Zwischen Niemandsland und Vier-Sterne-Hotel
Wie libanesische und palästinensische Flüchtlinge in Syrien unterkamen
Von Hans-Martin Gloël, Damaskus *
Wo sich sonst die Schönen und die Reichen aus den Ländern des arabischen Golfs tummeln, posieren nun libanesische Flüchtlinge für ein Foto: Vor dem Panoramafenster in der Lobby des Ashtar-Hotels im syrischen Zabadani halten sie strahlend die gelbe Hisbollah-Fahne hoch, und kleine Jungs im Hassan-Nasrallah-T-Shirt grüßen mit Victory-Zeichen. Zumindest hier, 45 Kilometer nördlich der syrischen Hauptstadt Damaskus funktioniert die arabische Solidarität. Nachdem die meisten Touristen zu Kriegsbeginn das Vier-Sterne-Hotel am Fuße des Antilibanon-Gebirges fluchtartig verlassen hatten, fällte der Besitzer eine Entscheidung: Das Hotel gehört in dieser Sommersaison den Flüchtlingen aus dem Libanon. »Die Syrer versorgen uns mit allem, was wir brauchen«, sagt Umm Ahmed Najem, die vor den Bomben im Südlibanon geflohen ist.
Solidarität und ihre Grenzen
Weit über 200000 Flüchtlinge – manche Quellen sprechen von bis zu 400000 – fanden in Syrien Aufnahme in Privathäusern, Parteigebäuden, Schulen, Kirchen und Moscheen. Syrien hat seine Grenzen geöffnet für Menschen, die meist nichts bei sich hatten als die Kleider an ihrem Leib und oft sogar ohne Papiere ins Land kamen. Wer die Grenzformalitäten in Friedenszeiten kennt, weiß, was das bedeutet. Hunderttausende von Libanesen aus dem Süden Beiruts, dem Südlibanon und der Bekaa-Ebene, Palästinenser aus den Flüchtlingslagern bei Tyrus und bei Baalbek strömten ins Land. Syrische Familien haben Flüchtlinge an der Grenze empfangen und mit nach Hause genommen.
Wo aber bei Privatleuten und Wohlfahrtsorganisationen die Hilfsbereitschaft auch nach über einem Monat Krieg noch grenzenlos erscheint, da hat der Staat inzwischen seine Grenze markiert: Im Niemandsland zwischen dem von der israelischen Luftwaffe mehrfach bombardierten libanesischen Grenzposten Masnaa und dem syrischen Grenzposten Jdeide campieren nun die Menschen, für die sich die syrische Grenze geschlossen hat. Etwa 120 Menschen wurden hier gestoppt, vor allem Palästinenser, aber auch Iraker, Sudanesen und Äthiopier. »Wir sind hier die Vereinten Nationen«, spaßt Basil Tamim vom Palästinensischen Roten Halbmond mit Sitz in Damaskus. Er sitzt vor dem Ambulanzwagen, der den hier Gestrandeten als Ausgabestelle für die lebensnotwendigsten Dinge dient. Dann aber erwähnt Basil Tamim resigniert, daß bereits seit fünf Tagen wichtige Hilfslieferungen ausgeblieben sind. Es fehlt sogar an Matratzen, und so schlafen viele auf dem blanken Boden.
Es ist völlig ruhig an diesem sonst so quirligen Grenzübergang. Fast surreal erhebt sich hinter dem Ambulanzwagen und den Flüchtlingen ein »Dunkin Donuts« mit einem sehr gepflegten englischen Rasen davor – wie ein letzter Gruß aus dem ehemals so bunten Libanon. In Syrien sind diese Restaurantketten noch ebensowenig angekommen wie diese Flüchtlingen – wenn auch aus ganz anderen Gründen.
Nicht wenige Politiker würden wohl einiges dafür geben, könnte man die ganze Palästinafrage ebenso wie diese Flüchtlinge in ein Niemandsland verbannen. Umso heftiger drängt sie aber mit jedem neuen Kapitel des Konflikts im Nahen Osten auf die Tagesordnung. Für die Betroffenen hat die jüngste Flucht alte Wunden vertieft: »Es ist das zweite Mal, daß ich vor den Israelis fliehen muß!« sagt Umm Mohammed, die 1948 aus dem Hule-Tal in das Bourj-Al-Shemali-Camp bei Tyrus floh. Nachdem die Bewohner dort neulich »Luftpost von Israel« mit der Aufforderung, die Region zu verlassen, erhalten haben, sitzt Umm Mohammed nun mit ihrer Familie auf Decken vor einem Klassenzimmer der Al-Qastal-Schule in Damaskus, die zumindest für die Ferienzeit als Unterkunft dienen kann.
Ali, Ahmad und Rami aus einem Palästinenserlager bei Baalbek werden erst wirklich agil, als es um die Frage geht, ob sie gerne einen libanesischen Paß bekommen würden, um bei einer eventuellen Rückkehr in den Libanon nicht wieder als Flüchtlinge leben zu müssen. Da schütteln sie heftig den Kopf und protestieren entschieden: »Sicher würden wir uns im Libanon gleiche Rechte wünschen, aber wir haben ein eigenes Land. Wir verlangen, daß die UN-Resolution 194 erfüllt wird, die unser Recht auf Rückkehr nach Palästina festschreibt«, sagt Ali.
Butheina Rashid ist als Angestellte des Hilfswerks der Vereinten Nationen für Palästinaflüchtlinge (UNRWA) zuständig für die Versorgung der Vertriebenen. Die Großeltern der jungen Frau mit braunem Lockenkopf und herausforderndem Blick sind 1948 aus Nazareth nach Syrien geflohen: »Wir wollen nicht euer Mitleid,« ruft sie aus. »Der deutsche Außenminister hat in Israel nur von humanitären Dingen gesprochen. Macht endlich eine gerechte Politik! Schande über die demokratischen Regierungen die nur zusehen, wie wir wieder verjagt werden!« Und dann schließt sie ein leidenschaftliches Plädoyer für die Hisbollah an, die sich als einzige auch für die Sache der Flüchtlinge überzeugend einsetze: »Die Hisbollah steht über der Religion. Sie vertritt die Interessen aller Araber. Auch Christen und Sozialisten kämpfen in ihr mit.«
Abu Ali, ein Familienvater aus der Stadt Nabatieh im Südlibanon, pflichtet ihr bei und ergänzt: »Fast täglich hat Israel in den vergangenen Jahren die libanesische Souveränität verletzt – und nicht umgekehrt. Sie dringen in unseren Luftraum ein und töten auch außerhalb des Krieges immer wieder Zivilisten. Bei vergangenen Abkommen haben sie uns weder alle Gefangenen, noch alles Land zurückgegeben, um noch Anlässe für künftige Kriege zu geben.« Ohne diese Aggressionen, so Abu Ali weiter, »bräuchten wir keine Hisbollah. Die Waffen, die Israel einsetzt, dienen nicht der Selbstverteidigung, sondern letztlich einem Groß-Israel zwischen Nil und Euphrat. Wir aber wollen einen gerechten Frieden, bei dem keiner dem anderen mit Vernichtung droht.«
Traum von Koexistenz
»Wir leben gerne mit Juden zusammen«, sagt der alte Palästinenser Mahmoud aus Südbeirut, der 1948 aus Galiläa geflohen ist und jetzt auf wohl unabsehbare Zeit im Niemandsland feststeckt. »Wir haben immer mit Juden zusammengelebt. Sie glauben auch an den einen Gott wie wir. Das Konzept des Staates Israel hat aber dieses Zusammenleben zerstört. Als Israelis haben sie uns vertrieben. Wir können nicht in dieser Region mit einem Staat zusammenleben, der um seiner Identität willen Menschen vertreiben und töten muß.« Daß die Europäer Schuld an der Situation tragen, meint Ahmad Sukar, der 1948 aus Jaffa floh und bis vor wenigen Tagen in Südbeirut lebte: »In Europa wurden Juden über Jahrhunderte verfolgt und vernichtet, und wir sollen sie nun akzeptieren und die Folgen der europäischen Verbrechen bewältigen«, meint er.
Die meisten der Geflohenen würden wohl die Meinung des jungen Schiiten Abbas Musawi aus den südlichen Vorstädten Beiruts teilen: »Wir respektieren Juden als Gläubige und als Nachbarn. Aber weil der Staat Israel uns nicht als Nachbarn haben will, muß die Hisbollah auch Jerusalem einnehmen!« Bilal Abdullah aus Baalbek sieht die Dinge wesentlich nüchterner. Bei Ausbruch des Krieges war er gerade damit beschäftigt, den Auftritt von Feirouz für das große Baalbek-Festival im Jupitertempel zu organisieren. Die christliche Sängerin aus dem Libanon, die als »Goldene Stimme Arabiens« gilt, hätte in diesem Sommer viele tausend Gäste aus aller Welt nach Baalbek gelockt. Nun aber ist es gerade Bilal Abdullah, der die anderen aus ihren Träumen vom friedlichen Zusammenleben aufweckt: »Unser Flüchtlingsschicksal gehört zum Plan des ›Neuen Nahen Ostens‹. Die USA sagen, sie seien die Vorbild-Demokratie, die sie exportieren wollen. Es waren aber Europäer, die dort die Indianer fast ausgerottet haben. Jetzt macht Israel dasselbe in unserer Region mit uns. Diese Demokratie lehnen wir ab!«
Es ist, als wäre die sie umgebende Pracht der Lobby des Ashtar-Hotels bereits eine Vorbotin ihres Traums: Umm Ahmed Najem richtet sich in ihrem Louis-XVI-Sessel auf: »Nein, wir wollen nicht, daß Amerikaner und Israelis getötet werden. Aber wir wollen leben wie sie: in Frieden und Sicherheit. Wir wollen tanzen, singen und gut essen.«
Abgesehen davon, daß auch Amerikaner und Israelis ihre Sicherheit selbst als bedroht betrachten, würden wohl viele Umm Ahmeds Traum vom leben-und-leben-lassen teilen. Vorerst aber müssen die Menschen in dieser Region wieder und wieder die Folgen einer Politik der Vertreibung und Zerstörung bewältigen: Umm Ahmed Najem konnte sich nach dem Waffenstillstand vom 14.August als Libanesin auf den Weg machen, zurück in ihr Land. Am empfindlichsten trifft es aber die Palästinenser, deren Schicksal eine der Wurzeln des Nahostkonflikts ist: Die meisten von ihnen sitzen noch in Syrien oder zwischen den Grenzen fest. Flüchtlinge sind sie zwar im Libanon und in Syrien, aber hier müßten sie wieder ganz von vorn anfangen – irgendwo zwischen Niemandsland und Vier-Sterne-Hotel.
* Hans-Martin Gloël, Nürnberg, z. Z. Damaskus, hat zwei Jahre in Jerusalem studiert und zwei Jahre in Beirut als evangelischer Pfarrvikar gearbeitet.
Aus: junge Welt, 19. August 2006 (Wochenendbeilage)
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