Die Mission von "Machsom Watch"
Israelische Frauengruppe prangert die Zustände an Kontrollpunkten an
Von Karin Leukefeld *
Israel hat am Dienstag /9. Januar) einen neuen Grenzübergang für Warentransporte im Nordosten des
Westjordanlands eröffnet – als "Geste des guten Willens". Doch die Lage der Palästinenser bleibt
dramatisch schlecht.
Einem Bericht des palästinensischen Gesundheitsministeriums zufolge haben in den vergangenen
sechs Jahren 68 schwangere Palästinenserinnen ihre Kinder an einem israelischen Kontrollpunkt
zur Welt gebracht. 34 der Kinder wurden tot geboren, vier der Frauen starben. Palästinensische
Frauen sind auf die Krankenhäuser in Israel angewiesen, doch an den militärischen Kontrollpunkten
werden die Menschen heute stunden-, ja sogar tagelang aufgehalten, oft ohne Angaben von
Gründen. Die Demütigungen an den mehr als 600 israelischen Kontrollpunkten (hebräisch:
Machsom) sind eine tägliche Provokation für die Palästinenser in ihrer besetzten Heimat.
Was sich dort abspielt, wäre kaum bekannt oder würde in Europa als »palästinensische
Propaganda« denunziert, wenn nicht engagierte israelische Frauen seit 2001 das Geschehen
protokollierten und öffentlich anprangerten. »Machsom Watch« heißt die Frauenrechtsorganisation,
der heute knapp 500 Aktivistinnen angehören. Vor sechs Jahren hatte sich Judith Kirstein-Keshet
zum ersten Mal mit zwei Freundinnen auf den Weg zu einem israelischen Militärkontrollpunkt
gemacht. Es war ein kalter, klarer Februarmorgen, erinnert sich die Mitbegründerin von »Machsom
Watch« im Gespräch mit ND. Einem Soldaten, der sie zu stoppen versuchte, erzählten die Frauen
einfach, sie wollten den Sonnenaufgang beobachten. Tatsächlich aber hatten sie sich etwas anderes
vorgenommen.
Aus den Medien hatten sie über die Menschenrechtsverletzungen an den Kontrollpunkten gehört
und wollten das nicht länger schweigend hinnehmen: »Viele Berichte stammten aus der Feder von
Amira Hass, einer sehr mutigen Journalistin, die in Gaza und im Westjordanland lebte. Sie haben
uns so sehr schockiert, wir mussten etwas unternehmen.«
Rückblickend schmunzelt Judith Keshet über ihre damalige Naivität: »Ich dachte wirklich, wenn die
Soldaten uns sehen, würden sie einfach aufgeben, weggehen und wieder normale Menschen
werden. Das war natürlich Unsinn.«
Judith Kirstein-Keshet ist Tochter deutscher Juden. Ihre Eltern verließen 1939 Berlin und flohen
nach England. Sie kehrten nie wieder in ihre Heimat zurück. Judith wurde 1943 in Südwales geboren
und ging als 15-Jährige in den neu gegründeten Staat Israel. Voller Enthusiasmus wollte sie sich am
Aufbau einer neuen und gerechten Gesellschaft beteiligen. 50 Jahre später glaubt sie noch immer
daran und ist nicht bereit, dieses Ziel aufzugeben.
Heute gehört sie zu den schärfsten Kritikerinnen der israelischen Besatzungspolitik. Die
Kontrollpunkte seien nur die Spitze eines gewaltigen bürokratischen Willkürsystems, das für die
Palästinenser das Leben unberechenbar und unerträglich mache. »Es ist wirklich ein
Unterdrückungsinstrument, um Land zu gewinnen, und in gewisser Weise auch für ethnische
Säuberung. Ethnische Säuberung bedeutet nicht nur Mord, sie zwingt Menschen auch
wegzugehen.«
Eine ihrer Kolleginnen habe ihr von einer jüdischen Frau aus einer Siedlung erzählt. Die gehe ins
Westjordanland und helfe den Menschen dort zu emigrieren. »Dahinter steckt die Absicht, möglichst
viel Land zu gewinnen, mit möglichst wenigen Palästinensern, die dort leben bleiben.« Aus Kalkiliya
zum Beispiel, einer Stadt mit 40 000 Einwohnern, seien bereits zehn Prozent ausgewandert,
meistens Christen.
Für den Vorwurf der »ethnischen Säuberung« wird Judith Keshet angefeindet, doch sie bleibt dabei.
»Ich bin nicht die Einzige, die das sagt. Und ich bin überzeugt, dass es so ist. Die Menschen werden
gleichsam zu Staub zerrieben, kulturell, sozial, wirtschaftlich, politisch, das ist eine Art ethnischer
Säuberung. Man sagt ihnen, sie sollen gehen, man will sie nicht haben. In Israel reden die Leute
immer offener darüber, dass es das Beste wäre, wenn wir die Araber ganz loswerden könnten. Vor
zehn Jahren wäre es noch inakzeptabel gewesen, das zu sagen, auch wenn vielleicht viele Leute so
gedacht haben. Aber heute ist das ganz normal.«
Araberfeindlichkeit, eine Politik der Apartheid gegenüber den Palästinensern und das durch und
durch von militärischer Propaganda durchsetzte Leben hat viele Oppositionelle veranlasst, Israel zu
verlassen. Sie könne das verstehen, sagt Judith Kirstein-Keshet. Es sei eine Art des Protests. Hat
sie selbst jemals erwogen, ihrer Heimat den Rücken zu kehren? Nein, nicht eine Minute, antwortet
die couragierte Frau. Die Zukunft Israels und der Palästinenser liege ihr am Herzen: »Nur wenn wir
offen über alles reden, was hier geschieht, können wir es ändern. Wenn wir den Mund halten, wird
alles nur noch schlimmer.«
Judith Kirstein-Keshet: Checkpoint Watch – Testimonies from Occupied Palestine, Zed Books,
London/New York 2006. (Die deutsche Übersetzung sucht noch einen Verlag.)
* Aus: Neues Deutschland, 10. Januar 2007
Siehe zum selben Thema auch das Interview mit
der Mitbegründerin vom "Machsom Watch", Roni Hammermann
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