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Zwei Kulturen

Gespräche in der libanesischen Hauptstadt über die Hintergründe und die Folgen des Krieges in Syrien. Eine Reportage

Von Karin Leukefeld, Beirut *

Geh weg, verschwinde hier«, sagt eine elegant gekleidete Frau zu einer jungen Mutter und ihrem Kind. Mit einer wirschen Handbewegung verleiht sie ihrer Forderung Kraft, die Frau und das Kind springen auf und laufen um die nächste Ecke. »Sie sagen, sie seien Flüchtlinge aus Damaskus«, entschuldigt sich die Dame, als sie dem fragenden Blick einer anderen Passantin begegnet. »Hier in Hamra haben wir nie Bettler auf der Straße gehabt, aber seit diesem Krieg da drüben sind die Bettler überall.«

Der »Krieg da drüben« ist der Krieg in Syrien, der zwei Jahre nach seinem Beginn immer tiefere Spuren im Libanon hinterläßt. Waffen und Kämpfer werden vom Libanon nach Syrien geschafft, im Gegenzug kommen Verletzte und Flüchtlinge in den Zedernstaat. 1,5 Millionen Flüchtlinge seien schon ins Land gekommen, sagt ein Gesprächspartner, der lieber anonym bleiben möchte. Die UN spricht offiziell von 550000 registrierten Flüchtlingen im Libanon und nennt eine Gesamtzahl von knapp 1,7 Millionen syrischen Flüchtlingen in Irak, Türkei, Libanon, Jordanien, Ägypten und Nordafrika.

Der Libanon hat etwas mehr als vier Millionen Einwohner, von denen gut die Hälfte teilweise oder permanent im Ausland lebt, weil es in dem Mittelmeerstaat keine Arbeit gibt. Sollten tatsächlich 1,5 Millionen Syrer gekommen sein, würden sie mehr als die Hälfte der zwei Millionen Libanesen ausmachen, die gegenwärtig im Lande sind. Selbst bei 550000 wären es noch 25 Prozent der Gesamtbevölkerung. In Deutschland, wo etwa 80 Millionen Menschen leben, wären 25 Prozent hilfsbedürftige Neuankömmlinge 20 Millionen, rechnet der Gesprächspartner vor. Niemand würde das in Deutschland mitmachen.

Sozialer Sprengstoff

Im Libanon wäre es ein Gebot der Nachbarschaftshilfe, die Menschen aus Sy­rien aufzunehmen. Oft mußten Libanesen vor dem Krieg nach Syrien fliehen, nun sei es umgekehrt. Doch die schwierige Wirtschaftslage im Land werde durch die Flüchtlinge überstrapaziert und führe zu viel Ungerechtigkeit. Während die reichen Syrer sich Grund und Boden in und um Beirut kaufen könnten, strandeten die armen im wirtschaftlich ohnehin vernachlässigten Norden Libanons. In der Provinz Akkar, nördlich von Beirut, müßten arme Libanesen zusehen, wie Hilfsorganisationen und die Vereinten Nationen den Flüchtlingen aus Syrien Hilfe leisteten, während sie selber leer aus ausgingen und doch auch Unterstützung nötig hätten.

»Manche versuchen, mit gefälschten Pässen Hilfsgelder zu bekommen«, erzählt der Gesprächspartner. Reiche Syrer kauften Land und Häuser, um dort für die Flüchtlinge Lager und billige Unterkünfte zu errichten. Ein junger Libanese, der in Deutschland gelebt hatte, von dort aber irgendwann abgeschoben worden sei, habe ihm eines Tages erzählt, daß er als Libanese heute in seiner Heimat nicht mal einen 600-US-Dollar-Job bekommen könne, einen sogenannten Billiglohnjob: »Die Syrer machen das für die Hälfte, und so steht dieser Libanese auf der Straße«. Das alles schaffe sozialen Sprengstoff, doch die Regierung kümmere sich nur um sich selbst.

Als ich den Gesprächspartner verlasse, treffe ich im Fahrstuhl des Hauses einen jungen Mann, der sich als Geschäftsmann aus Syrien vorstellt. Er sei als Kind mit seinen Eltern nach Kanada gekommen, habe dort studiert und besitze eine doppelte Staatsangehörigkeit. Weder für Syrien noch für Kanada sei das ein Problem. Vor dreizehn Jahren, als Baschar Al-Assad Präsident wurde und Reformen für Syrien ankündigte, habe er sich entschlossen, in sein Land zurückzukehren, um sich am wirtschaftlichen Aufbau zu beteiligen. Er habe ein Aluminiumwerk südlich von Damaskus aufgebaut. 2010 hätten 1800 Arbeiter in dem gut gehenden Betrieb in Lohn und Brot gestanden. Seine Hauptgeschäftspartner seien in Europa ansässig, erzählt er, besonders in Deutschland. »Mit den Sanktionen, die im Jahr 2011 von der EU verhängt wurden, ging es bergab. Inzwischen mußte ich alle Arbeiter entlassen. Sie sitzen zu Hause ohne Lohn. Wie sollen sie ihre Familien ernähren?!« Er versuche nun, sein Geschäft in Italien wieder neu aufzubauen, ob das gelinge, wisse er nicht. »Doch was machen die 1800 Arbeiter? Wenn jemand ihnen oder ihren Söhnen Geld, Waffen und eine Uniform bietet, was meinen Sie wohl, was sie tun werden?« fragt er und rückt seine Sonnenbrille zurecht. »Kriegswirtschaft nennt man das. Und nur, weil irgendwelche Politiker einen anderen Politiker weghaben wollen, werden die Syrer in Armut gestürzt?!«

Keine Exkursion

Später am Nachmittag in einer kleinen Wohnung im Beiruter Geschäftsviertel Hamra. Drei Freundinnen sitzen nach einem Yogakurs zusammen und trinken Tee. Angelika, die seit ihrer Heirat mit einem Libanesen in den 1960er Jahren in Beirut lebt, Lesley, eine Touristenführerin, und Tatjana aus Moskau. Die Physiotherapeutin Tatjana lebte 25 Jahre mit ihrem syrischen Ehemann in Damaskus, wo ihre beiden Söhne geboren wurden. Vor wenigen Monaten verließ sie auf Bitte ihres Mannes das Land. Es fällt ihr schwer, in Beirut Wurzeln zu schlagen. »Alle diese Politiker, die einen Krieg nach dem anderen anfangen, sollten mal anfangen, Yoga zu machen, damit sie auf bessere Gedanken kommen«, sind sich die drei Frauen einig. Angelika und Lesley, die den libanesischen Bürgerkrieg erlebt haben, können der »syrischen Revolution« nichts abgewinnen. »Als Christin haben mich die Muslime in meinem Dorf früher beschützt«, erinnert sich Lesley. »Sie kämpften zwar gegeneinander, aber jeder für irgendeine Sache. Heute schlachten sich die Männer gegenseitig, aber auch Unbeteiligte ab und rufen dazu auch noch ›Allah ist groß‹! Aber für wen tun sie das, für was für eine Sache?« Die drei Freundinnen sind entsetzt über die Bilder von Gewalttaten, die über die »sozialen Netzwerke« auf Handys und Facebookseiten verteilt werden.

Das Handy von Lesley klingelt. Die Exkursion, die sie am folgenden Morgen mit einigen Touristen zum Beit Eddine-Palast in die Schufberge südöstlich von Beirut machen sollte, sei gestrichen, erfährt sie. Grund seien die bewaffneten Auseinandersetzungen bei Sidon, wo ein salafistischer Scheich und seine Anhänger gegen die libanesische Armee kämpften. Straßen zwischen der Hafenstadt und Beirut seien mit brennenden Reifen oder von bewaffneten Männern blockiert, die einen gingen für die Armee, die anderen für die Salafisten auf die Straße. Das sei für die Touristen zu gefährlich, also werde man nach Byblos fahren, nördlich von Beirut am Meer, erzählt Lesley. »Hoffen wir, daß dort morgen alles ruhig bleibt.«

Katzenversammlung

Am Abend trägt ein kühler Wind vom Meer frische Luft in die aufgeheizte Stadt. Ein schwerer Transporter der Armee fährt vorbei, auf der offenen Ladefläche sitzen gut ein Dutzend Soldaten. Helm auf, Gewehr im Anschlag patrouillieren sie durch das Viertel. Ein Soldat steht hinter einem auf der Ladefläche befestigten Maschinengewehr und mustert mit bewegungsloser Miene die Passanten.

Auch am westlichen Tor des Campus der Amerikanischen Universität von Beirut stehen Soldaten Wache. Doch anstatt auf die Straße zu blicken und die Fahrzeuge zu kontrollieren, blicken sie gebannt durch die Eisenstäbe auf einen Platz innerhalb des Areals, wo in einem Halbkreis Väter mit ihren Kindern stehen und warten. Zwischen den Soldaten und den Vätern und Kindern lümmeln sich ungezählte Katzen am Tor, immer mehr kommen aus den Büschen und über die Treppen geschlichen und gesellen sich dazu. Ein mächtiger weißer Kater stolziert zwischen den anderen herum. »Sie warten auf Essen, das ihnen jemand jeden Abend hier vorbeibringt«, erklärt ein Vater schmunzelnd, während sein Sohn aus sicherer Entfernung im Kinderwagen die Tiere ängstlich und neugierig zugleich mustert. Ein anderer Junge nutzt die Gelegenheit, um seine Englischkenntnisse zu demonstrieren: »This cat is white, this cat is black, this cat is black and white – Diese Katze ist weiß, diese Katze ist schwarz, diese Katze ist schwarz und weiß«, beschreibt er die Farbe der Tiere.

Auf der Straße, hinter den Soldaten, ist ein größerer Junge stehen geblieben, um ebenfalls die Tierversammlung zu betrachten. Im Arm trägt er ein großes Bündel roter Rosen. Schmal ist der Junge und klein, sein Alter ist schwer zu schätzen. Seine Kleider sind einfach, aber ordentlich, einige Zeit blickt er den Menschen und Vierbeinern zu, bis er langsam den Gehweg in Richtung der Hamrastraße weitergeht. Auf ihr flanieren am Abend jung und alt, Libanesen und Touristen an hell erleuchteten Geschäften, Restaurants und Bars vorbei. In ganzer Länge stauen sich auf der Fahrbahn die Autos, Musik schallt aus zahllosen Lautsprechern. »Kaufen sie eine Rose«, sagt der Junge leise zu Menschen, die an ihm vorübergehen. Kaum jemand beachtet ihn. Anders als andere bettelnde Kinder hängt er sich nicht an die Spaziergänger und drängt sie zu geben. Mit einigem Abstand geht er hinter den Menschen her und bietet seine Blumen an. »Kaufen Sie doch eine Rose, bitte. Oder geben Sie mir etwas Geld«, murmelt er.

Die kleinen Rosenverkäufer würden organisiert auf die Straßen geschickt, vermutet Sofia Sadeh, Professorin für Neue Geschichte des Mittleren Ostens, die den Jungen beobachtet hat. Die meisten Armen und syrischen Flüchtlinge kämen nicht so weit nach Beirut herein. Sofia Sadeh analysiert scharfzüngig die Geschehnisse, die in den Medien täglich präsentiert werden. Auf die Frage, ob die Hisbollah mit ihrem Engagement in der syrischen Stadt Qusair eine Linie überschritten habe, wie viele Libanesen der Organisation vorhalten, schüttelt sie den Kopf. »Die ersten, die hier bei uns eine Linie überschritten haben, waren die Amerikaner, als sie 2003 im Irak einmarschiert sind«, gibt sie zurück. George W. Bush habe damals eine »Achse des Bösen« vom Iran über Irak und Syrien bis zur Hisbollah gezogen. Und während des Krieges im Libanon 2006 sei die damalige Außenministerin Condoleezza Rice nach Beirut gekommen und habe die »Gründung eines neuen Mittleren Ostens« angekündigt, fährt sie fort: »Wer also überschreitet hier Grenzen?!«

»Neuer Mittlerer Osten«

Das Projekt des »Neuen Mittleren Ostens« bedeute die Zerschlagung der nationalen Grenzen in der Region, wie sie 1916 durch das Sykes-Picot-Abkommen festgelegt worden seien. Wer heute religiöse und ethnische Kleinstaaten in der Region anstrebe, fördere einen langen Krieg. »Was wir erleben, ist ein Dritter Weltkrieg der von Stellvertretern geführt wird«, ist Sofia Sadeh überzeugt. Die USA ließen die Türkei, Saudi-Arabien und Katar für sich kämpfen, Assad, Iran und die Hisbollah wüßten dagegen Rußland und China hinter sich. »Für uns ist es aber auch mehr als ein Stellvertreterkrieg«, sagt Sofia Sadeh. »Wir kämpfen gegen die Durchsetzung des Projekts eines ›Neuen Mittleren Ostens‹. In Sy­rien kämpften zwei gegensätzliche Kulturen gegeneinander, erklärt sie. »Auf der einen Seite ist unsere Kultur des Furchtbaren Halbmonds, die für alle Religionen und Volksgruppen offen ist, die für kulturelle Vielfalt und Toleranz steht, die zwar politische Unterdrückung, nie aber ethnische Säuberungen kannte. Und auf der anderen Seite kämpft die dogmatische Kultur der Wüste, der Wahabiten und Salafisten Saudi-Arabiens und der Golfstaaten.« Sie selber und viele arabische Intellektuelle fragten sich, warum der Westen, der Demokratie, Freiheit und Toleranz predige, sich in diesem Krieg mit einer Kultur verbünde, die das Gegenteil repräsentiere. »Der Westen macht sich gemein mit einer Kultur der Intoleranz, die alles bekämpft, was sie nicht versteht und was nicht in ihr Weltbild paßt.«

* Aus: junge Welt, Samstag, 13. Juli 2013


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