Israel-Den Haag: Sicherheit und Menschenrechte
Stellungnahme des Internationalen Gerichtshofs zur Mauer - Kommentar
Von Claudia Haydt*
Am 8. Dezember 2003 stellte die Vollversammlung der Vereinten Nationen
einen simple Frage "Was sind die rechtlichen Konsequenzen, die sich
aus dem Bau der Mauer .... ergeben?" (Resolution ES-10/14) Die Mauer,
die die israelische Regierung zur Zeit in den besetzten Gebieten
einschliesslich Ost-Jerusalem baut, stellt keine Grenzanlage im
klassischen Sinn dar, da sie ganz ueberwiegend nicht an der Grenze
zwischen Israel und den besetzten Gebieten verlaeuft sondern sich
immer wieder viele Kilometer tief in palaestinensisches Gebiet
erstreckt.
Seit im Jahr 2003 die israelische Regierung den Bau einer Sperranlage
in palaestinensischem Gebiet begonnen hat, regt sich auch der
Widerstand gegen dieses Bauwerk. Dieser Widerstand aeussert sich
ueberwiegend auf zwei Ebenen. Auf der einen Seite versuchen die
betroffenen Bewohner zusammen mit israelischen und internationalen
Unterstuetzern in direkten gewaltfreien Aktionen den Bau zu blockieren
(vgl. hierzu Aviv Lavie in Wissenschaft und Frieden 3/2004;
http://www.iwif.de/wf304-23.htm) bisher gelang es auf diesem Weg nur
in einem Fall den Verlauf der Mauer zu aendern. Eine zweite Ebene des
Widerstands ist die juristische. Vor israelischen Gerichten kaempfen
betroffene Palaestinenser zusammen mit israelischen Unterstuetzern mit
leider nur in Einzelfaellen beachtlichen Erfolgen gegen den Verlauf
der Mauer. Auf politischer Ebene formiert sich der Protest nur sehr
schleppend. Dies gilt fuer die Diskussion in Israel, da bis in weite
Teile der Linken hinein, die Mauer als legitime Selbstverteidigung
verstanden wird, genauso wie fuer die internationale Diskussion, da
besonders die US-Regierung die Mauer als "Kampf gegen den Terror"
akzeptiert und die europaeische Union beschraenkt sich in der Regel
auf milden Tadel. Durch die Vetomacht USA gebremst blieben auch die
Vereinten Nationen bis jetzt weitgehenden tatenlos. Um diesen
Stillstand auf politischer Ebene zu umgehen, bezog sich die
Vollversammlung der Vereinten Nationen, wiederum auf die juristische
Ebene des Problems und bat den Internationalen Gerichtshof
(International Courts of Justice / ICJ) um eine rechtliche
Stellungnahme. Der ICJ gab nun diese
Stellungnahme ab und die Verantwortung fuer das weitere Vorgehen an die Staatengemeinschaft
zurueck.
Die rechtlichen Implikationen des Baus der Mauer in den besetzten
Gebieten
Das Gericht hatte die Aufgabe zu klaeren, ob die Mauer entsprechend
der Begruendung der israelischen Regierung als notwendiger Schutzwall
gegen den Terror zu werten ist oder ob der Bau und der Verlauf ein
nicht akzeptabler Eingriff in die Rechte der palaestinensischen
Bevoelkerung darstellt. Das Ergebnis ueberraschte wohl niemanden, die
Deutlichkeit der Formulierung und die hohe Konsequenz der Anwendung
voelkerrechtlicher Grundsaetze durchaus.
In der Antwort die am 9. Juli 2004 der Oeffentlichkeit praesentiert
wurde, stellt das Gericht klar, dass "Israel das Recht und sogar die
Pflicht hat auf die zahlreichen und toedlichen Gewaltakte gegen seine
zivile Bevoelkerung zu reagieren, um das Leben seiner Buerger zu
schuetzen ...". Doch diese Recht auf Selbstverteidigung ist nicht
schrankenlos, denn "die getroffenen Massnahmen muessen in Konformitaet
mit dem massgeblichen Bestimmungen des Voelkerrechts bleiben." (Vgl.
Par. 138-141). Aus Sicht des ICJ ist der jetzige Verlauf der Mauer
nicht die einzige Alternative zum Schutz der israelischen
Bevoelkerung. Das Gericht "ist nicht ueberzeugt, dass der spezifische
Verlauf den Israel fuer die Mauer gewaehlt hat, notwendig ist um seine
Zielvorgaben bezueglich der Sicherheit zu erreichen." Die Verletzung
der Rechte der Palaestinenser in den besetzten Gebieten und die
Einschraenkungen in ihrem alltaeglichem Leben "koennen nicht mit
militaerischen Anforderungen oder durch nationale Sicherheit oder
Oeffentliche Ordnung begruendet werden." (Vgl. Par. 123-127) Alle
Sicherheitsziele liessen sich auch durch einen Mauer entlang der
Grenzen von vor 1967 ("gruene Linie") erreichen und zum Schutz der
Bewohner der (illegalen) israelischen Siedlungen in den besetzten
Gebieten wuerden jeweils lokale Sicherungsanlagen den gleichen Schutz
erreichen.
Der Bau der Mauer verletzt nach dem Urteil der Richter das
Selbstbestimmungsrecht der Palaestinenser, es verstoesst gegen das
Besatzungsrecht und die Menschenrechtsbestimmungen.
Als Folge dieser Einschaetzung ist es nur konsequent wenn das Gericht
mit vierzehn zu einer Stimme festhaelt, dass "der Bau der Mauer ...
dem Voelkerrecht widerspricht." Daraus folgt die Verpflichtung fuer
die israelische Regierung diesen illegalen Zustand zu beenden. Israel
"ist verpflichtet den Bau der Mauer in den besetzten
palaestinensischen Gebieten unverzueglich zu beenden." Der bisher
gebaute Teil der Mauer (sofern er nicht auf der tatsaechlichen Grenze
gebaut ist) muss "unverzueglich abgebaut werden". Darueber hinaus
haben die geschaedigten Palaestinenser Anspruch auf Kompensation.
"Israel ist verpflichtet Reparationen zu leisten fuer alle Schaeden,
die durch den Bau der Mauer entstanden sind ...".
Schon im Vorfeld der Befassung des ICJ mit der Mauer-Problematik tobte
eine heftige Debatte darueber ob der ICJ ueberhaupt die Kompetenz
habe, sich mit dem Thema zu befassen. Leider haben neben USA und
Israel auch Deutschland und die EU oeffentlich erklaert (und dem
Gericht zu Protokoll gegeben), dass ihrer Ansicht nach eine solche
Anhoerung der Loesung des Konfliktes nicht dienlich sei. Die Deutsche
Regierung "argumentierte" u.a. damit, dass diese Anhoerung eine
Umsetzung der Road Map gefaehrde. Zur Mauer steht im Road Map Text
allerdings kein einziges Wort - gleichzeitig ist es allen Beteiligten
klar, dass die Existenz der Mauer eine Umsetzung der Road Map komplett
unmoeglich macht.
Schwerwiegender als die inhaltlichen Einwaende gegen die Arbeit des
ICJ ist jedoch einmal mehr die weitere Unterhoehlung der Bedeutung der
demokratischen Elemente im Rahmen der Vereinten Nationen. Die
Vollversammlung (in der jedes Land eine Stimme hat) besitzt im
Gegensatz zum elitaeren (und wohl kaum demokratischen) Sicherheitsrat
strukturell ohnehin wenige Machtmittel. Es ist aber ihr gutes Recht,
den internationalen Gerichtshof bei allen Themen, die die
Vollversammlung fuer wichtig haelt, um eine (unverbindliche!)
juristische Stellungnahme zu bitten. Selbst dieses Recht soll ihr nun
von den reichen und einflussreichen Staaten abgesprochen werden. Der
ICJ geht deswegen in seiner Stellungnahme ausfuehrlich (vgl. Par.
13-42) darauf ein, weshalb der ICJ das Recht hat, sich zu dem
vorliegenden Thema zu aeussern und dass es allein Sache der
Vollversammlung ist, die Nuetzlichkeit des Gutachtens zu bewerten.
Bemerkenswert an der Stellungnahme ist, dass sie nicht nur
Aufforderungen an den Staat Israel enthaelt sondern an "alle Staaten".
Die Verantwortung fuer das Fortbestehen der illegalen Situation liegt
also nicht allein in der betroffenen Region. "Alle Staaten sind
verpflichtet, die illegale Situation, die durch den Bau der Mauer
entstanden ist, nicht anzuerkennen". Dazu gehoert auch das Verbot der
Beihilfe, konkret darf kein Staat "dabei helfen, die illegale
Situation aufrechtzuerhalten". Besonders in die Pflicht genommen
werden die Unterzeichnerstaaten der 4. Genfer Konvention, sie haben
die "Verpflichtung ...zu gewaehrleisten, dass Israel sich gemaess dem
humanitaeren Voelkerrecht ... verhaelt."
Der Ball liegt nun wieder bei den Vereinten Nationen. Die
Vollversammlung und der Sicherheitsrat sind aufgefordert, "zu
erwaegen, welche weiteren Aktionen noetig sind, um die illegale
Situation zu beenden."
Internationaler Druck oder Beihilfe?
Das Mauer-Urteil hat jedoch heftige Kritik bei der US-Regierung
hervorgerufen und folglich ist kaum davon auszugehen, dass der
Sicherheitsrat in absehbarer Zeit - oder wenigstens nicht vor den
US-Wahlen handlungsfaehig sein wird. Das Thema Israel und Palaestina
soll ganz offensichtlich kein Wahlkampfthema werden. Nicht nur die
Bush-Regierung auch der US-Praesidentschaftskandidat John Kerry lehnte
das Gutachten ab. Der "Zaun" sei eine legitime Antwort Israels auf den
Terror erklaerte Kerry am Rande einer Wahlkampfveranstaltung in West
Virginia.
Unter solchen Rahmenbedingungen ist es von zentraler Bedeutung, dass
wenigstens die Europaeische Union als wichtiger Handels- und
Kooperationspartner Israels die sorgfaeltig begruendete Stellungnahme
des Hauptrechtssprechungsorgans der vereinten nationen ernst nimmt.
Beim Treffen der Europaeischen Aussenminister in Bruessel am 13.7.2004
verlautete, der Beschluss des Gerichts muesse "sorgsam geprueft
werden", eine klare und einstimmige Verurteilung der Mauer war nicht
zu vernehmen. In wagen Andeutungen erklaerte der niederlaendische
Aussenminister Bernard Bot (die Niederlande hat zur Zeit die
Ratspraesidentschaft inne), dass eine mangelnde
Kooperationsbereitschaft Israels Konsequenzen haben koenne. Bot teilte
mit, "unsere Hilfe und Unterstuetzung fuer Israel muss Hand in Hand
gehen mit politischem Dialog." Doch damit hat er offensichtlich, den
Charakter des Urteils nicht erfasst. Der internationale Gerichthof
erklaerte klar, dass die Mauer in ihrem jetzigen Verlauf einen
eklatanten Rechtsverstoss darstellt, der beseitigt werden muss, das
gilt ganz unabhaengig davon ob und wann eine Friedensloesung gefunden
wird. Der Friedensdialog ist zwar mehr als dringend noetig, der
Rueckbau der Mauer ist aber eine Verpflichtung, die "unverzueglich"
umzusetzen ist und die selbst dann gilt, wenn der Friedensprozess
scheitert.
Dass die Androhung von Konsequenzen fuer Israel nicht wirklich ernst
zunehmen ist, zeigt etwa die Kooperation bei Galileo. Nur einen Tag
nach dem Treffen der EU-Aussenminister einigten die EU-Kommission und
die israelische Regierung auf eine Vereinbarung zur Zusammenarbeit bei
dem EU-Satellitennavigationssystem, das genauso wie das
US-kontrollierte GPS-Projekt auch militaerische Einsatzoptionen
eroeffnet.
Wenn nun neue Kooperationen ohne Bedenken eingegangen werden, dann
kann wohl kaum davon ausgegangen werden, dass von Seiten der
Europaeischen Union das Assoziierungsabkommen mit Israel ernsthaft auf
den Pruefstand gestellt wird. Doch genau dies waere noetig, da das
Assoziierungsabkommen die Einhaltung des Voelkerrechts als
Grundvoraussetzung der Kooperation zwischen Israel und der EU
vorsieht. Wenn die Europaeische Union allerdings weiterhin keine
Schritte unternimmt um ernsthaft Druck in Richtung Einhaltung der
Menschenrechte zu erzeugen, dann wird sie selbst unglaubwuerdig aber
vor allem macht sie sich mitschuldig an den Verstoessen, denn der ICJ
hat ganz explizit "alle Staaten" dafuer verantwortlich erklaert, sich
um die Einhaltung von Voelker- und Menschenrecht zu bemuehen. An dem
Willen sich dieser Verantwortung zu stellen kann zur Zeit jedoch
gezweifelt werden.
* Claudia Haydt ist Mitarbeiterin bei der Informationssstelle Militarisierung (IMI) e.V., Tübingen
Quelle: Homepage der IMI: www.imi-online.de
Siehe auch:
Gutachten des IGH: Mauer ist illegal
Der Internationale Gerichtshof in Den Haag verurteilt den israelischen Mauerbau - Informationen und ein Beitrag von Uri Avnery (11. Juli 2004)
Zurück zur Israel-Seite
Zur Seite "Naher Osten"
Zur Palästina-Seite
Zurück zur Homepage