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"... dass es im deutschen Interesse ist, nicht abseits zu stehen, wenn die beiden anderen großen europäischen Nationen mit dabei sind..."

Rede von Bundesaußenminister Fischer vor dem Deutschen Bundestag zum Kongo-Einsatz

Im Folgenden dokumentieren wir die Rede des deutschen Außenministers vor dem Bundestag anlässlich der Debatte über den Kongo-Einsatz der Bundeswehr vom 18. Juni. Eine kritische Kommentierung des Kongo-Einsatzes von Seiten der Friedensbewegung geht aus der Presseerklärung des Bundesausschusses Friedensratschlag vom 15. Juni hervor.


Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren!

Ich möchte mich bei den Mitgliedern des Hauses, die diese zugegebenermaßen schwierige Entscheidung zu treffen haben, schon jetzt im Namen der Bundesregierung recht herzlich bedanken. Es ist eine Entscheidung – der Bundesverteidigungsminister wie auch der Kollege Schäuble haben darauf hingewiesen –, die alles andere als einfach ist.

Es geht um einen Einsatz – ich möchte das an dieser Stelle nochmals unterstreichen –, bei dem das Hauptrisiko, ein nicht geringes Risiko, unsere französischen Partner zu tragen haben. Ich denke, auch dafür sollten wir dankbar sein. Es ist ein Einsatz, der vor allen Dingen zur humanitären Stabilisierung in einer Region dient, die seit vielen Jahren, nicht erst seit kurzer Zeit, Anlass zu größter Besorgnis gibt, wo wir bereits schlimme Dinge, humanitäre Katastrophen, Massenmorde bis hin zum versuchten Völkermord an den Tutsis, und – das füge ich hinzu – auch ein schlimmes Versagen der internationalen Staatengemeinschaft erleben mussten. Insofern werden wir uns als Teil der Staatengemeinschaft dort nicht heraushalten können und dürfen. Zumindest was die humanitäre Seite betrifft, scheint mir dies völlig klar zu sein.

Europa ist hier in einer ganz besonderen Verpflichtung. Der Kollege Struck hat darauf hingewiesen: Es handelt sich um eine europäische Mission, um eine ESVP-Mission. Die Hauptlast liegt bei anderen. Wir leisten unseren Beitrag vor allem im Transportsektor. Das ist eine zusätzliche Belastung; aber es wird kein Weg daran vorbeiführen, dass Europa hier seiner historischen wie auch aktuellen Verantwortung gerecht wird und seinen Beitrag zur Abwehr einer humanitären Katastrophe leistet.

Kollege Schäuble, ich weiß nicht, ob wir der Herausforderung in Afrika mit einem Konzept gerecht werden. Bei dem langen Bürgerkrieg in Angola hätte das beste Konzept nicht geholfen; das wissen Sie so gut wie ich. Die Frage der Region der Großen Seen, zu der der Ostkongo gehört, ist keine Frage eines besseren Konzeptes. Die Tragödie in Liberia, wo wir hoffen, jetzt wieder einen Schritt vorwärts gemacht zu haben, in Sierra Leone, die Entwicklung von Terrorismus in weiten Teilen, die Situation in Somalia und im Südsudan, um nur einige zu benennen, oder das mutwillig herbeigeführte Desaster in einem der potenziell reichsten Länder des südlichen Afrikas, in Simbabwe, durch die dortige Regierung, durch Mugabe, der sich mit allen Mitteln gegenüber der Opposition an der Macht halten will – all das sind meines Erachtens keine Fragen eines Konzeptes, sondern letztendlich Fragen eines geduldigen Ansatzes mit regionalen Partnern und des Bewusstseins, dass dieser Nachbarkontinent für uns von entscheidender Bedeutung ist.

Ich möchte hier ausdrücklich einem klugen Kommentator von der konservativen Seite, Hans-Peter Schwarz, widersprechen, der meinte, die Situation in Afrika liege nicht in unserem Interesse. Meine Damen und Herren, wenn dieser Kontinent, unser direkter Nachbarkontinent, beginnt, die furchtbare Instabilität, die dort herrscht, zu exportieren, ist das Sicherheitsinteresse der Europäer im 21. Jahrhundert direkt betroffen.

Deswegen gehört die Lösung der dortigen Konflikte aus meiner Sicht eindeutig mit in die europäische Verantwortung. Deutschland als einer der wichtigsten Mitgliedstaaten der Europäischen Union muss seinen Beitrag dazu leisten.

Im Bereich der Großen Seen sehen wir durchaus hoffnungsvolle Ansätze. Sie mögen morgen schon wieder in das Gegenteil verkehrt werden; aber dort wurde eine Entwicklung in Gang gesetzt, in deren Rahmen auch dieser Beitrag, der jetzt durch den ESVP-Einsatz, den europäischen Einsatz geleistet wird, eine politische Lösung voranbringen kann, eine politische Lösung unter Einschluss von Ruanda und Uganda. Das sind die entscheidenden Faktoren. Aber auch die innere Demokratisierung, ein neuer Konsens im Kongo, wird von entscheidender Bedeutung sein, um ein Minimum an Stabilität herzustellen.

Insofern, meine Damen und Herren, glaube ich, dass dieser Einsatz nicht nur unter humanitären Gesichtspunkten, sondern durchaus auch unter politischen Gesichtspunkten eine sehr wichtige Bedeutung haben kann und haben wird.

Ich verhehle hier nicht, dass wir uns nicht ganz sicher waren, ob es ein ESVP-Einsatz sein sollte oder eher eine „coalition of the willing". Die Bundesregierung wäre auch bereit gewesen, eine Koalition der Willigen zu unterstützen. Aber wir mussten zur Kenntnis nehmen, dass in den Gremien der Europäischen Union die Mehrheit anderer Meinung war, vor allen Dingen die beiden größten Partner, nämlich Großbritannien und Frankreich.

An dem Punkt ist es natürlich schon von entscheidender Bedeutung, dass wir im Konvent für Mehrheitsentscheidungen in der Außenpolitik kämpfen. Ich sage dabei ganz deutlich, dass der Einsatz von Soldaten kein Gegenstand von Mehrheitsentscheidungen sein kann. Unsere Position ist, dass dies eine nationale Entscheidung bleiben muss. Wenn wir aber eine politische Entscheidung gemeinsam treffen, dann müssen wir natürlich auch die Lasten, die sich daraus ergeben, gemeinsam schultern.

Ich erinnere mich noch gut an die Kritik zu Saint-Malo, wo gefragt wurde: Warum war Deutschland damals nicht dabei? Bezogen auf die jetzige Situation wird gefragt: Warum gibt es keinen NATO-Einsatz? Genau diese Möglichkeit ist in Saint-Malo von Blair und Chirac bereits ins Auge gefasst worden. Sie können den Briten alles unterstellen, aber nicht die Intention, die NATO zu schwächen. Diese Debatte kann man daher sehr schnell beenden, weil niemand intendiert, aus dieser Angelegenheit den Beginn einer eigenständigen europäischen Alternative zum transatlantischen integrierten Militärbündnis abzuleiten. Zumindest entspricht diese Haltung garantiert nicht der Position der Bundesregierung, und ich wage einmal die Unterstellung, dass dies auch nicht die Haltung Großbritanniens und anderer Partner ist.

Wir müssen uns in diesem Zusammenhang in Bezug auf die zukünftige europäische Sicherheits- und Verteidigungspolitik und die zukünftige europäische Außenpolitik auch darüber Klarheit verschaffen, dass es im deutschen Interesse ist, nicht abseits zu stehen, wenn die beiden anderen großen europäischen Nationen mit dabei sind und wenn diese beiden Bereiche mehr und mehr zusammengeführt werden. Es ist von entscheidender Bedeutung, dass wir auch diesen Aspekt – selbstverständlich unter Beachtung unserer Fähigkeiten und Möglichkeiten – berücksichtigen.

Ich stimme all denen zu, die sagen, Afrika sei kein verlorener Kontinent und dürfe kein verlorener Kontinent sein. Wir erleben es bei den Maghreb-Staaten, wo der Islamismus eine konkrete Herausforderung für die Stabilität ist. Wir erleben es in Westafrika – auch das möchte ich erwähnen –, wo arme Staaten, die in der ECOWAS zusammengeschlossen sind, für ihre Verhältnisse enorme Beiträge zur Stabilisierung auch im militärischen Bereich geleistet haben, um dort Krisenstaaten zu stabilisieren. Es waren erhebliche Beiträge, die geleistet wurden und die noch geleistet werden.

Natürlich setzen wir darauf, dass die Afrikaner verstärkt die Verantwortung für Frieden und Stabilität auf diesem Kontinent übernehmen. Deswegen freuen wir uns ganz besonders, dass sich auch Südafrika hier sehr stark engagiert. Ein Gesamtkonzept für Afrika wird nicht funktionieren. Deshalb setzten wir auf regionale Ansätze und regionale Stabilisierungsbemühungen; denn es ist ein großer Kontinent mit schweren und weit reichenden Konflikten. Europa kann sich aus diesen Konflikten nicht heraushalten, weil es dafür Verantwortung trägt und weil dieser Kontinent zugleich ein Teil unserer Sicherheit ist.

Die Operation Artemis zeigt, dass sich die Europäische Union dieser Dimension bewusst ist und dass sie in einer humanitären Notlage rasch und effektiv agieren kann. Die Europäische Union beweist also, dass sie handlungsfähig ist, wenn die großen Mitgliedstaaten zusammenarbeiten. Ich freue mich, dass auch der Deutsche Bundestag seinen Beitrag dazu leistet, indem er dieser Mission zustimmt.

Ich danke Ihnen.

Erschienen auf der Homepage des Auswärtigen Amtes am 19.06.2003

Siehe auch:
"Dieser Einsatz ist der erste, der ohne NATO-Mittel und NATO-Fähigkeiten von der Europäischen Union geführt wird"
Bundestag votiert für deutschen Militäreinsatz im Kongo. Wie es die Bundesregierung sieht (18. Juni 2003)
Bundesregierung beschließt Bundeswehr-Beteiligung an der EU-Friedensmission im Kongo
Kritik aus der Friedensbewegung: "Probelauf der europäischen Eingreiftruppe" (15. Juni 2003)


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