Von Kabul bis Baku und Skopje - Interessen, Mächte und Bündnisse
Vortrag von Detlef Bimboes beim Friedensbildungswerk Köln
Am 23. April 2002 referierte Detlef Bimboes (Wiesbaden) bei einer Veranstaltung des Friedensbildungswerks Köln i.V., des Kölner Friedensforums und der Gruppe Pax an! AK Frieden Köln über die aktuelle Lage im Kaukasus und in Zentralasien. Der Vortrag fußt auf einem längeren Beitrag, den der Autor beim letztjährigen Friedensratschlag gehalten hat und der demnächst veröffentlicht wird. Der Vortrag in der hier vorliegenden Form befindet sich auch auf der Homepage des Kölner Friedensforums (www.is-koeln.de/friedensforum/bimboes.htm).
1. Zentralasien und der Kampf um die Vormacht auf dem eurasischen Kontinent
Der Zusammenbruch der Sowjetunion hat die Vormachtstellung Russlands auf dem eurasischen Kontinent beendet und zugleich auf der gewaltigen Landmasse, die
Europa und Asien mitsamt der Arabischen Halbinsel und ihrer Golf-Region umfasst, ein tektonisches Beben ausgelöst. Die politischen und wirtschaftlichen
Grundmuster haben sich auf dem eurasischen Kontinent verschoben. Das Machtvakuum wird gefüllt, die politischen Karten werden neu gemischt. Die Europäische
Union steigt zu einer immer stärkeren politischen und wirtschaftlichen Weltmacht auf, neben sich ein geschwächtes, zum Kapitalismus zurückkehrendes, aber
rohstoffreiches und immer noch atomar hochgerüstetes Russland. Die wirtschaftliche Dynamik des ebenfalls zu einer Weltmacht aufsteigenden Chinas, die Indiens
und jene in anderen Teilen Asiens beginnt die globalen Grundmuster des Energieverbrauchs zu verändern. Konkurrenz und Rivalität beherrschen die Bühne. Der
Zugang zu Energieressourcen, Märkten und Handelsvorteilen bestimmt die Auseinandersetzungen.
Eine neue Weltordnung mit alten politischen Denk- und Handlungsmustern ist entstanden. Die die globalen Geschicke bestimmenden kapitalistischen Industriestaaten
- die USA und die der EU - bauen ihre Vormachtstellung auf dem eurasischen Kontinent aus, wobei die USA als führende Weltmacht ihre Position in diesem
Prozess unnachgiebig festigt. Die NATO ist zum allein dominierenden Militärbündnis aufgestiegen, sie dehnt sich aus und ordnet unter Führung der USA die Welt
nach eigenem Gutdünken. Geltendes Völkerrecht, die UNO und die OSZE werden beiseite geschoben. Statt europäischer Sicherheitsordnung, statt Frieden und
Abrüstung ziehen Aufrüstung, Gefahren internationaler Verwicklungen, Krisen und Kriege herauf. Zahlreiche Bürgerkriege, der dauernde und derzeit wieder blutig
eskalierte Nahost-Konflikt, die beiden Golf-Kriege, der Jugoslawien-Krieg, das Menetekel des 11. September 2001 und der Sturz des Taliban-Regimes in
Afghanistan, die neuerlichen Spannungen zwischen den beiden Atommächten Pakistan und Indien, Flucht und Vertreibung sind erste Vorboten. Die Grenzen
zwischen Krieg und Frieden verschwimmen.
Ressourcenkriege um die letzten Öl- und Gasvorräte drohen. Die Lage spitzt sich zu. Der Öldurst der Industriestaaten ist gewaltig und hält ungebrochen an.
Spätestens in 10 Jahren dürfte die Hälfte der globalen, leicht förderbaren Erdölvorräte - bezogen auf die Ausgangsmenge seit Beginn des Ölzeitalters - verbraucht
sein. Dann ist der Höchstpunkt erreicht, oder anders gesagt, „das Glas nur noch halb voll“, und die Zeit des billigen Erdöls vorbei. Dann werden die Preise ohne
wenn und aber immer stärker steigen und die wirtschaftlichen Belastungen wachsen und sich aller Voraussicht nach krisenhaft zuzuspitzen beginnen. Die noch
sicheren und leicht förderbaren Erdölvorräte werden auf ungefähr 180 Mrd Tonnen geschätzt (Campbell). Davon werden derzeit jährlich weltweit etwa 3,7 Mrd
Tonnen Öl verbraucht. Fast die Hälfte davon allein von den größten kapitalistischen Industriestaaten, den USA, der EU und Japan. Die aufsteigenden Konkurrenten
China, Indien und andere Staaten Asiens verbrauchen bislang zwar nur etwa 10 Prozent, haben aber jährliche Steigerungsraten von 20 - 30 Prozent. Der jährliche
Verbrauch wird also steigen. Allein diese wenigen Zahlen zeigen, dass unerbittliche Verteilungskonflikte ins Haus stehen, um sich die letzten Vorräte zu sichern.
Deshalb richten sich die Blicke auf die öl- und gasreichste Region der Erde, die sog. „strategische Ellipse“ (Folie 1). Sie reicht von der Arabischen Halbinsel über
den Irak und Iran bis nach Zentralasien. Es ist eine alte, immer wieder von Kriegen, Krisen und Spannungen um das Öl zerfurchte Region, in der noch ca. 70 % der
Welterdölreserven und ca. 40% der Welterdgasreserven lagern. Der größte Teil der Ressourcen ist in den Händen von OPEC-Mitgliedern und stärkt künftig noch
mehr die Marktmacht des OPEC-Kartells. Es ist deshalb kein Zufall, dass hier von den USA und der NATO verstärkt militärstrategische Vorkehrungen getroffen
werden, damit eine ungehinderte Zufuhr von Öl- und Gas für den Westen sichergestellt werden kann. Für die Öl- und Gasschätze der kaspischen Region werden
zwei Korridore gebraucht, über die das Öl und Gas ungehindert von Russland und dem Iran abfließen können. Der eine führt entlang des Südkaukasus über das
Schwarze Meer und den Balkan bzw. die Türkei an das Mittelmeer. Der andere Korridor führt von Mittelasien aus, vorbei am „Schurkenstaat“ Iran, über
Afghanistan an den Indischen Ozean. Ölwirtschaftliche und geopolitische Interessen vermischen sich in der Region. Wer hier die Macht hat, kann nicht nur auf die
Energievorräte zugreifen, sondern bestimmt - was noch wichtiger ist - über Pipelinerouten, Absatzwege und Zugänge zu den Weltmärkten. Gleichzeitig kann
herrschaftssichernd - politisch, wirtschaftlich wie militärisch - auf umgebende Regional- und Großmächte sowie sich entwickelnde Machtkonstellationen Einfluss
genommen werden. Es nimmt daher nicht wunder, dass die USA beginnen, sich in der zentralasiatischen Region längerfristig mit Militärstützpunkten zu verankern.
2. Die zentralasiatische und kaspische Krisenregion im Überblick
Zentralasien ist ein riesiges und religiös vom Islam bestimmtes Gebiet, dass über die mittelasiatischen Staaten Usbekistan, Turkmenistan, Tadschikistan, Kirgisien und
Kasachstan hinaus das zu China gehörende Sinkiang, die Mongolei sowie Afghanistan umfasst. Mein Vortrag wird sich im engeren nur mit den Konflikten in
Mittelasien beschäftigen, zugleich aber auch den Kaukasus einbeziehen. Denn der gegenüber Mittelasien, auf der Westseite des Kaspischen Meeres beginnende
Kaukasus gehört untrennbar zu dieser Krisenregion. Insbesondere das südliche Mittelasien, das teilweise an das Kaspische Meer angrenzt und der Kaukasus sind
ein alter Krisenherd, der in den vergangenen Jahrhunderten immer wieder zu Konflikten und Kriegen um politische Vormacht, von Wirtschafts- und Handelskriegen
erschüttert worden ist. Hier kämpften in der Vergangenheit das türkische, persische und russische Reich um Macht und Einfluss. Die Ölreichtümer am Kaspischen
Meer gerieten erst nach dem Debakel Russlands im Krim-Krieg, also nach 1856, zunehmend in das Visier russischer Wirtschaftsinteressen und dann der
europäischen Wirtschaftsmächte Frankreich, England und Deutschland. Erst nach dem II. Weltkrieg wurde es richtig still um diese Region. Der Zusammenbruch der
SU hat wieder zu gefährlichen Entwicklungen um die Öl- und Gasvorräte am Kaspischen Meer und im Kaukasus geführt. Acht neue selbständige Staaten
entstanden. Winzige Eliten, Clans und Oligarchien, die aus den ehemaligen kommunistischen Führungen in Partei und Wirtschaft entstammen, eignen sich die
Reichtümer an. Es sind Staaten mit undemokratischen Verhältnissen, zunehmender staatlicher Unterdrückung jeglicher Opposition und Regimekritik unter dem
Vorwand der Bekämpfung des Extremismus. Menschenrechtsverletzungen, religiöse und ethnische Spannungen sind an der Tagesordnung. Hinzu kommen krasse
Sozial- und Einkommensunterschiede sowie durchweg hohe Arbeitslosigkeit. Über die Hälfte der Bevölkerung lebt unter der offiziellen Armutsgrenze. Die
Wirtschafts- und Sozialsysteme funktionieren seit der Unabhängigkeit kaum noch. Ihr Aufbau kommt nur schleppend voran. So bewegt sich z. B. der Außenhandel
nur auf äußerst niedrigem Niveau, abgesehen von Kasachstan, das seine Energieexporte erheblich ausweiten konnte. Das gemeinsame Bruttosozialprodukt von
Kasachstan. Turkmenistan und dem zum Südkaukasus gehörende Aserbeidschan beträgt derzeit weniger als das Bruttosozialprodukt der Stadt Bremen! Zu diesen
Problemen gesellen sich, als wenn es nicht schon genug wäre, Drogenschmuggel, Waffenhandel, organisiertes Verbrechen und Terrorismus und regional
beklemmende Umweltprobleme.
Jeder Staat ist hier politisch und in seinen Interessen verwundbar. Der ganze Raum ringt um Staatenbildung und politische
Orientierung. Gefährliche Nationalismen sind entstanden, die insbesondere in Mittelasien das Spannungsverhältnis aus wiedererwachendem Islamismus und
regionalen oder spezifischen ethnischen Interessen übertünchen und so zur Festigung der bestehenden Machtverhältnisse in den einzelnen Staaten beitragen sollen.
Die komplizierteste Region ist aber die des Nord- und Südkaukasus. Der Nordkaukasus gehört zu Russland und besteht aus sieben Teilrepubliken, die von
zahlreichen Konflikten durchzogen sind. Herausragend sind die Konflikte in Tschetschenien mit bislang zwei Kriegen und einem fortdauernden Guerillakrieg. Im
Südkaukasus sind drei Staaten, nämlich Georgien. Armenien und Aserbeidschan entstanden. In allen drei Staaten gibt es bislang politisch ungelöste, lediglich
ruhiggestellte Konflikte in Abchasien, Südossetien und Berg-Karabach. Die kaukasischen Konfliktlagen, die alle mit der Geschichte verwurzelt sind, werden von
zahlreichen ineinander greifenden Faktoren geprägt: von einer einzigartigen ethnischen Vielfalt und einer Fülle an ethnisch-gebietsbezogenen Auseinandersetzungen,
die ihresgleichen auf dem Gebiet der ehemaligen Sowjetunion suchen. Wander- und Fluchtbewegungen in großem Stil haben in einigen Teilen der Region die
Zusammensetzung der ansässigen Bevölkerung schlagartig verändert. Das und die blutigen Konflikte sowie fortdauernde, marode Wirtschaftsverhältnisse haben zu
einer nur schwer beherrschbaren politischen Gemengelage geführt. Auch Russland befindet sich in einer äußerst schwierigen sozialen, wirtschaftlichen und politischen
Lage. Nach eigenen Schätzungen wird das Land noch 15 Jahre brauchen, um wenigstens das wirtschaftliche Niveau von Portugal zu erreichen. Russland versucht
seine Staatskasse durch verstärkte Rohstoff- und Technologieverkäufe aufzubessern. Im Mittelpunkt stehen der Verkauf von Erdgas, Erdöl und Rüstungstechnik.
2. Interessen, Mächte und Bündnisse
Die kaspische Region liegt am Schnittpunkt der Interessen Russlands, Chinas, Irans und der Türkei. Hinzu kommen die machtvoll vorgetragenen Interessen der USA
und die zunehmend geltend gemachten der EU. Die Region ist wieder zum Aufmarschgebiet der führenden kapitalistischen Industrieländer und ihrer Ölkonzerne, vor allem jener aus den USA und der EU,
geworden. Die Öl- und Gasvorräte sollen zu ihrer unmittelbaren Versorgung beitragen, von der zunehmend unsicheren Golfregion entlasten und als strategische
Reserve dienen. Zugleich sollen sie als Preishebel gegenüber dem OPEC-Kartell eingesetzt werden, dass zusammen mit den Golfstaaten, dem Irak und Iran weltweit
über die größten Vorräte verfügt und deren Bedeutung in Zukunft noch wachsen wird.
Neben den westlichen Industriestaaten haben Süd- und Südostasien wachsenden Energiebedarf. In Indien und China wächst der Bedarf dramatisch. Er steigt jährlich
um 20 bis 30 Prozent. Insbesondere China wird derzeit zum Konkurrenten westlicher, aber auch russischer Ölkonzerne. Es beteiligt sich in der kaspischen Region in
teilweise großem Umfang an der Erschließung von Ölfeldern in Kasachstan und Russland. Vor diesem Hintergrund liegen in der kaspischen Region die Themenfelder
„Konflikt und Instabilität“, „Energierohstoffe und Pipelines“ und die „Konkurrenz von Groß- und Weltmachtinteressen“ so nahe beieinander. Die Brisanz liegt darin,
dass innerstaatliche oder regionale Konflikte, begleitet von rivalisierenden Machtinteressen und Bündnissen, rasch von Zentralasien aus den ganzen eurasischen
Kontinent erfassen und zu kriegerischen Auseinandersetzungen führen können. Im Folgenden wird auf bestimmende Machtinteressen und Bündnisse in der
kaspischen Konfliktregion und russische Antworten kurz eingegangen.
2.1 Die Interessen der USA
Die USA sind weltweit der größte Ölverbraucher. Sie haben im Interesse ihrer Erdölwirtschaft sowie aus geostrategischen Gründen beträchtlichen Einfluss in der
Region gewinnen können . Die geostrategischen Absichten zielen darauf, jede Neuauflage einer Weltmacht auf dem eurasischen Kontinent schon im Ansatz zu
verhindern, die ihr gefährlich werden könnte.
Bereits Mitte der neunziger Jahre erklärten die USA den kaspischen Raum zur „Region ihrer nationalen strategischen Interessen“. Dafür braucht die USA die
NATO, denn nur über sie ist bislang eine stabile US-Hegemonie über Europa gewährleistet. Gefährlich werden könnte ihrer Hegemonie insbesondere eine Entente
zwischen der EU und Russland mit dessen Ressourcenreichtum, aber auch allein ein wieder erstarkendes Russland, das zur Weltmacht aufsteigende China und das
daneben zur regionalen Großmacht strebende Indien. Deshalb wird der Einfluss der NATO in der Krisenregion ausgebaut, verbünden sich die USA immer fester mit
der Türkei und den im Südkaukasus gelegenen Staaten Aserbeidschan und Georgien. Außerdem werden die Beziehungen mit Usbekistan stetig erweitert. Das
vorrangige Ziel richtet sich darauf, Russland für immer außenpolitisch einzudämmen und innenpolitisch zu schwächen. Dem NATO-Mitglied Türkei war und ist dabei
die Rolle zugedacht, einerseits den russischen Einfluss einzudämmen und andererseits eine politische Neuentfaltung Irans am Kaspischen Meer zu verhindern.
Strategischer Hebel, um Russland auszubooten und amerikanische Erdölinteressen durchzusetzen zu können, ist für die USA, das bisherige Pipelinemonopol
Russlands zu brechen. Das kann nur mit Pipelines erreicht werden, die das Öl und Gas ungehindert an Russland vorbeiführen und auf die Weltmärkte bringen
können. Für die USA kommen hier nur die zwei eingangs genannten Transportkorridore (Folie 2) in Frage. Eine erste kleinere Pipeline an das Schwarze Meer
konnte inzwischen realisiert werden. Neue große Ölfunde in Kasachstan haben inzwischen allerdings die Pläne der US-Regierung und daran interessierter
Ölkonzerne zum Bau der Pipeline Baku-Ceyhan mehr oder minder Makulatur werden lassen. Dafür gibt es inzwischen einen kostengünstigeren Weg auf die
Weltmärkte. Das bereits seit längerem verfolgte Pipelineprojekt über Afghanistan dürfte wieder aufgegriffen werden, sobald sich dort die politischen Verhältnisse
stabilisiert haben. Das aber kann noch dauern.
2.2 Die Interessen der EU
Bislang haben die Mitgliedstaaten der EU noch keinen gemeinsamen Nenner für ihre Politik in der kaspischen Region gefunden. Die Zusammenarbeit auf
europäischer politischer Ebene wird überwiegend noch mehr von wirtschaftlichen als von geostrategischen Überlegungen bestimmt. Darin drückt sich natürlich auch
aus, dass die EU bislang außenpolitisch und militärisch noch mehr von den Nationalstaaten getragen wird und eine Gemeinsame Außen- und Sicherheitspolitik erst
langsam am Entstehen ist. Wie dem auch sei, die EU verfolgt in der Region in jedem Fall langfristig angelegte Energieinteressen. Europäische Energiekonzerne
verfügen über eine starke Präsenz in den internationalen Konsortien, die die kaspischen Energieressourcen erschließen und ausbeuten wollen. Schließlich hängt
Europa bei Erdöl zu 60 Prozent, bei Erdgas zu 30 Prozent von Importen ab. Die EU setzt hierfür auf einen von Russland ungehinderten Zustrom aus der kaspischen
Region. Er soll über einen euro-asiatischen Transportkorridor ermöglicht werden, der ebenfalls über Georgien, Armenien und Aserbeidschan nach Europa führen
soll. Dieser Korridor deckt sich mit den Planungen der USA und knüpft zugleich natürlich an Interessen der Energiekonzerne an. Für sie zählt im Energiegeschäft die
Pipeline-Vielfalt. Diese steht für eine sichere und kostengünstige Versorgung und ermöglicht es auch, die einzelnen Lieferländer besser gegeneinander ausspielen zu
können.
Dennoch bestehen zwischen der EU und den USA trotz vieler Gemeinsamkeiten auch erhebliche Differenzen, was die Politik in der kaspischen Region betrifft. Die
EU will Russland allseitig in die europäische Wirtschafts- und Sicherheitspolitik einbinden. Vor dem Hintergrund bereits beträchtlicher Importe von Öl und Gas,
lukrativer Geschäfte und winkender Aufträge aufgrund des riesigen Modernisierungsbedarfs in Russland, aber auch wegen des geschichtlich belasteten Verhältnisses
zu Russland durch zwei Weltkriege und dessen andauernder schwieriger sozialer und wirtschaftlicher Gesamtlage hat die EU kein Interesse daran, das es zu einer
weiteren Destabilisierung in der Krisenregion und damit auch Russlands kommt. Die EU ist, das sei an dieser Stelle erwähnt, im Gegensatz zu den USA auch für eine
enge energiewirtschaftliche Zusammenarbeit mit dem Iran, die durch einen Krieg gegen den Irak schwer beschädigt würde.
Die EU fürchtet die Entstehung von neuen Blockbildungen in der Region, an denen die USA und eine Reihe von regionalen Akteuren arbeiten. Als Antwort darauf,
so wird weiter befürchtet, könnten sich Russland, China, Iran und Armenien enger zusammenschließen. Insgesamt sieht die EU ihre Energie- und
Sicherheitsinteressen dann gefährdet. Denn wer hier politisch bestimmt, beherrscht schließlich einen Teil des europäischen Gasmarktes und damit die
Preiskonditionen für Energieimporte. Damit sich im Vorfeld ihres Machtbereichs möglichst nichts entwickelt, was der EU nach innen und außen schaden könnte, hat
sie alle Staaten des Kaukasus, darunter Russland, in den Europarat aufgenommen und mit fast allen Staaten in der kaspischen Region Partnerschafts- und
Kooperationsabkommen geschlossen.
2.2 Die Interessen Deutschlands
Deutschland hat bislang keine allzu große Rolle in der mittelasiatischen und kaspischen Konfliktregion gespielt. Schließlich verfügt es nicht über Ölkonzerne von
internationalem Gewicht. Deshalb haben sich die wirtschaftlichen Interessen bislang vor allem auf die Modernisierung der staatlichen Infrastrukturen gerichtet, die
Voraussetzungen für den weiteren Zufluss von Kapital bilden. Da jedoch die meisten Staaten in dieser Region kaum Geld haben, sind natürlich auch die Investitionen
nicht sehr hoch. Trotzdem ist Deutschland inzwischen neben den USA zum wichtigsten Handelspartner in Zentralasien geworden. Diese relativ bescheidene Rolle
beginnt sich seit einiger Zeit zu ändern. Das Interesse Deutschlands als größtem europäischem Erdöl- und Erdgasimporteur an den kaspischen Energieressourcen
beginnt deutlich zu wachsen. Denn die Vorräte der Nordsee, die bislang seine Versorgung mit Erdöl zu gut einem Drittel sicherstellen, werden in absehbarer Zeit
erschöpft sein. Zur Absicherung deutscher Interessen sind inzwischen nach den Terroranschlägen vom 11.September 2001 und in Verbindung mit dem Beschluss
des NATO-Rats vom 12.09.2001 zum Bündnisfall entscheidende Voraussetzungen geschaffen worden. Mit dem Mandat des Bundestages vom 16.11.2001 zum
Einsatz bewaffneter deutscher Streitkräfte ist der Einsatzbereich der Bundeswehr um die Arabische Halbinsel, Mittel- und Zentralasien sowie Nordafrika und die
angrenzenden Seegebiete erweitert worden. In diesem Raum, der just der „Strategischen Ellipse“ mit den weltweit größten Vorkommen entspricht, werden von der
NATO verstärkt, wie eingangs dargelegt, Vorbereitungen für eine ungehinderte Zufuhr von Öl und Gas getroffen. Damit steht zu befürchten, dass Deutschland ein
weiteres Mal in seiner bisherigen Geschichte nach den Energieressourcen in der kaspischen Region unter Einsatz militärischer Mittel zu greifen versucht, wenngleich
auch diesmal nicht mehr allein, sondern in das europäische Machtgefüge eingebunden.
2.3 Russlands Interessen und Reaktionen
Russland versucht in seinem ehemaligen Herrschaftsgebiet dominierenden Einfluss zu behalten. Hierzu hat es nicht nur Minderheiten wie z. B. die Abchasen in
Georgien unterstützt und damit Konflikte geschürt. Vor allem hat es hierzu bis vor kurzem gezielt sein noch aus Sowjetzeiten stammendes Pipelinesystem eingesetzt.
Die Weiterleitung von Öl und Gas aus Mittelasien und dem Kaukasus auf die Weltmärkte ist bis heute in großem Umfang nur über russischen Boden möglich. Die
neuen Nationalstaaten sind ihrerseits bestrebt, sich so unabhängig wie möglich von Russland zu machen und suchen daher Anschluss an die USA und die
Europäische Union. Russland hat erst nach dem Machtantritt von Präsident Putin eine Gegenstrategie entwickeln und wirksam einsetzen können. Putins Außenpolitik
integriert Sicherheitspolitik mit den Interessen des russischen Energiekomplexes. Russland ist nicht auf dem Weg zu einer militärischen, sondern zu einer
Energiegroßmacht.
So steht inzwischen das russische Pipelinenetz allen Ländern in der zentralasiatischen Region offen. Auch die im Tschetschenien-Krieg zerstörte und für Russland
strategisch wichtige Nordpipeline ans Schwarze Meer (Folie 2) konnte durch einen „Bypass“ über Dagestan vor einigen Monaten wieder in Betrieb genommen
werden. Aserbeidschan leitet nun auch über diese Pipeline Erdöl auf die Weltmärkte. All das hat dazu beigetragen, das amerikanischer Einfluss, insbesondere der
US-Ölgesellschaften merklich zurückgedrängt werden konnte. Gleichzeitig werden europäische Energiekonzerne für den russischen Markt interessiert. Russland hat
der EU den Bau gemeinsamer Öl- und Gaspipelines vorgeschlagen. Hier investiert Russland in den nächsten Jahren viele Milliarden US-Dollar. Angesichts dieser
Entwicklungen räumt die EU inzwischen dem Ausbau der Transsibirischen Eisenbahn höhere Priorität als dem euro-asiatischen Transportkorridorprojekt ein. Damit
wird der russische Wirtschaftsraum besser erschlossen und zugleich der Zugang zu dem boomenden chinesischen Markt verbessert. Russland hat zudem der EU und
den USA zugesagt, deren Abhängigkeit vom OPEC-Öl zu verringern. Hierfür werden Zug um Zug Vorraussetzungen geschaffen. So ist vor kurzem eine neue
Ölpipeline von Kasachstan über russischen Boden ans Schwarze Meer in Betrieb gegangen, mit der vor allem vom US-ÖlKonzern Chevron gefördertes Öl auf den
Weltmarkt gebracht werden kann. Bislang haben US-Ölkonzerne wie Chevron das geförderte Öl über alternative, weniger direkte Routen auf den Weltmarkt
gebracht. Um dem Druck der USA besser begegnen zu können, versucht Russland sich sowohl in Europa als auch Asien zu verankern. Langfristig wird auf eine
Mitgliedschaft in der EU gesetzt. Immer wieder werden Signale über eine mögliche Mitgliedschaft in der NATO ausgesandt. Russland betrachtet diese
Organisationen seit geraumer zeit ganz offensichtlich wichtiger als die OSZE oder UNO. Die USA haben allerdings kein Interesse an einer Vollmitgliedschaft.
Angebote für eine begrenzte Mitgliedschaft zielen nur darauf ab, Russland die anstehende Osterweiterung der NATO schmackhafter zu machen. Russland ist es
gelungen, die Zusammenarbeit der mittelasiatischen Länder im Staatenverbund GUS zu verbessern und dadurch eine neue, wenn auch schwierig zu befestigende,
politische Nord-Süd-Achse zu schaffen. Stabile Beziehungen hat es zu Armenien und dem Iran. Auch zu China baut es seine Beziehungen aus, um in Zentralasien
den Einfluss der USA besser eindämmen zu können.
Vor eine besonders schwierige Situation sieht sich Russland im Nordkaukasus Kaukasus gestellt. Eine Abspaltung Tschetscheniens würde den Einfluss in der Region
weiter schwächen und zugleich seine territoriale Unverletzlichkeit in Frage stellen. Eine Ausbreitung der Konflikte auf den gesamten, instabilen Nordkaukasus wäre
dann nicht mehr ausgeschlossen. Für Russland ist das sehr gefährlich, weil dadurch das zerbrechliche Miteinander der russischen Regionen mit ihren vielen
Völkerschaften insgesamt ins Rutschen kommen könnte. Überdies besitzt der Nordkaukasus auch erhebliche militärstrategische Bedeutung als Truppenstützpunkt. Er
ermöglicht den Zugang zum Südkaukasus und zur gesamten türkisch-iranischen Grenze. Eine friedliche Lösung der blutigen Auseinandersetzungen in Tschetschenien
ist nicht abzusehen. Sie wird nicht ohne einen Interessenausgleich zwischen Regionen, Clans und Sippen möglich sein.
5. Ausblick
In Zentralasien ist es nach dem 11. September 2001 zu neuen Zuspitzungen und veränderten Kräftekonstellationen gekommen. In Afghanistan ist das
Taliban-Regime von den USA und mit Hilfe der Nordallianz militärisch gestürzt worden. In Mittelasien haben die USA damit begonnen, sich dauerhaft mit
militärischen Stützpunkten niederzulassen. Damit realisieren sie Schritt für Schritt ihre Ziele. Sie sichern ihre Hegemonialstellung auf dem eurasischen Kontinent,
verbessern den Zugriff auf die kaspischen Energieressourcen und können nun zugleich Russland und China von ihrem Hinterhof her direkt eindämmen und
schwächen. Inzwischen haben die USA mit der „Achse des Bösen“ weitere Angriffsziele, vorrangig den Irak und Somalia, markiert.
Diese Spirale der Gewalt darf sich nicht fortsetzen. Alle Anstrengungen müssen sich darauf richten, das die EU zu einer Friedensmacht wird, die Konflikte mit
friedlichen und zivilen Mitteln löst und die dafür die OSZE in Europa und in der mittelasiatischen und kaspischen Konfliktregion in den Mittelpunkt rückt. Das wird
kaum anders möglich sein, als das die EU eigenständig handelt, die beherrschende Stellung der NATO aufhebt und der USA nicht mehr die Führungsrolle überlässt.
In der alten Konfliktregion ist das bestehende Spannungspotential rasch abzubauen. Für eine friedliche und sichere Zukunft sind eine umfassend angelegte
Demokratisierung von Wirtschaft und Gesellschaft sowie zwischenstaatliche Kooperation unumgänglich. Den Frieden zu sichern heißt aber auch, endlich in der
internationalen Energiepolitik damit zu beginnen, allen voran die EU, sich unabhängiger vom Erdöl und Erdgas zu machen. Die Zukunft liegt in der Nutzung des
Potenzials an Erneuerbarer Energie, solarthermischer Energienutzung und Energieeinsparung. Hängt die Weltwirtschaft weiter wie bisher am Tropf des Erdöls, dann
wird der politische, ökonomische und militärische Druck weiterhin voll auf den Öl- und Gasvorräten in der Krisenregion lasten und bestehende Konflikte immer
wieder anheizen. Denn wie heißt es seit der Zeit immer wieder richtig, als die aufsteigenden imperialistischen Großmächte im ausgehenden 19. Jahrhundert das Öl als
Treibstoff für ihre Schlachtflotten entdeckten: Ölquellen sind Kriegsquellen.
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