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Gaddafis Sturz - Niederlage der UNO

Pressemitteilung des Bundesausschusses Friedensratschlag


Freude über Ende der Kämpfe
Keine Freude über Sieg der NATO
Sorge um Zukunft der UNO


Kassel, Berlin, 22. August 2011 - Zur voraussichtlichen Übernahme der Regierungsgewalt in Libyen durch Rebellenverbände erklärten die Sprecher des Bundesausschusses Friedensratschlag, Lühr Henken und Peter Strutynski, in einer ersten Stellungnahme:

Sollten die libyschen Rebellenorganisationen nun auch in der Hauptstadt Tripolis die Kontrolle und Macht übernehmen oder bereits übernommen haben, so ist zu hoffen, dass die Kämpfe auch schnellstens beendet werden. Große Sorge besteht hinsichtlich drohender Rache- und Vergeltungsakte der "Sieger" über die Anhänger des gestürzten Machthabers Gaddafi. Der Krieg hat bisher schon zu vielen Menschen - auf allen Seiten - das Leben gekostet, Hunderttausende zur Flucht getrieben, große Teile der Infrastruktur des Landes zerstört.

Meldungen, wonach "die Rebellen" über das Gaddafi-Regime gesiegt hätten, entbehren jeglicher Grundlage. Es war die NATO, die das militärisch nicht eben starke Land sturmreif geschossen hat. Vom 31. März bis zum 21. August hat die NATO 19.751 Einsätze geflogen; wie viele Angriffe bereits vorher von Seiten Frankreichs, Großbritanniens und der USA geflogen wurden (sie begannen ihren Krieg bereits am 19. März) ist nicht bekannt. Der Krieg gegen das Regime Gaddafi hat über fünf Monate gedauert, doppelt so lang wie der NATO Krieg gegen Jugoslawien im Frühjahr 1999. Damals hatten unter dem Schutz der NATO-Bomber die UCK-Kämpfer die Gewalt über die serbische Provinz Kosovo errungen.

Freude über den militärischen Sieg der NATO kann in den Reihen der Friedensbewegung nicht aufkommen. Dazu sind den Bombenangriffen der NATO eine zu große Zahl von Zivilpersonen zum Opfer gefallen, Häuser, Schulen, Rundfunkstationen und andere Infrastruktureinrichtungen zerstört worden. Noch vor wenigen Tagen starben bei NATO-Angriffen auf das Dorf Majer 85 Bewohner, darunter Frauen und Kinder. Wie in solchen Fällen üblich erklärte ein Sprecher der NATO, das bombardierte Dorf stellte "einen militärischen Sammelplatz" dar und die NATO habe "zur Stunde keine Beweise für irgendwelche zivilen Opfer". Am 8. August hat die UNESCO sich darüber beschwert, dass bei einem Luftangriff auf eine Übertragungsanstalt des libyschen Fernsehens drei Medienmitarbeiter getötet und 21 Menschen verletzt wurden. Gewalt gegen Journalisten und Medienmitarbeiter verstoßen gegen internationales Recht, insbesondere gegen die Resolution des UN-Sicherheitsrats 1738 (2006). Doch auch darin hat die NATO Erfahrung: Im Jugoslawienkrieg 1999 wurde die Rundfunk- und Fernsehanstalt in Belgrad bombardiert. Da die NATO keinerlei Angaben über Opfer auf libyscher Seite macht, dringen nur sporadisch Meldungen über sog. "Kollateralschäden" unter der Zivilbevölkerung durch. Bekannt wurde z.B. der Fall eines Familienvaters, der am 20. Juni seine Angehörigen bei einem NATO-Luftangriffe auf die libysche Stadt Sorman verloren hatte und eine Klage gegen die NATO einreichte. Bei dem Angriff auf das Wohnhaus waren insgesamt 15 Menschen getötet worden. Mitte Juli hatte die libysche Regierung die bis dahin getöteten Zivilpersonen auf 1.108 beziffert.

Der Krieg der NATO zielte von Anfang an auf den Sturz des libyschen Machthabers Gaddafi. Der "Schutz der Zivilbevölkerung" war lediglich ein Vorwand, diesen Krieg zu führen. In Wahrheit ging und geht es der "westlichen Wertegemeinschaft" um materielle und strategische Ziele:
  1. Eine neue, neoliberal ausgerichtete libysche Regierung befreit die westlichen Erdöl- und Erdgaskonzerne von den Verträgen mit Gaddafi, die dem Regime durchschnittlich 89 Prozent der Einnahmen zuführten.
  2. Eine neue Regierung der "Rebellen", die in der Schuld ihrer westlichen Schutzmächte steht, eröffnet multinationalen Wasserkonzernen die Möglichkeit, sich an der Vermarktung des noch in Staatsbesitz befindlichen Nubischen Aquifer zu beteiligen. Dieses größte Frischwasserreservoir der Welt unter der libyschen Wüste ermöglicht die komplette Wasserversorgung des Landes mit einer Reichweite von ca. 5.000 Jahren. Der Wert des Wassers liegt beim Fünffachen des Werts des Erdöls und Erdgases.
  3. Mit der Beseitigung Gaddafis verschwindet ein wichtiger Motor der afrikanischen Einigung, die auf eine ökonomische Selbständigkeit des schwarzen Kontinents abzielt - unabhängig vom internationalen Währungsfonds und den Petrodollars.
  4. Darüber hinaus könnte eine westlich orientierte neue libysche Regierung helfen, den Einfluss Chinas in Afrika zurück zu drängen. China investiert in Libyen mehr als in den anderen afrikanischen Staaten. Der Westen sieht in der chinesischen Konkurrenz eine Bedrohung des eigenen Einflusses und der Profitquellen westlicher Konzerne.
  5. Eine prowestliche Regierung in Libyen eröffnet für Großbritannien und die USA die Möglichkeit, wieder – wie unter der Herrschaft des libyschen Königs vor 1969 – Militärstützpunkte einzurichten.
Die Kriegshandlungen gegen Libyen waren ursprünglich vom UN-Sicherheitsrat mandatiert worden (Resolution 1973 vom 17. März). Die Resolution ermächtigte jeden Staat, der will, zum "Schutz der Zivilbevölkerung" alle militärischen Mittel einzusetzen und jeglichen Flugverkehr gewaltsam zu unterbinden – und forderte eine "sofortige Waffenruhe". Der NATO-Einsatz hat binnen kürzester Zeit diese Absichten in das Gegenteil verkehrt: Die Eroberung des Luftraums wurde genutzt, um das Land aus der Luft zu bombardieren; geschützt wurden ausschließlich die Verbände der Rebellen und die von ihnen eingenommenen Städte; und jedes Waffenstillstandsangebot Gaddafis sowie die Vermittlungsangebote der Afrikanischen Union oder Venezuelas wurden von NATO und Rebellen postwendend abgelehnt.

Somit ist die UNO der eigentliche Verlierer dieses Krieges. Sie hat zugelassen, dass die NATO ein Land überfällt und dessen Regime wegbombt. Auf der Strecke bleiben die in der UNO-Charta verankerten Prinzipien des Gewaltverbots (Art. 2,4), der territorialen Integrität und staatlichen Souveränität (Art.2,2) und der Nichteinmischung in die inneren Angelegenheiten der Staaten (Art. 2,7). Unter Berufung auf eine besondere "Schutzverantwortung" ("Responsibility to Protect") hat der UN-Sicherheitsrat das Geschäft der NATO besorgt und das Völkerrecht weiter ausgehöhlt.

Aus all diesen Gründen weigert sich der Bundesausschuss Friedensratschlag, in die Jubelchöre des Westens über den entmachteten Despoten Gaddafi einzustimmen. Der Preis, den das libysche Volk zahlen musste, ist hierfür zu hoch. Und das beschädigte Völkerrecht wird nur schwer zu reparieren sein.

Für die weitere Entwicklung ist zu hoffen, dass
  1. die Kämpfe sofort und endgültig eingestellt werden,
  2. neutrale Blauhelme der Afrikanischen Union ins Land gelassen werden, die über eine Waffenruhe wachen sollen, und
  3. das libysche Volk als Ganzes demokratisch über seine eigene Zukunft entscheiden kann.
Für den Bundesausschuss Friedensratschlag:
Lühr Henken, Berlin
Peter Strutynski, Kassel

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LIBYA AFTER GADAFFI: STATEMENT BY STOP THE WAR COALITION

London, 22 august 2011

The fall of the Gadaffi regime in Libya marks yet another turning point in what has been a truly remarkable year in the Middle East. The victory of the rebels, backed by Nato bombing in a six month campaign initiated by the British and French governments, also heralds the rehabilitation of a discredited doctrine -- that of 'humanitarian intervention' -- after the debacle of Iraq and Afghanistan.

The defeat of Gadaffi is now being used to justify military action on the grounds that it has helped the Arab revolutions. David Cameron declared outside Downing Street 22 August 2011, 'This has not been our revolution, but we can be proud that we have played our part.'

The hypocrisy of Cameron is staggering, given the role of British and other western governments in backing up dictators and despots in the region -- only halted in some places by the actions of the Arab people themselves.

The Nato intervention has not been for idealistic values. It has been about regime change, so that a leader more acceptable to western governments and business could replace Gadaffi.

Right to the end, NATO was bent on a military victory and bringing the Transitional National Council (TNC) -- the Benghazi administration -- to power in Libya by force of arms. All proposals for talks to achieve a political solution – whether from within Libya or outside - have been brushed aside.

While many Libyans may welcome the outcome, and will be glad to see the back of Gadaffi, it has a number of negative aspects. From the international point of view, the most significant thing is that the government of another Arab state has been changed by external force applied by the big imperial powers. There is no real suggestion that the TNC could have come to power unaided. The NATO military intervention, stretching beyond breaking point the mandate given by the United Nations, has been decisive.

This will not be the end of the story. The experience of Iraq teaches that the overthrow of a regime under such circumstances by no means signifies the end of the war. Whether those who have supported Gadaffi will meekly accept the authority of a new government imposed under such circumstances is open to question.

Whatever happens, the deep divisions within Libyan society remain. Likewise, given that the TNC is an amalgam of forces, ranging from the democratic to the Islamist to leaders who are the direct employees of western interests, it may have neither the capacity to resolve existing differences nor the ability to prevent the emergence of new ones, within its own ranks.

David Cameron spelt out the close role Britain and the other western powers will expect to have in running Libya, and in how much detail they have been planned, including ‘stabilisation experts who have been planning for this moment…for months.’

Under these circumstances, the main demand must be an end to all forms of NATO interference in Libya – not just the end of the bombing, but the withdrawal of special forces and a halt to all forms of political interference. The only solution to the crisis in Libya will have to be a Libyan solution. Recent history, from Iraq to Afghanistan, teaches that too.

But beyond that, we must recognise the danger that even a passing 'success' in Libya may embolden the US, British and French governments to believe that the idea of 'liberal interventionism', discredited after Iraq, can be revived on a broader scale. Of course, however it ends the Libyan conflict has not gone as expected and none of the leaders of the aggression have dared introduce ground troops into the war. Nevertheless, the danger of extending the intervention to Syria as part of a programme to control and suppress the 'Arab Spring' is not inconceivable and must be mobilised against.

The old rulers will not be missed if and when they depart. The decisive issues – genuinely democratic and popular regimes across the Arab world, the exclusion of great power interference in the region and justice for the Palestinian people – remain in the balance and require our solidarity.

LINDSEY GERMAN, National Convenor, Stop the War Coalition
ANDREW MURRAY, National Chair, Stop the War Coalition



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