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"Wir kämpfen in Syrien, um unser Land zu verteidigen"

Über Israel, den Bürgerkrieg in Syrien und den Unterschied zwischen dschihadistischen Terrorgruppen und der libanesischen Hisbollah. Interview mit Nawar Al-Sahili *


Nawar Al-Sahili ist Jurist und Abgeordneter der schiitischen Hisbollah im libanesischen Parlament.

Im Moment kämpft die Hisbollah an vielen Fronten. Im Irak, im syrischen Bürgerkrieg, gegen Israel. Welches sind die Prioritäten Ihrer Organisation in dieser Situation, und welche strategischen Ziele verfolgen Sie dabei?

Unsere oberste Priorität ist der Kampf gegen Israel. Die Widerstandsorganisation im Libanon, Hisbollah, wurde 1982 geschaffen, als Antwort auf die israelische Invasion. Und immer noch ist unser Ziel, Israel zu zwingen, unser Land zu verlassen. Es hält ja immer noch Teile besetzt, die Schebaa-Farmen zum Beispiel. Also ist unser prioritäres Ziel Israel.

Aber was in Syrien passiert, betrifft auch uns. Der Libanon ist ein Nachbar. Ich komme aus einer Region, die Hermel heißt, nahe Baalbek. Das, was derzeit syrische »Opposition« genannt wird, diese terroristischen Takfiri-Gruppen, waren direkt an unserer Grenze. Als wir begannen, 2013 auf die Herausforderungen zu reagieren, waren wir vielleicht die letzte Gruppe, die dorthin ging. Anfangs auch nicht, um die Regierung in Damaskus zu schützen, sondern um unser Land und unsere Bevölkerung zu verteidigen.

Ich kann über diese Sache sprechen, weil ich genau dort lebe. Es gibt mehr als 15 Dörfer, die zwar jenseits der Grenze zu Syrien liegen, in denen die Bevölkerung aber libanesisch ist – 20 000 Menschen, nahe Hermel, nahe des Nordlibanon. Und die Takfiris fielen in diese Dörfer ein und begannen, Menschen umzubringen und Konflikte zu schüren. Und dort leben nicht nur Schiiten, sondern auch Christen und sogar Sunniten.

Zuallererst haben wir also dort eingegriffen, um unsere Grenzen zu schützen. Und dann gingen wir nach Al-Kusair und Homs. Und wir begannen zu realisieren, dass wir terroristische Gruppen bekämpfen, die Ziele haben, die weit über den Libanon hinausgehen. Zur Zeit kann die ganze Welt sehen, was passiert. In Syrien, im Irak, in Libyen, in Ägypten, ja sogar in Afrika. Die dummen Menschen, die sagen, das Eingreifen der Hisbollah in Syrien brachte erst den IS und Al-Nusra, liegen falsch, eine solche Auffassung kann niemand für akzeptabel halten.

Wie konnten der »Islamische Staat« und die Nusra-Front so groß und einflussreich werden, zu einer Kraft, die die gesamte Region terrorisiert?

Es gibt dafür eine Reihe von Gründen. Zuallererst spielt Geld eine Rolle. Das Ziel dieser Leute sind arme Menschen. Eher ungebildete, die in Dörfern leben. Die versuchen sie mit Geld zu gewinnen. Zweitens benutzen diese Leute leider die Religion. Hier ist zu sagen, dass das nichts mit Religion zu tun hat. Ich kann Ihnen das sagen, ich bin selbst Muslim.

Das, was Sie da sehen können, hat mit dem Islam nichts zu tun. Wer zuallererst unter dem IS zu leiden hat, ist der Islam. Islam bedeutet nicht, zu töten, Islam bedeutet nicht, Köpfe abzuschneiden, Islam ist nicht, Kirchen und Moscheen in die Luft zu sprengen. Sie spielen mit den Überzeugungen der Menschen und erzählen ihnen, das sei der Islam, und wenn ihr mit uns kommt und kämpft, werdet ihr Geld haben, und wir versichern euch, ihr kommt in den Himmel. Und ärmere Leute und vor allem einige junge Menschen glauben wirklich an diese Geschichte. Das ist, was in Syrien passiert ist, im Irak und auch in Afrika.

Wenn man versucht, mit jemandem vom IS zu reden, stellt man fest, dass man mit denen nicht diskutieren kann. Sie reden wie nach einer Gehirnwäsche. Sie sind überzeugt, dass das, was sie tun, dem Islam dient. Sie glauben, sie handeln für Gott und kommen dann ins Paradies. Ich denke übrigens auch, dass der IS mittlerweile sogar Drogen einsetzt. Viele, die am Krieg teilgenommen haben, erzählen uns: Die sind nicht normal, sogar wenn man sie anschießt, kämpfen sie weiter.

Natürlich muss man, wenn man über dieses Thema spricht, auch sehen – die kommen ja nicht aus dem nichts. Wenn wir in der Geschichte zurückgehen, sehen wir, dass sie aus Afghanistan kamen, von Bin Laden, und wir wissen, wer Bin Laden hervorgebracht hat: die CIA und andere Geheimdienste. Und wir wissen auch, dass sie immer noch dieses Spiel spielen. Wenn man den IS bekämpfen will, dann schickt man nicht vielleicht 15 Kampfflieger am Tag. Man setzt B-52-Bomber ein und Soldaten am Boden. Amerika bekämpft den IS bis jetzt nicht ernsthaft.

Am 19. Januar hat Israel auf den Golanhöhen Hisbollah-Kämpfer angegriffen und getötet. Außerdem gibt es regelmäßig Berichte von israelischen Attacken auf Einrichtungen des syrischen Militärs. Gegen Al-Nusra-Freischärler, die ebenfalls auf dem Golan sind, geht die israelische Armee nicht vor. Gibt es Ihrer Meinung nach eine – zumindest informelle – Koalition?

Sicher. Das hat mit meiner Meinung nichts zu tun, das ist ein Fakt. Hassan Nasrallah, unser Generalsekretär, sagte es vor einigen Wochen. Als Israel bemerkte, dass da zwei Autos sind, in denen Kämpfer der Hisbollah sitzen, stiegen Flugzeuge auf und töteten sie. Aber wenn man an die Grenze geht, da sind mehr als 2.000, 3.000 Männer der Nusra-Front mit Panzern, Raketen und anderen Waffen. Man kann sie sehen, doch Israel tut nichts. Es sieht sie nicht als Feinde an, im Gegenteil: als Verbündete. Und nutzt Al-Nusra und vielleicht noch andere Gruppen, um eine Art Pufferzone zu haben, so wie früher im Süden des Libanons die Südlibanesische Armee.

Auch in Ihrem Land versuchten Dschihadisten, Konflikte zu schüren. Es gab Selbstmordangriffe in Tripoli, davor in Arsal Auseinandersetzungen mit der Armee. Im Libanon leben ja auch Sunniten, die sich offen für diese Gruppen zeigen könnten. Existiert die Gefahr, dass der syrische Bürgerkrieg auf den Libanon ausgedehnt wird?

Es gibt natürlich eine Gefahr. Aber wir sind überzeugt, dass die Mehrheit der Bevölkerung, in Tripoli, im Norden, sogar in Arsal, begreift, was gespielt wird. Ich glaube also nicht, dass es viele Leute gibt, die auf der Seite der Terrorgruppen stehen. Wir haben gesehen, was vor zwei Monaten passiert ist, als die libanesische Armee nach Tripoli ging, an Orte, von denen wir dachten, da sind Al-Nusra- und Takfiri-Gruppen. Einige wenige Menschen kämpften an deren Seite. Ihnen wird keine Solidarität entgegengebracht. Ich denke, eine Menge Menschen, insbesondere auch in der sunnitischen Gemeinschaft, verstehen: Diese Leute sind keine Muslime. Wenn wir über die Anzahl der Menschen sprechen, die von Nusra und dem IS in den letzten zwei Jahren ermordet wurden, dann sehen wir, dass fünf Prozent davon Christen oder Schiiten sind. Aber 95 Prozent sind Sunniten. Menschen im Libanon, Syrien, gemäßigte Leute, Leute, die nachdenken, werden Al-Nusra und den IS nicht als Regierung akzeptieren oder mit ihnen zusammenleben.

In den deutschen Medien wird auch die Hisbollah als terroristische, antisemitische Gruppierung dargestellt, als eine Organisation, die die Scharia überall in Palästina und im Libanon einführen will. Was sagen Sie zu diesen Vorwürfen?

Das ist das Bild, das Israel von uns im Westen vermittelt haben will. Sie sprechen mit einem Parlamentsabgeordneten der Hisbollah. Sehe ich für Sie aus wie ein Terrorist? Sehe ich aus wie jemand, der die Scharia auf Sie anwenden will? Wir sind eine Gruppe von Menschen, deren Land von Israel besetzt wurde, also mussten wir anfangen zu kämpfen, um Israel rauszubekommen. Und nun sind wir stolz, dass wir jenen Terrorismus bekämpfen, der sich »islamisch« nennt, aber nicht der Islam ist. Wir haben Gefallene, Verwundete, Familien, die weinen. Aber wir sind überzeugt, dass genau das unser Job ist und wir das tun müssen.

Und ich denke, dass auch Europa nun unter diesen sogenannten islamistischen Gruppen leidet. Ich nenne sie nicht gerne »islamistisch«, sondern »Takfiri«. Das bedeutet auf arabisch, dass derjenige, der nicht meiner Meinung ist, Kafir, also ungläubig und gegen Gott ist, und ich also das Recht habe, ihn zu töten. Das ist nicht wahr. Niemand hat das Recht irgend jemanden zu töten, nur weil er nicht seiner Meinung ist. Ich denke, es vollzieht sich ein Wandel in Europa. Sie beginnen nun zu verstehen, dass es einen Unterschied gibt zwischen Hisbollah und Al-Nusra oder dem IS.

Interview: Thomas Eipeldauer

* Aus: junge Welt, Montag, 2. März 2015


Antiimperialismus

Konferenz in Beirut

Von Thomas Eipeldauer **


Vergangene Woche fand in der libanesischen Hauptstadt Beirut das 12. Internationale Symposium gegen Isolation statt. Veranstaltet von der Internationalen Plattform gegen Isolation (IPAI) in Zusammenarbeit mit dem Khiam-Zentrum für die Rehabilitation von Folteropfern soll es den Austausch von linken und antiimperialistischen Gruppen weltweit befördern. Zahlreiche Akteure der Region haben Vertreter geschickt, von der marxistisch-leninistischen Volksfront zur Befreiung Palästinas (PFLP) über die Kommunistische Partei des Libanon (KPL) bis zu syrischen, marokkanischen oder ägyptischen Organisationen und Aktivisten. Auch aus Südamerika, Europa und Asien waren Aktivisten anwesend, die über die Kämpfe in ihren Ländern und die Repression gegen die jeweiligen Bewegungen berichteten.

Den Ausgangspunkt der Debatten bildete ein weit gefasster Begriff von »Isolation«. Diese sei, so der Tenor, nicht auf den Kontaktentzug in Gefängnissen begrenzt, sondern eine weiter zu fassende, allgemeine Praxis imperialistischer Politik. »Isolation« beginne bei der Trennung der Bevölkerung unterdrückter Nationen nach ethnischen und religiösen Kriterien und umfasse eine Reihe von Praktiken, formulierte Marwan Abdel-Al von der PFLP. »Isolation findet nicht nur in den Knästen statt. Auch die Mauer in Palästina bedeutet Isolation und das Eingesperrtsein in Flüchtlingslager.«

Zur Überwindung der verschiedenen Formen von Isolation sei die Einheit der verschiedenen Fraktionen des Widerstands gegen imperialistische Unterdrückung herzustellen. Dementsprechend breit war das geladene Spektrum. Anwesend war auch, ungewöhnlich für eine von Linken ausgerichtete Konferenz, die einflussreichste islamische Bewegung des Libanon, die schiitische Hisbollah (»Partei Gottes«). Ihr Delegierter, der Jurist und Parlamentsabgeordnete Nawar Al-Sahili, betonte in seiner Rede, dass kein nationales Gesetz über den Menschenrechten stehen könne, die jederzeit zu achten seien. »Keine Verfassung sollte erlaubt sein, die gegen die Menschenrechte verstößt.« Die militärische Auseinandersetzung zwischen der Hisbollah und Israel im Jahr 2006 bezeichnete er als »einen beispiellosen Sieg«. Die »einzig mögliche Lösung« in dem lang dauernden Konflikt sei, so Al-Sahili, »unser eigener Widerstand«. (te)

** Aus: junge Welt, Montag, 2. März 2015


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