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Schüsse aus dem Wohnzimmer

Der Krieg in Syrien droht auf das Nachbarland Libanon überzugreifen. In der Hafenstadt Tripoli nehmen die Spannungen zu und tragen selbst Geistliche eine Pistole im Halfter

Von Anja Pietsch, Tripoli *

Tripoli, die gespaltene Stadt: Das hauptsächlich von AlawitInnen bewohnte Viertel Jabal Mohsen liegt auf einer Anhöhe über dem Stadtteil Bab al-Tabbaneh, einer Hochburg des sunnitischen Konservatismus.

«Bab al-Tabbaneh?» Der Kaffeeverkäufer in der Altstadt von Tripoli kratzt sich nachdenklich am Kopf. «Also da würde ich auf keinem Fall hinfahren. Das ist viel zu gefährlich. Die aus Jabal Mohsen schiessen einfach auf alles, was sich unten in Bab al-Tabbaneh bewegt. Besser, man ruft da jemanden an, wenn man was wissen will.»

Tripoli ist mit rund 200 000  Bewohner­Innen Libanons zweitgrösste Stadt. Sie liegt nur gerade dreissig Kilometer von der syrischen Grenze entfernt. Zwischen den BewohnerInnen der Stadtviertel Bab al-Tabbaneh und Jabal Mohsen herrscht seit dem Ausbruch des Bürgerkriegs von 1975 ein feindliches Verhältnis. Immer wieder wird auch aufeinander geschossen. Die beiden Quartiere sind von gegensätzlichen islamischen Glaubensrichtungen geprägt. Das von Alawit­Innen bewohnte Jabal Mohsen liegt auf einer Anhöhe, mit Blick auf die Stadt. Direkt darunter im Tal liegt Bab al-Tabbaneh, eine Hochburg des sunnitischen Konservatismus. Die beiden Viertel trennt die Hauptverkehrsader der Hafenstadt, die ausgerechnet Syrienstrasse heisst.

Der Konflikt in Syrien und der Zustrom ­syrischer Flüchtlinge in den Libanon verschärften in den letzten Monaten die ohnehin schon angespannte Situation. Die Alawit­Innen unterstützen zumeist den syrischen Präsidenten Baschar al-Assad, während viele SunnitInnen mit der syrischen Opposition sympathisieren. Als im Mai der sunnitische Geistliche Ahmad Abdul Wahid zusammen mit sechs Begleitern an einem Militär­kontrollpunkt im Norden des Landes erschossen wurde, eskalierte die Situation. Zwischen den beiden Quartieren begannen heftige Schusswechsel. Inzwischen hat die Armee überall in der Stadt Panzer stationiert und Checkpoints an allen Zufahrtsstrassen errichtet. Brennende Läden

Die Spannungen in Tripoli zeigen sich auch an Orten, die die verschiedenen Bevölkerungsgruppen gemeinsam nutzen, etwa in der Altstadt. Dort sind derzeit viele Läden geschlossen. «Die aus Jabal Mohsen kommen jetzt nicht mehr hier runter. Sie haben Angst. Und wenn sie kommen, dann schlagen wir sie», sagt der drahtige Möbelbauer Baschir Abbouchi. Erst kürzlich sind einige alawitische Läden von wütenden SunnitInnen in Brand gesteckt worden. Leute aus Jabal Mohsen schossen daraufhin aus Rache umgehend auf BewohnerInnen von Bab al-Tabbaneh.

Gewehre in der Zimmerecke

«Die einfachen Menschen bezahlen für das, was die Führer anstellen», sagt ein anderer Ladenbesitzer, der bunte Plastik­utensilien aller Art verkauft. Der Laden seines Nachbarn wurde kürzlich angezündet und brannte dabei vollständig aus. Bisher hat sich niemand die Mühe gemacht, die verkohlten Reste beiseitezuräumen. Während wir uns unterhalten, fallen auf einmal in der Ferne Schüsse, mehrmals hintereinander. Mit einem Plastikgewehr in der Hand kommt daraufhin ein kleiner Junge aus dem Laden seines Vaters gerannt und blickt sich prüfend um. Dann marschiert er die Strasse hinunter.

Bab al-Tabbaneh, nur wenige Minuten ­Autofahrt von der Innenstadt entfernt, ist eines der ärmsten Viertel der Stadt. Die Häuser sind mit unzähligen Einschusslöchern übersät, Zeugen jahrzehntelanger Scharmützel. «Wir kämpfen, bis Assad weg ist», sagt Scheich Bilal al-Masri. Der sunnitische Geistliche gibt sich siegessicher: «Das syrische Volk will Freiheit.» Der Scheich zeigt stolz ein kürzlich ausgestrahltes TV-Interview mit ihm. Darin behauptet er, mit 3000 bis 4000 US-Dollar jeden syrischen Grenzbeamten bestechen und so ungehindert alle Arten von Waffen nach Syrien schmuggeln zu können. Während der Fernsehbeitrag auch noch zeigt, wie Masri aus seinem Fenster heraus auf seine Nachbarn schiesst, bietet der charmante Gastgeber Kaffee an und geht mit einer Schale Bonbons herum. «Erdbeer oder Schokolade?», fragt er höflich.

Bei Scheich al-Masri daheim stehen drei Gewehre in einer Zimmerecke. Eine Pis­tole trägt er immer in einem Halfter auf sich. «Zur Verteidigung», sagt er. «Es sind die aus Jabal Mohsen, die uns angreifen. Wir haben hier keine Partei, die uns unterstützt.» Masri sagt, der ehemalige libanesische Ministerpräsident Saad al-Hariri von der antisyrischen Zukunftspartei (der enge Verbindungen zu Saudi-Arabien unterhält) stehe zwar auf ­ihrer Seite, doch er sei ein friedlicher Mann. «Er kämpft mit Papier und Stift. Aber das ist nutzlos gegen die Leute aus Jabal Mohsen. Sie werden von der syrischen Armee und von der Hisbollah im Süden des Landes unterstützt und erhalten so alle schweren Waffen.»

Viele SunnitInnen im Libanon fühlen sich vom wachsenden Einfluss der schiitischen Hisbollah bedroht. Die «Partei Gottes» gilt als besser bewaffnet als die libanesische Armee und hat im Süden des Landes von der Staatsmacht unkontrollierbare Gebiete geschaffen, in denen immense Waffenvorräte vermutet werden. Die Hisbollah hat sich mittlerweile auch als gesellschaftliche Kraft fest etabliert, gehört der Regierung des prosyrischen Medienunternehmers Nadschib Miqati an und stellt einen Teil der Sicherheitskräfte. Im Januar 2011 brachte sie die Regierung Hariris zu Fall, indem sie und ihre Verbündeten mehrere Minister aus dem Kabinett abzogen.

«Seelen und Blut» für al-Assad

Will man mit einem Taxi den Berg hinauf nach Jabal Mohsen fahren, so hat man dem widerwilligen Fahrer einen Aufpreis zu zahlen. An jeder Ecke stehen Panzer, und Soldaten kontrollieren jeden, der das Viertel betreten will. Die Leute in Jabal Mohsen sind weniger auskunftsfreudig als die BewohnerInnen von Bab al-Tabbaneh. Dass Damaskus und die Hisbollah im grossen Stil Waffen an die Bewohner in Jabal Mohsen liefern würden, lässt sich nicht belegen. Allerdings zeigen die allgegenwärtigen Konterfeis Baschar al-Assads und des Hisbollah-Führers Hassan Nasrallah zweifelsfrei, wem sich viele der Menschen in Jabal Mohsen verbunden fühlen. «Wir geben unsere Seelen und unser Blut für dich, Baschar», steht auf einigen Plakaten geschrieben.

Vor Rifaat Aids Haus in Jabal Mohsen stehen bewaffnete Posten. Aid führt die Arabische Demokratische Partei (ADP) an, die in den siebziger Jahren von Rifaat al-Assad, dem Onkel des jetzigen syrischen Präsidenten, gegründet wurde. Einer der Milizionäre spricht in sein Funkgerät. Aid stehe heute nicht zur Verfügung. «Morgen vielleicht», sagt ein ­anderer.

Viele AlawitInnen in Jabal Mohsen behaupten, Sunniten aus Bab al-Tabbaneh würden aus dem Libanon heraus Angriffe auf die syrische Armee unternehmen. SunnitInnen aus Bab al-Tabbaneh wiederum sagen, Alawiten würden die syrische Armee und die regimetreuen Schabiha-Milizen in Syrien unterstützen und in Tripoli gezielt syrische Flüchtlinge angreifen. Ausserdem versuche die Hisbollah, im Norden des Libanons ihren Einflussbereich auszuweiten.

Sowohl die Freie Syrische Armee (FSA) als auch die Hisbollah dementieren, direkt an Kampfhandlungen in Tripoli beteiligt zu sein. Es scheint, dass niemand für den Ausbruch eines neuen Bürgerkriegs verantwortlich gemacht werden möchte.

«Auge um Auge, Zahn um Zahn», sagt dazu der Kaffeeverkäufer auf dem Basar in der Altstadt. «Was auch immer in Syrien geschieht, das wird hier noch ewig so weitergehen.»

* Aus: Schweizer Wochenzeitung WOZ, 5. Juli 2012; www.woz.ch

Fragiles Staatskonstrukt

Korruption und Günstlingswirtschaft, eine verheerend hohe Arbeitslosigkeit, ein marodes Bildungssystem, jeden Tag drei Stunden Stromunterbrechung und inkompetente Politiker: Eigentlich gäbe es für LibanesInnen genügend Gründe, auf die Strasse zu gehen. Aber im Gegensatz zu anderen Revolutionsländern des Arabischen Frühlings gibt es im Libanon keine zentrale Figur, die man allein für die Misere verantwortlich machen könnte.

So entlädt sich die allgemeine Unzufriedenheit immer wieder spontan, oft entlang der konfessionellen Zugehörigkeit. Die aktuelle Situation in Syrien droht nun das ohnehin fragile Staatskonstrukt Libanon völlig aus dem Gleichgewicht zu bringen. Auseinandersetzungen gibt es inzwischen nicht mehr nur im Norden des Landes, sondern auch in der Hauptstadt: Unlängst griff in Beirut eine sunnitische Menschenmenge die Parteizentrale der prosyrischen Arabischen Bewegung an. Vergangene Woche versuchten schiitische Jugendliche, das Gebäude des Senders al-Jadid in Brand zu setzen, nachdem der Sender ein Interview mit dem sunnitischen Geistlichen Ahmad Asir ausgestrahlt hatte.




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