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"Ein tapferer Soldat und kühner Anführer" / "Kriegsmann und Siedlungs-Pate"

Unterschiedliche Nachrufe zum Tod von Ariel Sharon


"De mortuis nihil nisi bene", hieß es bei den alten Lateinern - über Gestorbene soll man nur auf gute Weise sprechen - und im allgemeinen folgt die zivilisierte Welt dieser pietätvollen Empfehlung. Die folgenden Nachrufe auf den israelischen Offizier und Politiker Ariel Sharon bemühen sich einerseits ebenfalls darum, den Regeln des Anstands zu folgen, können auf der anderen Seite aber nicht umhin, das politische Wirken des ehemaligen Ministerpräsidenten kritisch zu beleuchten. Wir beginnen die Stellungnahmen mit einer offiziellen Erklärung des israelischen Außenministeriums; es folgen ein paar weniger lobhudelnde Artikel aus kritischer Sicht. An anderer Stelle haben wir einen älteren Artikel aus der Nahost-Zeitschrift INAMO dokumentiert: Ariel Sharon: "Ein israelischer Cäsar".


Zum Tode Ariel Sharons *

Am 11. Januar verstarb der ehemalige Ministerpräsident Ariel Sharon im Krankenhaus in Tal HaSchomer. Seit er im Januar 2006 nach einer Hirnblutung ins Koma gefallen war, hatte er nicht mehr das Bewusstsein erlangt.

Am Sonntag wurde der Sarg mit Sharons Leichnam vor der Knesset in Jerusalem aufgebahrt, damit die Öffentlichkeit von ihm Abschied nehmen konnte.

Am heutigen Montag, 13. Januar, fand ab 9:30 Uhr die offizielle Trauerfeier statt, an der viele Staatsgäste aus dem Ausland teilnahmen, unter anderem der US-amerikanische Vizepräsident Joe Biden und der deutsche Außenminister Frank-Walter Steinmeier. Um 14:00 Uhr Ortszeit wurde Ariel Sharon auf seiner Farm Schikmim neben seiner Frau Lili beigesetzt.

In der Botschaft des Staates Israel wird von heute an für drei Tage (13.1. bis 15.1.) ein Kondolenzbuch ausliegen, in das man sich jeweils von 13:00 bis 16:00 Uhr eintragen kann.

Präsident Shimon Peres sagte am Samstag: „Mein lieber Freund Arik Sharon hat heute seinen letzten Kampf verloren. Arik war ein tapferer Soldat und kühner Anführer, der sein Land liebte und den sein Land liebte. Er war einer der bedeutendsten Beschützer und wichtigsten Baumeister Israels. Er kannte keine Angst und fürchtete sich gewiss nicht vor Visionen. Er verstand es, schwierige Entscheidungen zu treffen und sie umzusetzen. Wir alle haben ihn geliebt und werden ihn sehr vermissen. Ich spreche Familie Sharon mein Beileid aus. Möge er in Frieden ruhen.“

Ministerpräsident Binyamin Netanyahu sagte in Reaktion auf die Nachricht vom Tode Sharons: „Der Staat Israel verneigt sich angesichts des Todes des ehemaligen Ministerpräsidenten Ariel Sharon. Ariel Sharon spielte für viele Jahre eine bedeutsame Rolle im Kampf um die Sicherheit des Staates Israel. Er war vor allem anderen ein mutiger Kämpfer und herausragender General, und gehörte zu den größten Kommandanten, die die Israelischen Verteidigungsstreitkräfte je sahen. Von Jugend an diente er dem israelischen Volk auf dem Schlachtfeld, als Soldat im Unabhängigkeitskrieg, als Kommandant im Sinai-Feldzug 1956 und im Sechs-Tage-Krieg, bis hin zur Schlacht um den Suez-Kanal, wo er eine entscheidende Rolle spielte und die ein Wendepunkt im Yom-Kippur-Krieg war. Nach seinem Ausscheiden aus der Armee, arbeitete er weiter für das israelische Volk in vielen Regierungsämtern und als 11. Ministerpräsident des Staates Israel. Das Andenken an ihn wird für immer im Herzen der Nation bestehen.“

Der US-amerikanische Vizepräsident, Joe Biden, betonte in seiner Traueransprache, Sharon sei immer meinungsstark gewesen und habe eine klare Motivation gehabt: „Wie alle bedeutenden Führungspersönlichkeiten hatte er einen Nordstern, der ihn leitete. Der Nordstern, von dem er nach meiner Beobachtung nie abwich. Sein Stern war das Überleben des Staates Israel und des jüdischen Volkes.“

Der ehemalige britische Premierminister Tony Blair zollte Israels ehemaligen Ministerpräsidenten ebenfalls Respekt und pries Sharons Leidenschaft im Kampf für das Wohlergehen des Staates Israel: „Die gleiche eiserne Entschlossenheit, die ihn auf dem Feld auszeichnete, hatte er auch in der Diplomatie. Wenn dies hieß, zu kämpfen, dann kämpfte er, wenn es hieß, Frieden zu schließen, suchte er den Frieden.“

Bundeskanzlerin Angela Merkel übermittelte Ministerpräsident Binyamin Netanyahu ihre Anteilnahme am Tod Sharons. In einer Pressemitteilung sagte sie: „Ariel Scharon war ein israelischer Patriot, der sich große Verdienste um sein Land erworben hat. Mit seiner mutigen Entscheidung, die israelischen Siedler aus dem Gazastreifen abzuziehen, hat er einen historischen Schritt auf dem Weg zu einem Ausgleich mit den Palästinensern und zu einer Zwei-Staaten-Lösung getan.“

Auch der Präsident des Zentralrates der Juden in Deutschland, Dr. Dieter Graumann, wies auf die historische Entscheidung des Gaza-Abzuges hin. In der Mitteilung Graumanns heißt es: „Auch als Politiker war Sharon immer eine starke, wenn auch umstrittene Figur. Besonders bemerkenswert bleibt seine Entscheidung, 2005 den Gazastreifen gegen heftigsten Widerstand aus den eigenen Reihen zu räumen. Mit dieser einseitigen Geste wollte er dem Frieden eine neue Chance ermöglichen. Dieser einseitige Schritt wurde aber leider niemals gewürdigt oder belohnt.“

Der Vorsitzende der deutsch-israelischen Gesellschaft, Reinhold Robbe, nannte Sharon eine der „markantesten politischen Führungspersönlichkeiten Israels“. Robbe sagte: „Scharon war Zeit seines Lebens stolz darauf, als Hardliner und Falke zu gelten. Als Konservativer ließ Scharon nie einen Zweifel an seinem Leitmotiv, nämlich sein Land mit allen zur Verfügung stehenden Mitteln zu verteidigen.“

* (Außenministerium des Staates Israel, 13.01.14)

Quelle: Newsletter der Israelischen Botschaft in Berlin, 13. Januar 2014


Kriegsmann und Siedlungs-Pate

Israels ehemaliger Regierungschef Arien Scharon starb nach acht Jahren des Komas

Von Oliver Eberhardt **


Der ehemalige israelische Regierungschef Ariel Scharon prägte Israel wie nur sehr wenige andere und gehörte gleichzeitig zu seinen umstrittensten Repräsentanten.

Ariel Scharon ist gestorben, doch verloren hat ihn Israel bereits vor acht Jahren: Anfang 2006 hatte der 1928 als Ariel Scheinermann im damaligen britischen Mandatsgebiet Palästina geborene ehemalige General und Politker am Vorabend einer geplanten Operation starke, durch einen Schlaganfall verursachte Hirnblutungen erlitten und war kurz darauf in ein Koma gefallen, aus dem er nie wieder erwachen sollte.

Mit seiner Erkrankung war, von einem Tag auf den anderen, eine der prägendsten, aber auch kontroversesten Persönlichkeiten aus dem öffentlichen Leben des Landes verschwunden. Seinen Platz nahmen Karrierepolitiker wie Ehud Olmert und Benjamin Netanjahu ein. In der politischen Landschaft begann eine Umgestaltung, die bis heute nicht abgeschlossen ist.

Denn kurz zuvor hatte Scharon den Likud-Block verlassen, knapp die Hälfte seiner Parlamentsfraktion und zugleich die Hälfte der Abgeordneten der Arbeiterpartei mitgenommen und die Partei Kadima gegründet, die in der politischen Mitte verortet sein sollte. Zwei Mal wurde sie nach seiner Erkrankung stärkste Fraktion im Parlament, bis sie bei den Wahlen im Januar auf gerade einmal zwei Mandate schrumpfte.

Auch wenn der Likud-Block heute mit Benjamin Netanjahu den Regierungschef stellt – sowohl für Arbeiterpartei als auch für den Likud war die Gründung der Scharon-Partei ein Schlag, von dem sie sich bis heute nicht erholt haben. Der Likud kam bei den jüngsten Wahlen auf gerade einmal 13,37 Prozent, wenn man den Wahlbündnispartner Jisrael Beitenu herausrechnet. Und auch die Arbeiterpartei, die bis 1977 das Land dominiert hatte, holte nur magere 11,39 Prozent der Stimmen.

Dass die Arbeiterpartei damals zuerst die Macht, und dann ihren Einfluss verlor – auch daran war Scharon maßgeblich beteiligt. Ursprünglich hatte er den Sozialdemokraten nahe gestanden. Nach einer jahrzehntelangen Karriere beim Militär, die er mit dem Ruf als Kriegsheld beendete, nachdem es ihm mit seinen Truppen im Jom-Kippur-Krieg gelungen war, den Suez-Kanal zu überwinden, hatte er als militärischer Berater erheblichen Einfluss auf den Beginn des Siedlungsbaus in den 1967 besetzten Gebieten. Und der begann unter den Regierungschefs der Sozialdemokraten. Sofort nach dem Sechs-Tage-Krieg ließ Scharon als Chef der militärischen Ausbildung Ausbildungszentren in das Westjordanland verlegen, um Angriffe frühzeitig abwehren zu können; wenig später wurden daraus dauerhaft bewohnte Siedlungen.

Doch nach Gründung des Likud-Blocks durch Menachem Begin im Jahr 1973 hatte er dann erheblichen Anteil daran, dass die neue Partei 1977 überraschend die Wahl gewann. Wie Scharon hatten auch viele Israelis die ständigen Skandale und Debatten über die Zukunft der besetzten Gebiete innerhalb der Arbeiterpartei satt, während sich der Likud als Hüter des Status quo gab: Es sei gut für die Sicherheit des Staates, dass man diese Gebiete habe, so Scharon damals. Er warb dafür, mehr Siedlungen zu bauen.

Dies brachte ihm den Ruf als Vater der Siedlerbewegung ein; ein Titel, der ihm nie genehm gewesen sei, wie er während eines Pressegespräches kurz vor der von ihm durchgesetzten Räumung der Siedlungen im Gazastreifen 2005 erklärte. Es sei nie seine Absicht gewesen, die Gründung einer Bewegung anzustoßen, die den Siedlungsbau in den besetzten Gebieten als religiöses Recht betrachtet. Für ihn sei ausschließlich wichtig, ob es der Sicherheit Israel nutzt. Die Siedlungsbewegung dagegen sei zur Bedrohung für die Sicherheit des Staates geworden. Es koste zu viel, sie zu schützen, sowohl finanziell als auch militärisch und diplomatisch.

Doch Scharon musste sich einen großen Teil seines Lebens auch selbst gegen den Vorwurf wehren, der Sicherheit des Landes zu schaden. Im Sicherheitsapparat galt er als Einzelgänger, als »beratungsresistent«, wie es ein ehemaliger Geheimdienstchef formulierte.

So sei er gewarnt worden, den Tempelberg zu betreten. Er tat es im Herbst 2000 trotzdem und löste damit Ausschreitungen in der Jerusalemer Altstadt aus, die in die zweite Intifada mündeten. Wobei Scharon noch 2005 jede Verantwortung dafür abstritt: Die Wakf, die muslimische Verwaltung der drittwichtigsten Stätte des Islam, habe zugestimmt; es habe keine Hinweise auf eine drohende Intifada gegeben – was der damalige Regierungschef Ehud Barak anders sieht: »Ich habe ihn mit Nachdruck darum gebeten, es nicht zu tun.« Aber Scharon habe abgewehrt, das bedeute, Schwäche zu zeigen. Und die Palästinenser würden den Schwachen an der »Nase herumführen«.

Sein wohl größter, fatalster Alleingang lag da schon fast 20 Jahre zurück: 1982 führte Scharon Israel als Verteidigungsminister in den Libanon-Krieg. Das offiziell kommunizierte Ziel der Operation »Frieden für Galiläa« war, die Kämpfer der Palästinensischen Befreiungsorganisation PLO an der Grenze zu Israel 40 Kilometer in Richtung Norden zu treiben. Doch plötzlich standen israelische Truppen vor Beirut. Es gilt heute unter Historikern als sicher, dass Scharons Plan von Anfang an gewesen war, Libanon zu einem Großteil zu besetzen und die Führung in Beirut gegen eine Israel freundliche Marionetten-Regierung auszutauschen. Unklar ist derweil, ob Regierungschef Begin davon wusste. Er sagte später, er habe davon erst eines Nachts durch den Anruf eines Mitarbeiters erfahren.

Im September 1982 wurde Scharons Ruf im In- wie im Ausland endgültig nachhaltig beschädigt. Seine Truppen hatten die palästinensischen Flüchtlingslager Sabra und Schatila umstellt und es Kämpfern christlicher Milizen erlaubt, die Lager zu betreten, obwohl zu dem Zeitpunkt bereits bekannt war, dass Gewaltakte zu befürchten waren. Die Folge war ein Massaker, dass bis zu 3500 Menschen das Leben kostete. Israels Truppen griffen nicht ein. In Folge wurde Scharon von einem Untersuchungsausschuss auf Lebenszeit vom Amt des Verteidigungsministers ausgeschlossen.

Dass er 18 Jahre später dennoch zum Regierungschef gewählt wurde, ist vor allem der Schwäche seines Gegenkandidaten zuzuschreiben. Für kurze Zeit wurden die Premierminister direkt bestimmt. Und sein Gegenspieler Ehud Barak, ebenfalls ein früherer Militär, hatte in einer ersten Amtszeit einen Großteil seiner politischen und öffentlichen Unterstützung verloren.

** Aus: neues deutschland, Montag, 13. Januar 2014


Abschied von Scharon in Jerusalem

EU-Kritik an Siedlungsplan ***

Israel nimmt Abschied von seinem früheren Ministerpräsidenten Ariel Scharon. Sein Sarg wurde am Sonntag vor dem Parlament in Jerusalem aufgebahrt. Staatspräsident Schimon Peres legte feierlich einen Trauerkranz vor dem Sarg nieder, der in eine weiß-blaue israelische Flagge mit Davidstern gehüllt war. Hunderte von Bürgern kamen auf den Platz, um Scharon die letzte Ehre zu erweisen. Er war am Sonnabend nach langer Krankheit im Alter von 85 Jahren gestorben. Der frühere Militär und Politiker hatte nach einem Schlaganfall acht Jahre im Koma gelegen. An diesem Montag ist eine offizielle Trauerfeier im Parlament vorgesehen, anschließend wird Scharon mit militärischen Ehren auf seiner Farm in der Negev-Wüste beigesetzt. Die USA sollen bei den Trauerfeierlichkeiten von Vizepräsident Joe Biden, Deutschland von Außenminister Frank-Walter Steinmeier vertreten werden. Steinmeier nannte Scharon am Wochenende einen »unermüdlichen Verteidiger seines geliebten Heimatlandes Israel«.

Israels Regierung hielt im Gedenken an ihn am Sonntag eine Schweigeminute ab. Das israelische Volk werde Scharon »für immer als einen der wichtigsten Anführer und mutigsten Kommandeure im Herzen behalten«, erklärte Regierungschef Benjamin Netanjahu. Verbittert äußerten sich Palästinenser. Auf Scharon warte nun Gottes Strafe, sagte das führende Fatah-Mitglied Dschamal Muhessen: »Er wird für seine Verbrechen bestraft werden, vor allem für Sabra und Schatila.«

Die Europäische Union hat derweil mit Besorgnis auf die Ankündigung Israels reagiert, neue Wohnungen für Siedler in den besetzten Palästinensergebieten bauen zu wollen. »Die Siedlungen sind nach internationalem Recht illegal, sind ein Hindernis für den Frieden und sie drohen, eine Zwei-Staaten-Lösung unmöglich zu machen«, erklärte die EU-Außenbeauftragte Catherine Ashton am Sonnabend. Sie forderte Israel auf, alle neuen Bauvorhaben in den besetzten Gebieten zu stoppen. Wie am Freitag bekannt wurde, plant die Regierung den Bau von mehr als 1800 weiteren Wohnungen. Die EU-Außenbeauftragte reist in dieser Woche in die Golfregion, wie aus Diplomatenkreisen in Brüssel verlautete. Stationen sind die Vereinigten Arabischen Emirate, Kuwait, Saudi-Arabien, Oman und Katar.

*** Aus: neues deutschland, Montag, 13. Januar 2014


Tod eines Kriegers

Israels Exregierungschef Ariel Scharon gestorben. In Erinnerung bleibt er als Verantwortlicher der Massaker von Sabra und Schatila

Von Knut Mellenthin ****


Ariel Scharon ist tot. Der frühere israelische Regierungschef starb am Samstag im Alter von 85 Jahren in einem Krankenhaus bei Tel Aviv. Seit einem schweren Schlaganfall am 4. Januar 2006 war sein Körper nur noch künstlich am Leben erhalten worden. Scharons Name ist untrennbar mit dem Massaker von Sabra und Schatila verbunden. Dort hatten libanesische Faschisten im September 1982 unter dem Schutz der israelischen Streitkräfte in einer zweitägigen Orgie sadistischer Gewalt zwischen 1300 und 3000 palästinensische Frauen, Kinder und Männer abgeschlachtet.

Scharon, 1928 im damals noch britischen Palästina geborener Sohn weißrussischer Einwanderer, schloß sich schon als Kind der zionistischen Jugendbewegung an, wurde mit 14 Mitglied einer paramilitärischen Organisation und im Herbst 1947 mit 19 Jahren Soldat. Der erste israelisch-arabische Krieg, der nach offizieller zionistischer Geschichtsschreibung erst nach der Staatsgründung im Mai 1948 begann, wurde in Wirklichkeit gleich nach der Teilungsresolution der UNO vom 29. November 1947 eröffnet. Ein wesentlicher Teil der Aktivitäten von Scharons Einheit bestand in diesem Stadium darin, arabische Dörfer zu überfallen und ihre Zufahrtswege abzuschneiden.

Nach dem 1949 geschlossenen Waffenstillstand gehörte Scharon Anfang der 1950er Jahre als Offizier zur »Einheit 101«, die – angeblich als Vergeltung für Angriffe palästinensischer Partisanen – regelmäßig nächtliche Vorstöße auf die Westbank unternahm, die damals von Jordanien kontrolliert wurde. Unter Scharons Verantwortung fand am 14. und 15. Oktober 1953 das Massaker von Kibya statt, bei dem die Einheit 69 Bewohner, mehrheitlich Kinder und Frauen, ermordete. Als Kommandeur von immer größeren Truppenteilen machte sich Scharon im Suezkrieg gegen Ägypten 1956, im Junikrieg 1967 und im Oktoberkrieg 1973 einen Namen. Sein Vorgehen, das sich durch große Risikofreudigkeit und Draufgängertum auszeichnete, war allerdings unter israelischen Politikern und Militärs oft umstritten.

Seit den frühen 1970er Jahren engagierte sich Scharon auch parteipolitisch mit großem Ehrgeiz. Er war 1973 maßgeblich am Zusammenschluß der Rechten zum Likud beteiligt, versuchte wenige Jahre später vergeblich sein Glück bei der Arbeitspartei und kehrte danach zum Likud zurück. 1977 übernahm die Partei unter Menachem Begin zum ersten Mal in der Geschichte Israels die Regierung. Scharon war Verteidigungsminister, als die israelischen Streitkräfte am 6. Juni 1982 in den Libanon einmarschierten. Das erklärte Ziel war, die PLO zu zerschlagen, die damals dort den Hauptteil ihrer militärischen Kräfte und politischen Strukturen hatte. Die Israelis rückten in wenigen Tagen bis Beirut vor und besetzten den Ostteil der Stadt, während die PLO unter Führung von Jassir Arafat in Westbeirut ausharrte. Unter Vermittlung der USA wurde schließlich ein »ehrenvoller Abzug« von rund 14000 palästinensischen Kämpfern in verschiedene Länder des Nahen Ostens und nach Tunesien vereinbart. Eine internationale Truppe – bestehend aus US-amerikanischen, französischen, britischen und italienischen Soldaten – übernahm den Schutz des Abzugs und der palästinensischen Flüchtlingslager.

Kurz nachdem die letzten bewaffneten Palästinenser am 1. September die libanesische Hauptstadt verlassen hatten, zog sich auch die internationale Truppe zurück. Scharon zögerte nicht lange und ließ in einem eklatanten Bruch der Waffenstillstandsvereinbarungen seine Streitkräfte am 15. September 1982 nach Westbeirut vorrücken. Die israelischen Truppen übergaben die Flüchtlingslager von Sabra und Schatila einer faschistischen Miliz, riegelten die Zugänge ab, so daß niemand entkommen konnte, und sahen dem Morden dann 36 Stunden lang zu. Viele Leichen waren grauenhaft verstümmelt, Frauen vor ihrem Tod vergewaltigt, junge Männer kastriert worden. Eine von der israelischen Regierung eingesetzte Untersuchungskommission kam ein Jahr später zu dem mildesten nur möglichen Ergebnis: Scharon trage eine Mitschuld an dem Massaker, da er fahrlässig und verantwortungslos gehandelt habe. Er mußte als Verteidigungsminister zurücktreten, blieb aber Regierungsmitglied ohne Geschäftsbereich.

Kurz bevor er ins Koma fiel, überwarf sich Scharon wegen des einseitigen Rückzugs aus dem Gaza-Gebiet mit seiner eigenen Partei – ein in der israelischen Geschichte durchaus nicht einmaliger Vorgang. Mit Dissidenten aus dem Likud und der Arbeitspartei gründete er eine neue politische Formation, die Kadima. Bei der Parlamentswahl am 28. März 2006, Scharon lag da bereits seit fast einem Vierteljahr im Koma, wurde die Kadima stärkste Kraft. Heute sind ihr die meisten prominenten Gründungsmitglieder abhanden gekommen, es gab mehrere Abspaltungen, die Partei ist zur Bedeutungslosigkeit zusammengeschrumpft. Auf der anderen Seite hat sich der Likud stabilisiert und erholt – und Israels Parteienspektrum steht weiter rechts als jemals zuvor.

**** Aus: junge Welt, Montag, 13. Januar 2014


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