Tschetschenien: Grob verputzte Friedensfassade
Prekärer Schwebezustand nach Attentatswelle
Jede Normalisierung kollidiert mit einer archaischen Kriegs- und Clanökonomie
Von Ulrich Heyden, Grosny
Im Folgenden dokumentieren wir Ausschnitte aus einem Artikel der Wochenzeitung "Freitag":
Nach erneuten Kampfhandlungen in Tschetschenien hat
Verteidigungsminister Sergej Iwanow den schon begonnenen Abzug
russischer Truppen aus dem Nordkaukasus vorerst gestoppt und dies mit
einer Serie von Attentaten tschetschenischer Separatisten gegen russische
Militärbasen und die Moskau treue Verwaltung von Premier Stanislaw
Iljasow in Grosny begründet. Ursprünglich sollte das Militärkorps bis zum 31.
August von 80.000 auf 22.000 Mann reduziert werden.
... Tschetscheniens Ex-Präsident
Aslan Maschadow hält sich irgendwo in den Bergen der Kaukasusrepublik
versteckt und steht zusammen mit seinem Feldkommandeur Schamil
Basajew auf russischen Fahndungsplakaten. Weil die islamische Ordnung
in Grosny gestürzt wurde, müssen tschetschenische Schulabgänger ihre
Abschlüsse nach russischen Standards nachholen. Sie erhalten dann
»Testate« mit dem Doppeladler des Zaren.
Im Zimmer des Direktors hängt eine große Weltkarte, Geografie ist
Musajews Leidenschaft. »Die Schüler sollten wissen, was draußen in der
Welt passiert«, meint der Mann mit dem feingliedrigen Gesicht, »doch die
islamische Regierung in Grosny wollte sie stattdessen isolieren. Jungen
und Mädchen wurden in den Schulen wieder getrennt. Wir mussten in den
Lehranstalten Gebetsräume einrichten, obwohl es bis zur nächsten
Moschee nur ein paar Schritte waren.« - Musajew erinnert sich ungern
jener großen Macht der Wahabiten, die in Grosny keine Skrupel hatten,
Leute auszupeitschen, Mädchen die Mini-Röcke zu zerreißen oder sie
einfach mitzunehmen.
... In der Luft liegt penetranter Benzingeruch. Die Abgase Hunderter
Kleinraffinerien verteilen sich über die ganze Region. Am Straßenrand wird
das selbst hergestellte Benzin für fünf Rubel (26 Pfennig) pro Liter verkauft.
Aber nicht nur Abgase liegen in der Luft. Von brennenden Ölquellen - über
die ganze Republik verteilt - steigen schwarze Qualm-Säulen gen Himmel.
An anderen Bohrlöchern wird Öl gefördert. Doch die »verfassungsmäßige
Ordnung«, die Präsident Putin versprach, sucht man an den
Pumpstationen vergeblich - es herrscht eine archaische Nachkriegs- und
Clanwirtschaft. Zumeist haben sich dubiose tschetschenische
Familiencliquen die Verfügung über die Bohranlagen gesichert. Um das Öl
zu den Mini-Raffinerien oder in die Nachbarrepubliken Dagestan oder
Inguschetien zu leiten, werden russische Polizisten bestochen.
In gewisser Weise signalisieren die gewaltigen Qualmsäulen einen
unerbittlichen Verteilungskampf, denn oft lässt der russische Ölkonzern
Rosneft selbst Quellen anzünden, um dadurch den tschetschenischen
Rivalen Grosneft zur Kapitulation und in die Fusion zu treiben. Dass es an
den Förderstellen nicht mit rechten Dingen zugeht, bestätigt auch der von
Moskau inthronisierte tschetschenische Premier Stanislaw Iljasow, wenn
er erklärt, täglich würden in der Kaukasusrepublik 1.500 Tonnen Öl
gefördert - die gleiche Menge aber auch gestohlen oder verbrannt. Deshalb
habe der Kreml jetzt »die Kontrolle der Ölressourcen selbst übernehmen
müssen«. Was sich dadurch ändern soll, sagt Iljasow nicht.
Doch es ist nicht nur ein illegaler Öl-Handel, der die Kaukasusrepublik
zerrüttet. In ihrer Not reißen die Menschen Kabel aus den Straßen und
kappen Stromleitungen, um sie an Schrotthändler zu verkaufen. Baufirmen
lassen aus merkantilem Interesse Häuser einstürzen. An krimineller
Energie fehlt es auch russischen Soldaten nicht, die an den
»Block-Posten« ihr »Wegegeld« eintreiben. Viele Tschetschenen müssen
bis auf weiteres zwischen den Flüchtlingscamps im inguschetischen
Nasran und Grosny pendeln, da ihre Häuser noch nicht wieder bewohnbar
sind oder ständige Schießereien einen dauerhaften Aufenthalt in der
Hauptstadt verhindern. Wie eine Befragung des UN-Kommissariats für
Flüchtlingsfragen (UNHCR) unter 150.000 Refugées in der Republik
Inguschetien ergab, will bis Jahresende nur ein Viertel zurück, zwei Drittel
der Befragten denken »irgendwann später« an Heimkehr - neun Prozent
wollen Tschetschenien für immer den Rücken kehren.
Ende Mai, auf einer Tagung der russischen Nationalen Sicherheitsrates,
räumte Innenminister Boris Gryslow ein, viele tschetschenische
Ortschaften würden nach wie vor nachts von den Separatisten kontrolliert.
Deshalb sei eine »neue Taktik« unverzichtbar, sprich: der Einsatz
tschetschenischer Patrouillen an diesen neuralgischen Punkten. ...
Als russische Truppen Anfang des Monats mit einem massiven Aufgebot
den Markt von Grosny »säuberten«, war diese Razzia mit der
tschetschenischen Seite »nicht abgestimmt«. ... Bürgermeister Bislán Gantamírow, der von Wladimir Putin
persönlich eingesetzt wurde, hielt das für »einen eklatanten
Vertrauensbruch mit schwerwiegenden Folgen«, immerhin wurden drei
Marktwächter während der »Säuberung« erschossen.
Bei Bislán Gantamírow handelt es sich um eine ausgesprochen schillernde
Figur. Anfang der neunziger Jahre war er vom damaligen
tschetschenischen Präsidenten Dudajew schon einmal zum Bürgermeister
von Grosny ernannt worden. 1993 wechselte er die Seiten und suchte als
Geschäftsmann Zuflucht in der tschetschenischen Diaspora. Als Grosny
1995 durch russische Truppen besetzt wurde, avancierte Gantamírow
prompt wieder zum Bürgermeister, veruntreute dann aber
Wiederaufbaugelder, musste ins Gefängnis (bis ihn Wladimir Putin
begnadigte), durfte sich bald als Kommandeur tschetschenischer
Freiwilligenverbände bewähren und ist nun seit 14 Monaten erneut
Stadtoberhaupt. Als solcher resoluter Vollstrecker eines
Anti-Terrorismus-Programms. Angesichts der jüngsten Morde an
russischen Zivilisten in Grosny erließ Gantamírow Order, die Täter auf der
Stelle zu erschießen. Putins Menschenrechtsbeauftragter Wladimir
Kalamanow war entsetzt und ließ wissen, diese Äußerung habe nichts mit
der Position des Kremls gemein. ...
Schließlich ist da auch der letzte Tschetschenien-Report des Europarates,
in dem von Massenverhaftungen, Folter und Exekutionen gesprochen wird.
300 in den vergangenen anderthalb Jahren gegen die Zivilbevölkerung
begangene Verbrechen finden sich dort aufgelistet und mit dem Hinweis
versehen, dass nur in fünf Fällen die Täter verurteilt wurden. Ustam
Bajsajew - Mitarbeiter der Menschenrechtsorganisation Memorial - meint,
dass besonders viele junge Tschetschenen einen »großen Hass auf die
Russen« empfänden: »Sie träumen davon zu kämpfen, weil sonst nichts
existiert, die Schulen, die Universität von Grosny sind weitgehend zerstört,
die Familien verstreut oder tot. Da wirken Waffen, Uniformen, Religiosität
sehr anziehend. Die extremistischen Wahabiten wissen das zu nutzen ...«
- Bajsajew meint die »wahabitischen Kopf-Abschneider«, wie sie die
Propaganda in Moskau nennt, nachdem auf dem Schwarzen Markt in
Grosny Videos über die Folterung und Enthauptung russischer Soldaten
aufgetaucht sind.
Aus: Freitag 30, 20. Juli 2001
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