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Die Unsichtbaren

Im Libanon arbeiten Hunderttausende, nicht selten syrische Migranten im Niedriglohnsektor. Ihre Abhängigkeit geht bis in eine moderne Form von Leibeigenschaft

Von Thomas Eipeldauer, Beirut *

Zwei Frauen bewegen sich schnell und fast lautlos über den Balkon eines Appartements im Beiruter Innenstadtviertel Gemmayze. Sie tragen Dienstbekleidung: weiße Schürzen mit schwarzem Rand. Sie fegen den Balkon, schütteln die Teppiche aus, dann verschwinden sie aus dem Blickfeld. Die Frauen sind Hausmädchen, zwei von Hunderttausenden im Libanon. Läuft man am Wochenende die Einkaufsmeilen der Stadt entlang, sieht man die Bediensteten hinter flanierenden Familien laufen. Ihre Gesichter sehen traurig aus, sie sprechen so gut wie nie. Sie führen die Kinder ihrer Chefs an den Händen; lässt der Familienvater achtlos Müll fallen, heben sie ihn auf und werfen ihn in den Papierkorb.

Allein sieht man die zumeist aus Asien oder Afrika kommenden Frauen nicht. Sie sind unsichtbar, viele von ihnen werden von ihren »Arbeitgebern« im Haus eingeschlossen. Zwischen 200.000 und 250.000 migrantische Hausbedienstete gibt es im Libanon, eine ausgesprochen hohe Zahl, zieht man in Betracht, dass das Land nur 4,5 Millionen Einwohner hat. Eingebunden ist das Hauspersonal in ein sogenanntes Kafala-System, ähnlich dem, das in den Golfdiktaturen zur Beschäftigung von Arbeitssklaven genutzt wird.

Falsche Versprechungen

»Kafala« bezeichnet eine Form von »Patenschaft«, die bei der Anwerbung eines ausländischen Arbeiters greift. »Es gibt strukturelle Probleme in diesem System, die die gesamte Arbeitsbevölkerung in diesem Bereich zu Opfern von Ausbeutung machen«, erklärt Ghada Jabbour von der Menschenrechtsorganisation Kafa gegenüber junge Welt. Kafa arbeitet als feministische Organisation, die sich die Überwindung aller Arten von patriarchalen Ausbeutungsformen zum Ziel gesetzt hat, auch an Studien zum Kafala-System.

Dieses sei in seiner Gesamtheit hoch problematisch. Das beginne, so Jabbour, schon bei der Rekrutierung der Arbeiterinnen, die über private Agenturen in ihren jeweiligen Herkunftsländern angeworben werden. Die gesamte Vorgehensweise dabei lade geradezu zu Missbrauch und Rechtsverletzungen ein. Oft werden die zukünftigen Hausbediensteten nicht durch registrierte Agenturen angeworben, sondern über Mittelsmänner. »Sie werden mit falschen Versprechungen in den Libanon gelockt. Die meisten von ihnen wissen zwar, dass sie für Hausarbeitstätigkeiten kommen, aber ihnen wird ein völlig anderer Lohn versprochen. Sie werden auch über die Arbeitsbedingungen im Libanon falsch informiert. Ihnen wird nichts über das Kafala-System gesagt, auch nicht, dass sie nicht das Recht haben, das Haus zu verlassen oder den Arbeitgeber zu wechseln.«

Schon während des Prozesses der Anwerbung verschulden sich die angehenden Arbeiterinnen, denn sie haben »Rekrutierungsgebühren« zu zahlen. »Sie müssen zuerst diesen Betrag abarbeiten, bevor sie überhaupt etwas Geld verdienen. Und manchmal dauert das ein Jahr, ehe diese Ausstände beglichen sind«, erklärt Ghada Jabbour.

Das Kafala-System bindet einen Arbeiter an seinen »Arbeitgeber«, den Kafil. Dieser ist eine Art »Pate« für den Beschäftigten. Ohne den Paten, dessen Name auf der Aufenthaltsgenehmigung und auf der Arbeitsbewilligung steht, existiert die Arbeiterin im Libanon rechtlich gesehen gar nicht. Zudem konfiszieren die Patrone oft die Pässe der Bediensteten. Die Hausangestellten können nicht aus freien Stücken kündigen und sich einen anderen Job suchen. Die einzige Möglichkeit ist, dass der »Pate« sie an einen anderen weitergibt. »Diese Bindung an den Arbeitgeber vermindert die Rechte, die die Arbeiterin hat. Bei Missbrauch hat sie kaum Möglichkeiten, einfach zu gehen. Sobald sie das Haus eigenmächtig verlässt, wird sie eine ›Irreguläre‹, gegen die das gesamte System steht«, so die Kafa-Aktivistin Jabbour. Hausangestellte, die vor ihrem Kafil davonlaufen, werden oft verhaftet und zu ihrem Eigentümer zurückgebracht. Aber auch, wenn sie sich an die Behörden wenden, um Missbrauch oder Vertragsverletzungen anzuzeigen, rufen diese häufig den Patron an. Dazu kommen diverse Probleme, die aus dem prekären sozialen Status der migrantischen Arbeiterinnen resultieren. Es ist schwierig, vor Gericht zu ziehen, wenn man sich keinen Anwalt leisten kann. Außerdem verstehen viele weder Arabisch noch Französisch.

18 Stunden, sieben Tage die Woche

Der Rahmen, den das Kafala-System schafft, bringt eine Situation hervor, in der Übergriffe an der Tagesordnung sind. In einer Studie, die die Nichtregierungsorganisation Antislavery International zusammen mit Kafa durchgeführt hat, kommen die Hausangestellten selbst zu Wort. Sie erzählen von Zwangsverhältnissen bis hin zu physischen Angriffen durch ihre »Arbeitgeber«. »Ich hatte sehr viel Angst, aber ich hatte keine andere Möglichkeit, als am Arbeitsplatz zu bleiben«, berichtet etwa die 32jährige Nepalesin Maya. Sie war bei einer Großfamilie eingesetzt, die sie sowohl im Haus als auch in einem Laden einsetzte. »Ich musste 18 Stunden arbeiten, sieben Tage die Woche. Keiner von den Leute da hat mich unterstützt, und ich wurde bei vielen Gelegenheiten auf verschiedene Weise gefoltert.« Maya wurde körperlich angegriffen, geschlagen, eingeschlossen. An einem Tag, als es besonders schlimm war, schrie sie so laut, dass die Nachbarn kamen und den Kafil aufforderten, die Arbeiterin in Ruhe zu lassen.

Ähnlich erging es auch Amrita, die ebenfalls aus Nepal auf der Suche nach Arbeit in den Libanon gekommen war. »Ich habe nicht einmal genug Essen bekommen. Manchmal hatte ich nur Brot und Tee. Ich arbeitete den ganzen Tag, nur mit Brot und Tee. Eines Tages fragte ich nach meinem vollen Lohn (…) und sagte: ›Wenn Sie mir nicht meinen vollen Lohn geben, werde ich nicht mehr arbeiten.‹ Danach schlug mich die Hausherrin zusammen. Sie benutzte sogar Schuhe dabei.« Amrita hatte Wunden am ganzen Körper, ihr Arm war gebrochen. Aber erst zehn Tage später erlaubte ihr die Familie, ins Krankenhaus zu gehen. »Aber die Herrin sagte mir, wenn ein Doktor oder jemand anderes fragt, was mir zugestoßen sei, sollte ich nicht verraten, dass ich geschlagen wurde. Sie sagte mir, ich solle sagen, das sei passiert, als ich bei der Arbeit gestürzt bin.«

Einzelfälle sind das nicht. Genaue Zahlen zu Zwangsverhältnissen, Missbrauch und körperlicher Gewalt liegen zwar nicht vor. Aber Untersuchungen von Menschenrechtsorganisationen legen nahe, dass das Kafala-System derartige Rechtsverletzungen massenhaft hervorbringt. Mehrere Länder, darunter die Philippinen, Nepal und Äthiopien haben ihren Bürgern deshalb verboten, als Arbeitskräfte in den Libanon zu gehen. Konkret gab den Hintergrund für das nepalesische Arbeitsverbot eine Welle von Selbstmorden unter migrantischen Hausangestellten im Libanon 2009 ab. »Das Verbot (…) ist eine notwendige Notfallmaßnahme angesichts eines alarmierenden Anstiegs von Selbstmorden von Hausarbeitern im Libanon«, kommentierte damals Fatima Gomar von migrant-rights.org. »Es gibt ein wachsendes Verständnis bei asiatischen Regierungen, dass sie sich einschalten und ihre Bürger davon abhalten müssen, in Ländern zu arbeiten, wo ihre Rechte nicht geschützt werden.«[1]

»Das gesamte System ist falsch«

Weil die Arbeitsbedingungen so drückend sind, der Lohn so niedrig, die Gefahr von Missbrauch und Übergriffen so groß, regt sich seit langem Widerstand gegen das Kafala-System. Kafa tritt für seine völlige Abschaffung ein, viele andere NGO kritisieren es scharf. Seit Anfang 2015 versuchen auch die Arbeiterinnen und Arbeiter, sich zu organisieren. Und das trotz der offenkundigen Schwierigkeiten, die aus ihren prekären Beschäftigungsverhältnissen und dem Umstand entstehen, dass sie ja für Treffen kaum das Haus verlassen können, in das sie von ihrem Kafil eingeschlossen sind.

Etwa 200 zumeist weibliche Beschäftigte fanden sich bei der Gründungskonferenz der »General Union of Cleaning Workers and Social Care« am 25. Januar 2015 in Beirut ein, um erste Schritte in Richtung der Herstellung von Rechtssicherheit für ausländische Arbeitskräfte zu gehen.[2] Das libanesische Arbeitsministerium allerdings intervenierte sofort. Bereits einen Tag nach der Gründung bezeichnete es die neue Gewerkschaft als »illegal«; bis heute kam aus dem Arbeitsministerium keine Antwort auf das offizielle Ansuchen der Gründung einer Gewerkschaft. In einer von Human Rights Watch veröffentlichten Erklärung wandten sich die Arbeiterinnen kurz darauf in einer öffentlichen Erklärung an die Behörden in Beirut: »Anstatt den Vorschlag der Gewerkschaft zu verdammen, sollte (Arbeitsminister Sejaan; jW) Azzi seit langem gegebene Versprechen über den Schutz der Rechte von Hausarbeitern einlösen und den Missbrauch von migrantischen Hausarbeiterinnen bestrafen.« Mehr als 100 nationale und internationale NGO unterzeichneten die Erklärung, in der die Abschaffung des Kafala-Systems gefordert wird.[3]

Dass dieses trotz Druck fortbesteht, liegt an der immensen volkswirtschaftlichen Funktion, die die migrantischen Arbeiterinnen erfüllen. Schon die unglaublich hohe Zahl der über das Kafala-System Beschäftigten, weist darauf hin, dass es sich nicht nur um Oberschichtsfamilien handelt, die sich Hausbedienstete leisten. Das Phänomen ist bis weit in die Mittelschicht und sogar in die Arbeiterklasse hinein verbreitet. Das hat seinen Grund darin, dass die Funktionen, die von den Hausangestellten erfüllt werden, nicht durch öffentliche Dienste abgedeckt werden. Wenn es um Kindererziehung, Altenpflege oder um die Betreuung eines kranken Angehörigen geht, muss auf die Hausangestellten zurückgegriffen werden. »Das gesamte System hier ist falsch«, betont Ghada Jabbour. »Es sperrt die Arbeiterinnen in einen Käfig, aber auch diejenigen, von denen sie beschäftigt werden. Denn die sind durch die Gelder, die sie zur Anwerbung bezahlen, gebunden.« Auch Familien, die Arbeiterinnen über das Kafala-System beschäftigen, zahlen hohe Anwerbegebühren an die privaten Vermittlungsfirmen. Gerade bei Mittelstands- oder Arbeiterhaushalten, die sich Bedienstete halten, führt das dazu, dass sie sich gezwungen fühlen, die Arbeiterin unbedingt zu behalten.

Ein Kampf zur Abschaffung des Kafala-Systems müsste zugleich einer um die sozialstaatliche Bewältigung jener Aufgaben sein, die heute durch Arbeitsmigrantinnen verrichtet werden, und an denen vor allem die privaten Vermittlungsagenturen verdienen.

Syrische Arbeiter am Bau

Die über das Kafala-System angeworbenen Arbeitskräfte sind aber nicht die einzigen migrantischen Beschäftigten, die im Libanon nicht in das »normale« Arbeitsrecht fallen und verschärft ausgebeutet werden. Dasselbe gilt für Wanderarbeiter aus dem benachbarten Syrien, die zu Hunderttausenden im Niedriglohnbereich tätig sind – und zwar schon lange vor der durch den Krieg in Syrien verursachten humanitären Krise, also vor dem März 2011.

Die Geschichte syrischer Arbeiter im Libanon ist lang und wechselhaft. Viele, sowohl in Syrien wie im benachbarten Libanon, sahen die Grenze zwischen den beiden Ländern ohnehin als künstliches Produkt französischer Kolonialherrschaft an, insbesondere in Syrien sprach man traditionell von »einem Volk in zwei Staaten«. Insbesondere nach 1976, als syrische Truppen im Zuge des libanesischen Bürgerkrieges im Zedernland intervenierten, wurde es sehr leicht für syrische Arbeiter, in den Libanon zu kommen, um ihren Lebensunterhalt zu bestreiten. Etwa 200.000 waren es im Jahr 1992, drei Jahre später sogar 400.000.[4]

Der militärische und politische Druck Syriens war damals bestimmend, so dass ein Teil der libanesischen Gesellschaft die aus dem Nachbarland kommenden Arbeiter bis zum Abzug der syrischen Truppen im Jahr 1995 als von der Besatzungsmacht protegiert und privilegiert ansah. 2005 verkündete das syrische Militär seinen vollständigen Abzug; die Arbeiter aber blieben.

Heute stellen sie einen beträchtlichen Teil des Proletariats im Libanon. Hunderttausende migrantische Arbeiterinnen und Arbeiter sind im Land der Zedern tätig. Präzise Zahlen liegen nicht vor, da die überwiegende Mehrheit ohne formale Arbeitsgenehmigung, also illegal, beschäftigt ist. Es gibt Bereiche, in denen fast ausschließlich syrische Gastarbeiter tätig sind. Der Bausektor ist solch eine Domäne. Etwa 350.000 Syrer schuften hier, zumeist zu Löhnen, die weit unter dem libanesischen Mindestlohn liegen.

Diese Form der Ausbeutung ist lukrativ für die Bauherren, denn die Syrer können jederzeit entlassen werden und verfügen über keine Lobby im Land. Sie sind zudem starken Ressentiments ausgesetzt, die vor allem dann aufkommen, wenn allgemeinpolitische Ereignisse das Klima zwischen dem Libanon und Syrien verschlechtern. Als 2005 der damalige libanesische Premier Rafik Hariri ermordet wurde und Spekulationen über eine Beteiligung syrischer Dienste die Runde machten, wirkte sich das auf syrische Arbeiter aus. Sie wurden Opfer von gewalttätigen Übergriffen. Ähnlich verschlechterte sich die Lage im Frühsommer 2012, als elf libanesische Soldaten von syrischen Oppositionsgruppen im Grenzgebiet um Arsal entführt worden waren. Ein Aufruf des einflussreichen Hisbollah-Chefs Hassan Nasrallah, der sich gegen jedwede Attacken auf syrische Arbeiter aussprach, verhinderte schlimmere Lynchkampagnen. Dennoch wurden Migranten angegriffen und geschlagen.[5]

Ausbeutung von Flüchtlingen

Für die syrischen Wanderarbeiter, die bereits seit Zeiten vor der politischen Krise in ihrer Heimat im Nachbarland Libanon leben, verschärfen sich durch die humanitäre Katastrophe dort erneut die Arbeitsbedingungen. Denn nun stehen weitere, noch billigere Arbeitskräfte zur Verfügung, die noch verzweifelter und noch rechtloser sind. »Die meisten Analysen, die die ökonomischen Effekte der Vertreibung von Syrern diskutieren, haben einen zentralen Punkt vergessen: Diejenigen, die am meisten von Zuströmen großer Flüchtlingsmassen aus Syrien in den Libanon betroffen sind, sind die syrischen Arbeiter, die vor der Krise bereits hier waren«, schreibt die Journalistin Eva Shoufi in der linken Tageszeitung Al-Akhbar.[6]

Über eine Million Menschen aus Syrien befinden sich derzeit im Libanon auf der Flucht. Viele von ihnen suchen sich Jobs zum Überleben in jenen Branchen, in denen billige Arbeitskräfte gebraucht werden: in der Landwirtschaft, am Bau, bei Reinigungsdiensten. Dort führt die Anwesenheit einer großen Zahl von verzweifelten, armen Menschen, die um jeden Preis Geld verdienen müssen, zu einer Machtkonzentration bei lokalen Mittelsmännern, die den Flüchtlingen Jobs besorgen, und zum weiteren Sinken der ohnehin niedrigen Löhne.

Eine Studie der Internationalen Arbeitsorganisation (ILO) für das Jahr 2013 notiert für eine fünfköpfige syrische Flüchtlingsfamilie im Libanon einen durchschnittlichen Monatslohn von 418.000 Libanesischen Pfund (umgerechnet etwa 278 US-Dollar). »Das durchschnittliche Einkommen von syrischen Flüchtlingen ist signifikant niedriger als der libanesische Mindestlohn von 675.000 LBP (rund 449 Dollar; jW) und niedriger als die Armutsgrenze von 2007, die bei vier Dollar pro Person und Tag liegt.«[7] Zu verzeichnen seien zudem starke geschlechtsspezifische Unterschiede, weibliche Arbeitskraft werde bedeutend schlechter bezahlt.

Die ILO-Studie zeigt zudem, dass es vor allem körperlich anstrengende, ungesunde und gefährliche Tätigkeiten sind, in denen die Refugees zum Einsatz kommen. 60 Prozent sind Rauch oder Staub ausgesetzt, 17 von 100 Chemikalien, jeder Zweiundreißigste arbeitet mit gefährlichen Maschinen. Zusätzlich wird oft der Lohn nicht pünktlich ausbezahlt, es gibt keine oder kaum Pausen und zu lange Arbeitstage. Dazu kommt, dass sich Teile der Flüchtlinge wegen der Schulden, die sie durch Flucht und Unterkunft anhäufen (siehe jW-Schwerpunkt vom 27.2.2015), in einer Art Schuldknechtschaft befinden. Sie arbeiten Ausstände ab, die sie manchmal bei derselben Person haben, bei der sie Schulden machen müssen, um überleben zu können.

Ökonomie verschärfter Ausbeutung

Ähnlich wie die syrischen Flüchtlinge stellen auch die palästinensischen ein Arbeitskräftereservoir für den Niedriglohnbereich dar. Obwohl sie seit mehreren Generationen im Land sind, werden sie immer noch rechtlich diskriminiert und sind auf dem Arbeitsmarkt nicht gleichgestellt. Es existiert eine formale Liste von 72 Berufen, in denen Palästinenser nicht arbeiten dürfen, de facto landen sie zumeist in Berufsfeldern mit niedriger Entlohnung. Etwa 450.000 Palästinenser gibt es im Libanon, ihr Durchschnittseinkommen liegt unter dem Mindestlohn des Landes. Dazu kommen schlechte Arbeitsbedingungen und zu lange Arbeitswochen. Eine umfangreiche Studie der ILO weist aus, dass ein palästinensischer Werktätiger im Durchschnitt 47 Stunden die Woche arbeitet.[8]

Rechnet man die arbeitenden syrischen Flüchtlinge, die syrischen Wanderarbeiter, die aus Asien und Afrika kommenden Hausbediensteten und die palästinensischen Flüchtlinge zusammen, kommt man auf eine relativ zur libanesischen Bevölkerung immens hohe Anteil. Genaue Zahlen lassen sich schwer ausmachen, aber es kann festgehalten werden, dass ein bedeutender Teil der Arbeiterklasse im Libanon migrantisch ist – und zwar vor allem in den am schlechtesten bezahlten Bereichen.

Die Beschäftigten hier sind oft in prekären Situationen, insbesondere die Flüchtlinge aus Syrien haben kaum Optionen. Was entsteht, ist eine Ökonomie der verschärften Ausbeutung, in der verschiedene Teile der Klasse gegeneinander ausgespielt werden können. Gerade die Fluchtbewegungen eröffnen hier neue Möglichkeiten für das Kapital in der Region, das aus der Not der vom Krieg aus ihrer Heimat Vertriebenen ein lukratives Geschäftsfeld macht.

Anmerkungen
  1. http://www.dailystar.com.lb/News/Lebanon-News/2009/Nov-30/61783-nepal-bans-migration-to-lebanon-amid-abuse-fears.ashx
  2. http://english.al-akhbar.com/node/23405
  3. http://www.hrw.org/news/2015/03/10/lebanon-recognize-domestic-workers-union
  4. http://www.lnf.org.lb/migrationnetwork/mig2.html#Overview
  5. http://english.al-akhbar.com/node/10428
  6. http://english.al-akhbar.com/node/23364
  7. http://www.google.de/url?sa=t&rct=j&q=&esrc=s&source=web&cd=1&cad=rja&uact=8&ved=0CCIQFjAA&url=http%3A%2F%2Fwww.ilo.org%2Fwcmsp5%2Fgroups%2Fpublic%2F---arabstates%2F---ro-beirut%2Fdocuments%2Fpublication%2Fwcms_240134.pdf&ei=hcsWVZmIFpDZaqGSgeAI&usg=AFQjCNEgctiFfAFtAqZobq45p3qv6J2D5Q&sig2=tErwbXe5HpDTNWwtJ95cZw&bvm=bv.89381419,d.d2s
  8. http://www.google.de/url?sa=t&rct=j&q=&esrc=s&source=web&cd=1&cad=rja&uact=8&ved=0CCUQFjAA&url=http%3A%2F%2Fwww.ilo.org%2Fbeirut%2Fpublications%2FWCMS_236502%2Flang--en%2Findex.htm&ei=08sWVYnGL8_PaPXJgrAF&usg=AFQjCNFo8sB61HSGce8fGyGySPD29s_qnA&sig2=MRdkMScsKngg4krLUvHzuw&bvm=bv.89381419,d.d2s

* Aus: junge Welt, Samstag, 28. März 2015


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