierungseinsatz« zu blasen.

Kaum denkbar, dass sich Deutschland noch einmal »drücken« will. Denn es geht um wirtschaftlichen und politischen Einfluss. Libyen war bislang viertgrößter Öl-Exporteur Richtung Deutschland. Man arbeitete auf dem Gebiet der »Sicherheit« zusammen, »meisterte« gemeinsam das sogenannte Flüchtlingsproblem.

Im Gegensatz zu Frankreich, Großbritannien und Italien kann sich Deutschland nicht damit brüsten, den Rebellen den Weg frei gebombt zu haben. Die Verbündeten werden im Gegenteil daran erinnern, dass Deutschland sich im UN-Sicherheitsrat bei der Abstimmung über die Libyen-Umsturzhilfe der Stimme enthalten hat. Die bescheidene deutsche Hilfe bei der Zielauswahl in NATO-Stäben lässt sich nur mäßig in einen wesentlichen Beitrag zur »Befreiung des libyschen Volkes« ummünzen.

Auch deshalb will man nun tatkräftiger unter der NATO-Flagge mitsegeln. De Maizière hat sich für eine stärkere Zusammenarbeit Deutschlands mit den Bündnispartnern ausgesprochen: »Es gibt in Zukunft in keiner Weise mehr einen deutschen Sonderweg, weder in der EU noch neben anderen Bündnispartnern.«

Innenpolitisch wird Schwarz-Gelb vorsichtiger agieren müssen. Denn die Koalition ist – wie einst Rot-Grün im Falle des Irak-Krieges – bei einer »Lebenslüge« erwischt worden. Den Begriff prägte der damalige Oppositionspolitiker Westerwelle. Nun benutzten er und die anderen Kabinettsmitglieder dieselbe illegale Methode.

Es geht nicht nur um die deutschen Zielzuweiser in NATO-Staben sowie die Sicherung des Nachschubs. Bereits als es um die Operation »Pegasus« zur Evakuierung von EU-Bürgern aus Libyen im Februar ging, an der Schiffe, Flugzeuge und 1000 Soldaten beteiligt waren, ignorierte die Regierung die Rechte des Parlaments. Nicht einmal nachträglich ließ man den bewaffneten Auslandseinsatz mandatieren.

»Der Einsatz deutscher Soldaten in dem NATO-Stab in Italien ist rechtlich einwandfrei und liegt auf der Linie der Entscheidungen des Bundesverfassungsgerichts«, behauptet de Maizière. »Andernfalls müssten wir aus der NATO austreten, wenn wir in integrierten Stäben nicht mehr mitarbeiten könnten.«

Obwohl die deutsche Regierung selbst das Recht derart beugt, wird sie jederzeit bereit stehen, um den neuen libyschen Herren Entwicklungshilfe in Sachen Demokratie zukommen zu lassen.

** Aus: Neues Deutschland, 23. August 2011


"Modell Kosovo" wiederholt

NATO bombte als US-Subunternehmer

René Heilig ***


Zumindest die eigene Buchhaltung klappt. So hat die NATO angeblich zur Erfüllung der UN-Resolutionen Nr. 1970 und 1973 seit dem 31. März 19 877 Flüge – darunter 7505 mit Waffeneinsatz – addiert. Über Bodentruppen, die als Aufklärer, Zielzuweiser und Ausbilder in Libyen operieren, erfährt man nichts. Und auch die Anzahl der ausgeklinkten Bomben sowie die der verschossenen Raketen bleibt geheim. Gar nicht bilanziert wurde die Anzahl der Opfer. Stattdessen listet man auf, dass vor der libyschen Küste 15 NATO-Kriegsschiffe patrouillieren und bislang 2290 Dampfer überprüft haben.

So scheint es, als sei die Strategie der NATO aufgegangen. Man führte Krieg aus sicherem Abstand, die bodenständige Drecksarbeit überließ man anderen, denen man undifferenziert und propagandistisch überhöht den Status von freiheitsliebenden Rebellen zuerkannte. Dass für deren Nachschub kein Embargo galt, konnte jeder in den TV-Nachrichten sehen.

Der Krieg gegen das Gaddafi-Regime dauerte über fünf Monate und damit doppelt so lang wie der NATO-Einsatz gegen Jugoslawien 1999. Die Methode des Kriegführens ist vergleichbar. Damals hatten unter dem Schutz der NATO-Bomber UCK-Rebellen die Macht in der serbischen Provinz Kosovo übernommen.

Demnächst wird man in den NATO-Stäben wieder Bilanz ziehen. Die fällt für die militärischen »Subunternehmer« der USA so positiv nicht aus. Ohne die Anfangshilfe der USA wären die Hauptkriegsnationen Frankreich, Großbritannien, Kanada und Italien nicht in der Lage gewesen, den Kampf gegen Gaddafis Streitmacht entsprechend zu führen.

Seit dem 19. März wird Libyen zerbombt. Waffenstillstandsangebote Gaddafis sowie Vermittlungsangebote der Afrikanischen Union und Venezuelas wurden von der NATO im Verein mit den Rebellen umgehend abgelehnt. Gleich zu Beginn warfen drei US-Tarnkappenbomber 45 »intelligente« Bomben ab. US-Kriegsschiffe griffen mit 124 »Tomahawk« an. Allein der erste Angriffstag habe die USA über 100 Millionen Dollar gekostet, sagen US-Kongressmitglieder. Dass die Kosten das Vermögen kleiner NATO-Staaten wie Dänemark oder Norwegen überstiegen, zeigte sich bald. Ihnen ging der Nachschub aus. Andere Bündnismitglieder halfen aus. Auch Deutschland signalisierte Bereitschaft, die Depots zu öffnen.

Der Bundesausschuss Friedensratschlag kommt zu der Einschätzung, dass »die UNO der eigentliche Verlierer dieses Krieges« ist. Sie habe zugelassen, dass die NATO ein Land überfällt und dessen Regime wegbombt. »Auf der Strecke bleiben die in der UNO-Charta verankerten Prinzipien des Gewaltverbots (Art. 2,4), der territorialen Integrität und staatlichen Souveränität (Art.2,2) und der Nichteinmischung in die inneren Angelegenheiten der Staaten (Art. 2,7).« Unter Berufung auf eine besondere »Schutzverantwortung (Responsibility to Protect) hat der UN-Sicherheitsrat das Geschäft der NATO besorgt und das Völkerrecht weiter ausgehöhlt«.

*** Aus: Neues Deutschland, 23. August 2011


Sieger und Verlierer

Von Roland Etzel ****

Jubeltänze in Bengasi und nun auch schon in Tripolis, die Libyer in Deutschland feiern angeblich auch. Nach medialer Wahrnehmung gibt es praktisch – seine bis zum Schluss Getreuen eingerechnet – nur einen Verlierer. Und der, taxiert man ihn allein nach den Titeln und Prädikaten, mit denen ihn die Medien weithin versehen, müsste zu den übelsten Existenzen zählen, die derzeit in der Welt vorkommen.

Wäre es so, es wäre hinnehmbar. Aber da ist einiges, was den Triumph der »Guten« nicht ganz so unbefleckt erscheinen lässt. Die siegestrunkenen Rebellenführer haben dem, den sie jetzt Tyrannen nennen, viel länger in allerhöchsten Ämtern gedient, als sie jetzt Opposition sind. Und ob sie tatsächlich die Mehrheit der Libyer hinter sich haben und wie viele sich demnach wirklich als Verlierer fühlen, wird man schwer erfahren. Anders als in Tunesien und Ägypten hat der Westen es in Tripolis nicht bei sanften Überredungsversuchen belassen. Erstens ging es in Libyen um mehr (öl), und zweitens war und ist Gaddafi in Paris und Washington nicht erpressbar.

Die von Gaddafi schon in ziemlicher Bedrängnis angebotenen freien Wahlen – selbst unter NATO-Aufsicht – wurden mit dem Segen der NATO von den Rebellen vorsichtshalber abgelehnt. Man hat bis jetzt 20 000 Lufteinsätze für entschieden sicherer gehalten als Wahlzettel – selbst wenn offenbar alle Gaddafi hassen.

* Aus: Neues Deutschland, 23. August 2011 (Kommentar)


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