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Die Feindbilder sind auf Hochglanz poliert

Seit mehr als einem Jahrzehnt verhebt sich die internationale Friedens- und Konfliktforschung an den Kriegen im Kaukasus

Von Andrea Strunk*

Die Spekulationen darüber, wer wirklich hinter dem Kapitalverbrechen von Beslan steht, gehen in alle Richtungen. Waren es Tschetschenen oder doch Inguschen? Oder Verbände des Warlords Shamil Bassajew? Fanatische arabische Islamisten, verzweifelte Rebellen oder einfach nur abscheuliche Kriminelle? Und was zum Teufel, so fragt sich der Westen, bewegt tschetschenische Frauen, Kinder und sich selbst in die Luft zu jagen? Bar jeder Humanität - bereit an nichts mehr zu glauben, nicht einmal mehr an die Unverletzbarkeit eines anderen Lebens?

Flugzeugexplosionen, Entführungen, Massenmord - Tschetschenien, Ossetien, Inguschetien, Georgien. Der Kaukasus ist zu einem der hoffnungslosesten Flecken Europas geworden. Weinen möchte man über die Dunkelheit, die sich über die Region und um jene legt, die Gewalt und Terrorismus ablehnen und nun über einen Kamm geschoren werden mit den anderen, die meinen, das Schicksal des Kaukasus in ihre eigenen - meist gewalttätigen - Hände nehmen zu müssen. Und wüten möchte man über die Unfähigkeit der internationalen Gemeinschaft, die Konflikte rechtzeitig und klar zu sehen. "Wir alle sind in die tödlichste Tiefe gesunken", schreibt die Moskauer Journalistin Anna Politkowskaja - und sie meint damit nicht nur ihr eigenes Land.

Lange Zeit glaubten viele Politiker in Kerneuropa, die postsowjetischen Kriege im Kaukasus hätten nur für Russland und seine nächste Umgebung Konsequenzen. Das war schlagartig anders, als sich in die Kernzellen des Widerstands gegen die russische Präsenz in Tschetschenien der Terrorismus schlich. Die Verdacht, es handle sich bei einem Anschlag in Moskau, Tula oder anderswo um die "Handschrift tschetschenischer Terroristen" ist heute nicht nur in russischen Medien schnell formuliert (und das nicht unbegründet).

Nur das desaströse Schicksal Georgiens nach 1991 und die brüchige Waffenruhe an seinen Grenzen galten im Westen schon frühzeitig als Gefahr für den europäischen Frieden, was nicht allein auf den Transit von Erdöl- und Erdgastrassen, sondern wohl auch die gemeinsame Grenze mit der Türkei (und damit dem Südosten Kerneuropas) zurückzuführen war. Abchasien und Südossetien - zu Sowjetzeiten Teil des georgischen Territoriums - hatten sich 1991/92, als der damalige Staatspräsident Swiad Gamsachurdia unerträgliche nationalistische Töne anschlug, für eigenständig erklärt.

"Freedom´s just another word for nothing left to lose" - "Freiheit heißt, dass es nichts mehr zu verlieren gibt", sang zu Hippiezeiten Janis Joplin - und hätte es vor mehr als einem Jahrzehnt im Kaukasus wieder anstimmen können. Die Freiheit vom georgischen Staat allerdings, nach der sich Abchasen und Südosseten einst sehnten, ist heute ein schlechter Witz. Die Begründung für den mit Tausenden von Toten und Hunderttausenden von Flüchtlingen bezahlten Separatismus - die Angst um den Verlust der eigenen Wurzeln - kann nur noch als absurd empfunden werden, hält man sich vor Augen, wie sehr die Existenz beider Völker inzwischen russifiziert worden ist.

Am Sezessionismus in Georgien wird in exemplarischer Weise deutlich, wie im Kaukasus zwei elementare Prinzipien des Völkerrechts aufeinander stoßen. Einerseits will die georgische Regierung die territoriale Integrität des Staates gewahrt sehen, denn anders als bei Russland, dessen Staatlichkeit durch eine Abspaltung Tschetscheniens nicht existenziell gefährdet wäre, hatte der Verlust Abchasiens und Südossetiens den georgischen Staat erheblich ins Wanken gebracht. Andererseits kollidiert das Streben nach territorialer Unversehrtheit mit dem Recht des abchasischen, südossetischen oder auch tschetschenischen Volkes auf Selbstbestimmung. Die Vehemenz, mit der dieses Recht eingeklagt wird, ist mit geschichtlicher Erfahrung im 20. Jahrhundert zu erklären. In welchem Ausmaß zu Zeiten der Sowjetunion die Existenz einzelner Völker zur Disposition gestellt sein konnte, zeigt das Beispiel der Kalmücken. Dieses einst buddhistische Volk, das heute südöstlich der Wolga lebt und in den dreißiger Jahren auseinander gerissen wurde, hat seine Sprache und die Grundlagen seiner Religion vergessen. Ähnlich stellt sich das Los der moslemischen Meschteken dar, die von Stalin aus ihrer georgischen Heimat nach Kasachstan deportiert wurden. Die verbliebenen 30.000 Meschteken möchten längst - um ihrer Identität willen - in ihre alte georgische Provinz zurückkehren. Dort aber leben heute christliche Armenier. Vor dem absehbaren ethnischen Konflikt schreckt die georgische Regierung bisher zurück.

Geht es um ein aufschlussreiches zoologisches Phänomen?

Staatsgrenzen, die sich auf die Interessen der Mehrheit berufen und zugleich die Identität von Minderheiten wahren, das kommt im Kaukasus - aber keinesfalls nur dort - einer Quadratur des Kreises gleich. Im Fall Georgiens haben sich UNO und OSZE von Anfang an klar entschieden, das territoriale Recht des Staates über das Selbstbestimmungsrecht von Südosseten und Abchasen zu stellen. Ein Ansatz, der inzwischen den Zorn aller Beteiligten auslöst. Weil es nicht gelang, die territoriale Integrität Georgiens wiederherzustellen, pflegt die Regierung in Tiflis hanebüchene Verschwörungstheorien und spricht von vorsätzlichem Versagen der Vereinten Nationen, während Abchasen und Südosseten der UNO Parteilichkeit zugunsten der Georgier unterstellen.

Lösungsvorschläge und kluge Dokumentationen gibt es wie Sand am Meer. Gerade im Kaukasus ist aus Deutschland viel Geld in die Konfliktforschung und in Friedensinitiativen geflossen, fühlten sich Dutzende von Geisteswissenschaftlern berufen, ihren Ruf immer noch ein wenig lauter erschallen zu lassen. Kaum eine öffentliche oder private Stiftung, die nicht Symposien, Seminare oder Sommercamps veranstaltet hat. Da wurden Abchasen mit Georgiern, Georgier mit Osseten, Osseten mit Inguschen, Armenier mit Karabachern, Karabacher mit Aserbaidschanern, Tschetschenen mit Russen an einen Tisch gesetzt. Man aß Häppchen, tauschte Argumente, fand sich auf persönlicher Ebene angenehm. Ein Jahr traf man sich in Tiflis, im darauffolgenden in Baku, dann in Jerewan und zwischendrin in Bonn, Berlin oder Bad Honnef.

Das Problem vieler Friedenskonzepte blieb, dass sie im universitären Elfenbeinturm erstellt wurden und manche Konflikttheorie einfach an der Realität vorbeischrammte. Die Betroffenen wurden zwar konsultiert, aber nicht wirklich in die Konfliktlösung einbezogen. Auf den Hearings der Friedensforscher berichteten in der Regel die Mitarbeiter von Hilfsorganisationen über die Lage in den einzelnen Konfliktgebieten und klangen dabei so, als schilderten sie ein besonders aufschlussreiches zoologisches Phänomen.

Zwischenzeitlich ist mehr als ein Jahrzehnt über all den Thesenpapieren vergangen. Je nach Lesart der Konflikte wurden die Akteure im Kaukasus entweder brutalisiert oder romantisiert, sah man drohenden Terrorismus oder heroischen Freiheitswillen, Barbarei oder legitimen Widerstand. Mit dem Abstand des westlichen Blicks wurde entweder die Auffassung vertreten, dass es gelingen müsse, eine multiethnische Gesellschaft in ein staatliches Korsett zu zwängen oder dem Unabhängigkeitswillen einzelner Kaukasus-Völker absolute Priorität einzuräumen.

Auch die Argumente der regionalen Konfliktparteien änderten sich seit Anfang der neunziger Jahre kaum. Feindbilder wurden unverdrossen auf Hochglanz poliert. Aserbaidschaner unterstellten Armeniern, grausam und kriegsbesessen zu sein, umgekehrt galt der gleiche Vorwurf. Die Tschetschenen sahen die Russen als herrschsüchtige Eroberer, die wiederum den tschetschenischen Widerstand als das Werk entmenschter Terroristen. Die Georgier sprachen den Osseten jede Zivilisation ab, die Osseten den Georgiern dafür jedwede Toleranz. Die Abchasen behaupteten, die Georgier wollten sie auslöschen. Die druckten ihrerseits Bücher, in denen abchasische Gräuel in allen Einzelheiten geschildert wurden. Tamaz Nadareishvili, Abchasiens inzwischen exilierter Ex-Präsident, betreibt daheim Volksverhetzung, darf aber an deutschen Instituten ungehindert Vorträge halten.

Wird die westliche Friedensforschung in diesem Kontext nach Erfolgen befragt, hört man etwas über die Früherkennung und Vermeidung künftiger Konflikte. Bezogen auf die vorhandenen, heißt es, lokale Kriege konnten eingedämmt werden. Kein Krieg mehr - für viele Friedensforscher kommt das schon einem Frieden gleich. Nur dass diesem Quasi-Frieden Zehntausende von Flüchtlingen ein Leben im Zelt verdanken. Ohne Arbeit, ohne Bildung, oft ohne Wasser, Strom und ausreichende Nahrung - ohne all das, was einst ihr Leben war.

Muss der Westen Verständnis für archaische Sitten haben?

Warum können Hunderte von durchaus hilfswilligen Konfliktmoderatoren jahrelang ihre Gehälter von der OSZE oder der UNO beziehen, aber den Friedensprozess keinen Schritt voranbringen? Sicher wäre der Vorwurf verfehlt, die genannten Organisationen seien schlichtweg unfähig. Sicher ist es richtig, dass deren Handlungsspielraum enge Grenzen gezogen sind - aber ist das der Grund für ihr Scheitern?

Liest man die Vorschläge zur Konfliktvermeidung, verwundert deren ausgewogener Ton. Natürlich sind Konflikte geschichtlich bedingt, haben ihren Grund in der Angst um Lebensraum, um Wurzeln, Traditionen oder der Verteilung von Gütern. Aber ist das eine Entschuldigung für alles? Muss man Kriege führen und Kinder als Geiseln nehmen, um den Traditionen eines Volkes gerecht zu werden? Reicht es, einmal Land besiedelt zu haben, um darauf ewig Anspruch zu erheben? Basiert Zukunft vorrangig auf Vergangenheit? Und muss der Westen Verständnis für archaische Sitten haben, die auch zum Terror führen?

In Tiflis wurde im vergangenen Jahr ein Film gefeiert, der vom Kampf eines jungen Tschetschenen gegen russische Soldaten erzählt. Der Junge, gerade 14, setzt den Kampf seines Bruders fort, den russische Soldaten getötet haben. Die alttestamentarische Botschaft des "Auge um Auge" fand unter den Georgiern viel Sympathie und Zustimmung.

Dass man um Heimat und Ehre kämpfen, ja, dafür sterben muss, gilt im Kaukasus als moralisch unanfechtbar. Die daraus folgende Bereitschaft zum Krieg wird billigend in Kauf genommen - nur wenigen ist diese Heldenphilosophie suspekt. Gewiss ist es wünschenswert, an die Vergangenheit eines Volkes zu erinnern. Doch wer nur in der Vergangenheit lebt, der gibt mit einer solchen Gegenwart der Zukunft keine Chance.

Warum sollte ein föderalistisches Modell nicht möglich sein?

Führt man sich angesichts des Schreckens von Beslan, angesichts köchelnder Gewalt in Georgien, Dagestan und Inguschetien die Vergeblichkeit der Friedenssuche eines Jahrzehnts vor Augen, scheint Ruhe für den Kaukasus an drei - utopische - Bedingung gebunden: an die unbedingte Zurückhaltung der Großmächte Russland und USA, an ein umfassendes Friedenskonzept, das alle Konfliktparteien, inklusive des tschetschenischen Widerstandes, einbezieht (solange es an einer Stelle brennt, wird es in Gestalt von bezahlten Söldnern, nomadisierenden Terroristen und korrupten Politikern immer wieder genügend Pyrotechniker geben, die sich an diesem Feuer wärmen) und schließlich an die Eigenverantwortung der Betroffenen. Wie gesagt, utopische Vorstellungen - nichts davon ist derzeit erfüllbar.

Alan Parastajew, Leiter einer südossetischen Hilfsorganisation, glaubt, Fortschritte seien nur möglich, wenn der Status der separatistischen Gebiete ignoriert würde und jedes Land eine Weile sich selbst überlassen bliebe. Die Menschen sollten Zeit haben, sich wieder auf ihre Nachbarschaft, ihre Gemeinsamkeiten und sich selbst zu besinnen. Derartige Überlegungen lassen den Hinweis angebracht erscheinen, dass es in Russland - um nur ein Beispiel zu nennen - viele nationale Minderheiten gibt, die mit ihrer Nicht-Autonomie gut auskommen und keinerlei Ambitionen auf Eigenstaatlichkeit hegen.

Die abchasische Dichterin Nadjeschda Wenediktowa schrieb vor Jahren, nur die Überwindung des nationalistischen Gedankens könne zu einer Lösung führen, die Völker des Kaukasus sollten sich von der Folie nationalstaatlicher Selbstbestimmung lösen, aber auch die territoriale Einheit nicht mit allen Mitteln verteidigen. Statt dessen müsse man versuchen, diese Entwicklungsstufe zu überspringen und sich am Muster der Europäischen Union zu orientieren. Warum sollte es nicht möglich sein, die Staatlichkeit im Kaukasus zugunsten eines integrierten, föderalistischen Modells zu überwinden, das am Ende den Widerspruch zwischen Unverletzbarkeit der Grenzen und Selbstbestimmung der Völker abschwächen könnte?

Ob Frieden im Kaukasus möglich wird, hängt davon ab, wann der Leidensdruck groß genug ist, um solchen, von der Vernunft getragenen Lösungen näher zu treten. Ansätze hat es mit der Idee von einer "Kaukasischen Föderation" 1917 wie auch 1992 schon einmal gegeben - beide Versuche scheiterten an den damaligen politischen und sozialen Bedingungen. Gelänge es, für ein solches Konstrukt ein tragfähiges Fundament zu schaffen - ein dritter Versuch könnte erfolgreich sein.

* Aus: Freitag 38, 10. September 2004


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