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Zentralasien bleibt ein Pulverfass

Beruhigung der Lage im kirgisischen Teil des Fergana-Tals nur oberflächlich

Von Irina Wolkowa, Moskau *

Die blutigen Juni-Unruhen in Kirgistan haben eine Region ins Schlaglicht der Öffentlichkeit gerückt, die der Westen bisher weitgehend ignorierte: Zentralasien. Bundesaußenminister Guido Westerwelle verband seine Teilnahme am OSZE-Außenministertreffen in Kasachstan mit einem Besuch im benachbarten Kirgistan.

Die Tomaten sind so groß wie ein Yokohama-Kürbis, auch Aprikosen bringen es auf Rekordmaße. Dunkelrote Kirschen liegen neben den kernlosen und zuckersüßen Weintrauben. Die Vielfalt der Obst- und Gemüsemärkte im Fergana-Tal fasziniert jeden Fremden.

Das knapp 22 000 Quadratkilometer große Tal, das sich Kirgistan, Usbekistan und Tadshikistan teilen, ist eine der wenigen Oasen Zentralasiens und hat die größte Bevölkerungsdichte auf dem Gebiet der ehemaligen UdSSR. Jeder Fußbreit Boden ist bestellt. Seit über 3000 Jahren schießt in den Aryks – schmalen Bewässerungsgräben mit starkem Gefälle – Wasser durch die sonnensatte Landschaft, spendet Kühle, tränkt Gärten und Felder. Zwei Reisernten bringen die Dekhane – die sesshaften Bauern – jährlich ein. Baumwollpflanzungen dehnen sich bis zum Horizont, wo die vergletscherten Fünftausender des Tienschan in den Himmel wachsen. Sie schützen das Fergana-Tal vor den rauen Winden aus den Steppen Kasachstans.

Doch die Idylle trügt. Das Fergana-Tal ist ein Pulverfass. Hier bündeln sich Konflikte wie kaum sonst irgendwo auf dem eurasischen Kontinent. Ureinwohner sind die mit den Iranern verwandten Ta-dshiken. Im 15. Jahrhundert stießen die Usbeken aus den Steppen Kasachstans nach Süden vor, später auch kirgisische Stämme. Beide sind ethnische Verwandte der Türken und nahmen es als Nomaden vor ihrer Südwanderung mit dem Islam nicht sehr genau. Schleier, die fünf täglichen Gebete und die komplizierten Reinigungsvorschriften störten bei den Wanderungen zu neuen Weideplätzen.

Während die Usbeken nach der Landnahme im Fergana-Tal sesshaft wurden wie die Tadshiken und von diesen den Hochislam übernahmen, taten sich die Kirgisen schwerer mit der Anpassung. Gefliesten Höfen mit Blumen, Obstbäumen und einem Wasserbecken wie bei Tadshiken und Usbeken kann die Mehrheit des Volkes bis heute keinen rechten Charme abgewinnen. Eine Pappel oder einen Maulbeerbaum halten sie für ausreichend, manche sogar einen Zaun für verzichtbar.

Lange spielten kulturelle und andere Unterschiede im Fergana-Tal keine Rolle. Die Bewohner lebten in ethnisch bunt gemischten Zwergstaaten und bezogen ihre kollektive Identität weniger aus ihrem Ethnos als aus dem gemeinsamen islamischen Glauben. Auch die 1936 gegründeten fünf Sowjetrepubliken waren multinationale Gebilde, in denen die jeweiligen Titularnationen nur über knappe Mehrheiten verfügten. Schon deshalb hatten deren Bewohner Probleme, ein Zusammengehörigkeitsgefühl wie in den europäischen Nationalstaaten zu entwickeln. Zumal selbst die Angehörigen der Mehrheitsvölker ihre Identität bis heute vor allem aus ihrer Zugehörigkeit zu Unterstämmen und Clans herleiten. Turkmenistan etwa ist nach wie vor keine Nation, sondern eine Konföderation von fünf Stämmen. Sprache und Alltagskultur der Kasachen im Norden und im Süden trennen Welten. Die Kirgisen unterscheiden nicht nur zwischen nördlichen und südlichen Stämmen, letztere teilen sich auch noch in rechten und linken Flügel. Jeder Kirgise sagt auf Anhieb, zu welchem seine Familie gehört. Das leistete der Bildung von Clanstrukturen Vorschub, die neben schattenwirtschaftlichen auch parallele Machtstrukturen aufbauen.

Er habe sie zu entmachten versucht, sagt Kirgistans erster Präsident Askar Akajew, sei jedoch gescheitert. Obwohl er lange fest im Sattel saß. Die Möglichkeiten der derzeitigen Präsidentin Rosa Otunbajewa und ihrer Übergansregierung, das Übel auszurotten, sind daher gering. Und damit auch die Chancen eines dauerhaften Abbaus der Spannungen im Fergana-Tal. Auf dem Gebiet jedes der drei Staaten Kirgistan, Usbekistan und Tadshikistan leben starke Minderheiten der anderen Völker. Im kirgisischen Teil bringen es Usbeken und Tadshiken sogar offiziell zusammen auf knapp die Hälfte der Bevölkerung. Die Usbeken selbst behaupten, sie seien sogar über 70 Prozent. In den Städten Osch und Dschalalabad stellten sie zumindest vor den Unruhen die intellektuellen Eliten, kontrollierten Handel und Wirtschaft und brachten es zu bescheidenem Wohlstand. Daraus resultierende Spannungen zu den Kirgisen wuchsen sich schon 1990 zu blutigen Kämpfen aus. Die Sowjetunion stellte Ruhe und Ordnung bald wieder her. Die Unruhen, die im Juni 2010 ausbrachen, sind dagegen womöglich nur der Beginn flächendeckender politischer Verwerfungen. Denn die Gräben verlaufen nicht an den ohnehin umstrittenen Staatsgrenzen. Ein Konflikt im kirgisischen Teil des Ferganatals kann jederzeit auf den usbekischen oder den tadshikischen überspringen.

Zumal alle drei Staaten um Zugriff auf Wasser und Energie kämpfen. Beides ist in der Region zwar reichlich vorhanden, aber höchst ungleich verteilt. Zu Sowjetzeiten organisierte Moskau den Ausgleich. Seit 1991 souverän, setzen die Staaten die Verfügungsgewalt über ihre Ressourcen nun gerne als politisches Druckmittel gegen die jeweils anderen ein. Kirgistan und Usbekistan waren schon mehrfach am Rande eines Krieges.

Nur oberflächlich hat sich die Situation im Fergana-Tal beruhigt. Westerwelle sagte Kirgistan am Freitag neben 500 000 Euro humanitärer Hilfe und 200 000 Euro für die Unterstützung der Parlamentswahl im Oktober noch 80 000 Euro für einen Versöhnungsdialog zu. Die Hilfe beim Krisenmanagement müsste jedoch durch Unterstützung für eine Lösung jener Probleme ergänzt werden, aus denen sich der Konflikt der Völker speist. Eine OSZE-Polizeimission reicht dafür nicht.

* Aus: Neues Deutschland, 17. Juli 2010


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