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Libanon steht vor einer neuen Zerreißprobe

Erwarteter Bericht des Tribunals zum Hariri-Mord birgt Zündstoff

Von Karin Leukefeld, Beirut *

Die Stabilität Libanons steht erneut auf dem Spiel. Das sagt die Internationale Krisengruppe in einem neuen Bericht voraus, der in Libanon mit Sorge zur Kenntnis genommen wird.

Innerlibanesische Beziehungen, die Legitimität der Hisbollah, die Regierung der nationalen Einheit, die syrisch-libanesische Versöhnung – alles könnte ins Wanken geraten, wenn der für Ende des Jahres erwartete Bericht des UN-Sondertribunals für Libanon (STL) zur Aufklärung des Mordes am früheren Ministerpräsidenten Rafik Hariri veröffentlicht wird, meint die von westlichen Regierungen finanzierte Internationale Krisengruppe (ICG).

Während UNO-Generalsekretär Ban Ki Moon, US-Außenministerin Hillary Clinton, der französische Präsident Nicolas Sarkozy und alle ausländischen Verbündeten des derzeitigen Ministerpräsidenten Saad Hariri fast täglich dazu auffordern, die Legitimität des Tribunals anzuerkennen, äußern vor allem die politische Opposition um die schiitische Hisbollah (Partei Gottes), Syrien und Iran ihre Ablehnung. Das Tribunal sei ein US-amerikanisch-israelisches Projekt, um die Hisbollah niederzumachen, erklärte kürzlich deren Führer Hassan Nasrallah. Nach Jahren einseitiger Ermittlungen aufgrund von Aussagen »falscher Zeugen« sei die Einrichtung unglaubwürdig.

Das vom UN-Sicherheitsrat (Resolution 1664/2006) [externer Link] eingesetzte Tribunal erregt die Gemüter in Libanon. Die Kommunistische Partei, die an diesem Wochenende ihren 86. Geburtstag feiert, lehnt es nach Auskunft der Verantwortlichen für internationale Beziehungen, Marie Debbs, von Anfang an ab. Libanesische Gerichte hätten den Mord selber aufklären müssen und können, meinte Debbs gegenüber ND. Unterstützung durch ausländische Richter wäre dabei willkommen gewesen, aber kein UN-Sondertribunal. Das Tribunal sei unglaubwürdig, weil es mit der USA-Politik in der Region zu tun habe: Je mehr Probleme die US-Amerikaner hätten, desto mehr Druck machten sie, betonte Debbs.

»Das UN-Sondertribunal zum Mord an Hariri wird noch für ein gewaltiges Blutbad sorgen«, glaubt ein Libanese mit europäischem Pass in der Hauptstadt Beirut. Bei Ingwersaft und Salat lässt er seiner Frustration über die Situation in seiner Heimat freien Lauf, bittet aber darum, anonym bleiben zu dürfen. Ein weiteres Blutbad wäre nötig, um Libanon und seinen bewaffneten Gruppen endlich den Garaus zu machen, meint er. Nur so gäbe es die Chance auf Demokratie. Sein Groll richtet sich gegen die Hisbollah, die er für die instabile Lage voll verantwortlich macht. »Wenn das Tribunal die Anklage eröffnet, gibt es hier Krieg.«

Diese Angst hat auch Khodr Nasrallah, ein blinder Schlosser, der mit Frau und drei Kindern in Khana, in Südlibanon lebt. Während des Krieges 2006 fand er mit seiner Familie Zuflucht im palästinensischen Flüchtlingslager Ain al Hilweh bei Sidon, vier Jahre später verfolgt er die Nachrichten im Radio mit Sorge. An geheimen Orten sammelten sich bewaffnete Islamisten, die von Saudi-Arabien und anderen Kräften finanziert würden. Das habe man schon einmal 2007 im Palästinenserlager Nahr al Bared erlebt. »Sobald das Tribunal die Anklage erhebt, werden sie zuschlagen, denn sie hassen uns Schiiten«, ist der Schlosser überzeugt. Es werde einen furchtbaren Kampf und viele Tote geben, doch Hisbollah werde diesen Krieg gewinnen.

* Aus: Neues Deutschland, 23. Oktober 2010


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