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"Wir würden sehr gerne an Schulen gehen"

Die israelische Menschenrechtsorganisation "Machsom Watch" dokumentiert das Geschehen an den Checkpoints im Westjordanland. Ein Interview mit der Mitbegründerin Roni Hammermann

Die 2001 gegründete Menschenrechtsorganisation, die aus israelischen Frauen besteht, hat es sich zur Aufgabe gemacht, das Geschehen an den israelischen Checkpoints in der palästinensischen Westbank und in Jerusalem zu dokumentieren, für die Menschenrechte der dort passierenden Palästinenser einzutreten und die dokumentierten Geschehnisse öffentlich zu machen. (www.machsomwatch.org)
Roni Hammermann, in Israel und Wien aufgewachsen, ist seit 1969 in der Friedensbewegung aktiv.
Das Interview, das wir im Folgenden dokumentieren, wurde Ende November 2006 in Berlin geführt und Anfang Januar 2007 durch Zusatzfragen aktualisiert. (Interview: Martin Forberg)



Was ist Ihre Motivation für Ihr Engagement bei „Machsom Watch“?

Meine ursprüngliche Motivation dafür stammt aus dem Holocaust. Es hat sehr viel mit meinem jüdischen orthodoxen ungarischen Großvater zu tun, der in Auschwitz mit seinem jüngsten Sohn ermordet wurde. Bevor er ermordet wurde, hat er dort einen jungen Lagerinsassen aus seiner Heimatstadt getroffen und ihn angefleht, alles zu tun, um am Leben zu bleiben, damit er erzählen kann, was er in Auschwitz gesehen und erfahren hat. Dieser junge Mann hat tatsächlich überlebt, und hat dann der Familie meiner Mutter, als sie aus der Emigration nach dem Krieg zurück kamen, erzählt, was er in Auschwitz gesehen und erlebt hatte. Und diesen Auftrag, zu sehen, zu erfahren, bewusst, ganz bewusst zu erfahren, was um mich herum an Unrecht geschieht oder wo es Unterdrückung gibt und Verfolgung, das habe ich von meinem Großvater als Vermächtnis mitbekommen. Und ich glaube, dass eine sehr wichtige Sache für mich ist, auch mein Herz dem Leiden anderer zu öffnen. Und nicht nur dem eigenen. Ich kann mir nicht vorstellen, dass man gegen Antisemitismus kämpft und gleichzeitig die Unterdrückung eines anderen Volkes bejaht.
Als die zweite Intifada am Ende des Jahres 2000 begonnen hat, haben wir in der Zeitung gelesen, dass eine Frau am Checkpoint gebären musste. Das hat mich in eine ganz schreckliche Erschütterung versetzt. Ich habe mich umgeschaut, wie meine Freundinnen darauf reagieren, und habe gesehen, dass ich nicht die Einzige war, die diesen Schock bekommen hat.

Wir haben eine Tätigkeit gesucht, in der wir versuchen, zu verstehen, warum es zu so einer schrecklichen Situation kam. Was geschieht an den Checkpoints? Seit damals sind wir sehr gewachsen, wir waren 10, 12 Frauen am Anfang, heute sind wir ca. 450 im ganzen Land. Wir besuchen ganz regelmäßig 32 Checkpoints, hauptsächlich innerhalb der Westbank, einige natürlich auch in der Jerusalemer Gegend. Das sind wirkliche, echte Grenzcheckpoints, Kontrollpunkte an den Grenzen, aber die meisten sind innerhalb der Westbank, was ja leider nicht so bekannt ist.
Wir schließen uns zu Gruppen von 2 bis 4 Frauen zusammen und gehen gemeinsam während der Stoßzeiten zu den Checkpoints. Wir beobachten dort, wie das Überqueren der Checkpoints vor sich geht, und wie sich die Soldaten verhalten. Wir schreiten ein, wenn es notwendig wird. Nach jeder Schicht schreiben wir einen Bericht, den wir dann auf unserer Homepage (www.machsomwatch.org) publizieren. Das ist eigentlich unsere Haupttätigkeit, denn wir wollen der Bevölkerung, besonders unserer Bevölkerung, der israelischen Bevölkerung klar machen, was in ihrem Namen an den Checkpoints geschieht. Wir versuchen so viel als möglich auch in den Medien aufzutreten und bei dieser Gelegenheit unsere Erfahrungen weiter zu geben und bekannt zu machen, dass diese Checkpoints, nicht wirklich der Sicherheit dienen - unter dem Vorwand der Sicherheit wurden sie ja aufgestellt - sondern sehr viel mehr der Kontrolle und der Schikanierung der palästinensischen Bevölkerung.

Was haben Sie in der letzten Zeit an den Checkpoints erlebt?

Wir sehen immer wieder, dass das Netz der verschiedenen Methoden, die Bevölkerung in ihrer Bewegungsfreiheit zu hindern ausgebaut wird. Es gibt die verschiedensten Methoden, die Bewegungsfreiheit zu beschränken und sie alle zusammen machen irgendeine Art eines normalen Lebens fast unmöglich.
Menschen, die zur Arbeit, in die Schule, zum Studium, zum Arzt, zu einem Familienbesuch oder einfach zur Bank gehen wollen oder wenn sie einmal in eine Stadt gehen müssen, müssen wenigstens einen oder mehrere Checkpoints passieren. An diesen Checkpoints kommt es zu ständigen Auseinandersetzungen und Reibungen zwischen der Zivilbevölkerung und der israelischen Armee. An den bemannten Checkpoints wird ununterbrochen nach Bewilligungen gefragt. „Haben Sie die entsprechende Bewilligung, dort hinzugehen?“ Unter anderem auch innerhalb der Westbank. Die Palästinenser sind in einer ganz schrecklichen wirtschaftlichen Krise, die eben dadurch hervor gerufen wurde, dass sie sich in keiner Form frei bewegen können. Sie verlieren auch ihre Arbeit sehr häufig, weil sie regelmäßig zu spät in die Arbeit kommen, weil sie nicht in die Schulen kommen, oder als Angestellte in die Spitäler. Der Gesundheitszustand der Palästinenser ist auf einem ganz fürchterlich niedrigen Niveau. Es ist ein Riesenproblem, zu einem Arzt zu kommen, es ist ein Riesenproblem, in eine Stadt hinein zu kommen und eine Operation an einem dieser Kliniken zu haben.

Es ist leider so, dass auch in den letzten 6 Jahren noch 36 Frauen zusätzlich zu denjenigen, über die ich anfangs gesprochen habe , an den Checkpoints gebären mussten, weil sie dort gewartet haben – etwa weil die Soldaten ihnen nicht geglaubt haben, dass sie schon Wehen haben, weil sie nicht danach ausgesehen haben, oder weil aus irgendwelchen Gründen der Checkpoint total abgeriegelt war und daher konnten sie überhaupt nicht durch, egal unter welchen Umständen. Also es haben weitere 36 Frauen an den Checkpoints gebären müssen, davon sind 60% der Kinder gestorben. Es hat auch sehr, sehr schlechte langfristige Wirkungen auf das Erziehungssystem. Häufig findet der Schulunterricht nicht statt: Kinder gehen nicht in die Schule, weil die Lehrer nicht in die Schule kommen, oder die Schüler kommen selbst nicht in die Schule. Das allgemeine Bildungsniveau der Kinder sinkt. Es hat auch sehr schwere Auswirkungen auf die Psychologie der Palästinenser, denn diese vielen Erniedrigungen, die sie erleben müssen unterwegs, diese Gewaltanwendung seitens der Soldaten, die manchmal wirklich vorkommen, und das unendlich lange Warten an den Checkpoints bringt die Menschen dazu, ihre Einstellung zu radikalisieren. Eine der typischen palästinensischen Erfahrungen ist eben dieses Warten an den Checkpoints, damit sie geöffnet werden, damit man durchlässt, damit sie wieder geöffnet werden, weil sie aus irgendwelchen Gründen geschlossen werden, sehr häufig zur Bestrafung. Man nimmt den Leuten die Personalausweise weg, und sagt ihnen: „Warte einmal, sitz’ Deine Strafe ab.“ Manchmal unter extrem unangenehmen Bedingungen – Hände werden gefesselt, die Augen werden verbunden, man muss in einer kleinen Zelle sitzen, die an sich nicht für diese Zwecke bestimmt war, als sie gebaut wurde, sondern für Leibesvisitationen usw. Oder je nach Jahreszeit als Strafe in der Sonne sitzen oder im Regen. Das Warten ist also zu d e r palästinensischen Erfahrung geworden.

Welche Bedeutung hat in diesem Zusammenhang das Treffen zwischen Olmert und Abbas, das im Dezember stattfand? Der israelische Ministerpräsident hat ja die Schließung von Checkpoints angekündigt.

Jedes Gespräch ist besser als das Fehlen von Dialog. Aber dieses Gespräch kommt 1 1/2 Jahre zu spät, nachdem Israel alles getan hat um Abu Mazens Prestige auf den Nullpunkt zu bringen. Olmert fehlt es an jeglicher Einfühlungsgabe in die Situation von Abu Mazen und das hat er schon ganz zu Beginn mit dem aufgezwungenen Er versteht auch nicht die zentrale Bedeutung, die die Gefangenenentlassung für die Palästinenser hat. Er glaubt, dass wenn er von den 500 Millionen Dollar, die er den Palästinensern schuldet, 100 Millionen zurückgibt werden ihm alle zujubeln. Er glaubt, wenn er verspricht einige lächerliche Checkpoints aufzulassen dass sich etwas an der allgemeinen Lage der Palästinenser ändern wird. Einstweilen jedenfalls, konnten wir nicht feststellen, dass auch nur ein einziger Checkpoint entfernt wurde.

Welche konkreten Auswirkungen hat die Mauer gegenwärtig?

In den letzten Monaten, man könnte sogar sagen im letzten Jahr, gab es sehr viel weniger Selbstmordattentate - nicht so sehr weil die Mauer ihre Wirkung gehabt hat. Sondern weil eine Art Waffenstillstand geschlossen wurde zwischen den Palästinensern und den Israeli , und zwar zwischen Hamas und Israel. Und Hamas hat sich erstaunlicherweise ganz strikt an die Waffenstillstandsbedingungen gehalten. Und nur erst als die Israeli wieder einmal gezielte Tötungen in den besetzten Gebieten durchgeführt haben, hat dieser Waffenstillstand nicht mehr gehalten.
Man kann sich seinen Feind nicht auswählen, die Hamas wurde in demokratischen Wahlen gewählt, und Hamas muss jetzt die Verhandlungen führen. Das kann man nicht umgehen.

Wie beurteilen Sie in diesem Zusammenhang den Waffenstillstand im Gazastreifen?

Der Waffenstillstand im Gazastreifen steht leider auf sehr wackeligen Beinen. Die Palästinenser halten ihn nicht ein und die Israeli greifen in der West Bank ganz hart durch. Das kann noch keine Grundlage für Verhandlungen sein.

Was ist für die Strategie der israelischen Regierung und der israelischen Armee ausschlaggebend? An sich ist dieser Weg doch – wenn es um Sicherheit geht – genau der falsche Weg. Wie verbinden sich da mögliche Sicherheitsüberlegungen und die Ziele der Besatzung?

Die Fakten, die in den besetzten Gebieten gesetzt werden, sehen danach aus, als hätte die israelische Regierung nicht das geringste Interesse, an Friedensgesprächen. Denn: sie hat es durch diese Beschränkung der Bewegungsfreiheit auf verschiedenen Wegen – durch die Mauer, durch die verbotenen Straßen, durch die Checkpoints – soweit gebracht, dass heute schon die Westbank in voneinander getrennte Kantone geteilt ist. Heute schon ist die Westbank mit einem Netz von Straßen überzogen, die nur als Apartheidstraßen zu bezeichnen sind, weil die Palästinenser darauf nicht fahren dürfen. Und mit einem Netz von Checkpoints - und mit Siedlungen, die sich täglich ausweiten. Es sieht danach aus, als wäre es eigentlich unmöglich, auf dieser geographischen Einheit, die sich Westbank nennt, je einen lebensfähigen palästinensischen Staat gründen zu können.

Inwiefern können Sie die israelische Bevölkerung beeinflussen? Sie sind ja sehr präsent in den Medien als Organisation „Machsom Watch“. Gehen Sie beispielsweise auch an Schulen ?

An Schulen würden wir sehr gerne gehen, werden aber nicht zugelassen. Da kann das Militär mit seinen Vertretern ganz ohne Schwierigkeiten hinein, aber wir können leider nicht hinein. Denn das wäre wahrscheinlich das Allerwichtigste. Solang wir die Besatzung unilateral aufrecht erhalten, und Israel allein die Regeln festsetzt und nicht in Gemeinschaft mit den Palästinensern, wird sich nichts ändern. Das heißt, was wir der Bevölkerung zu sagen haben, ist etwas sehr Einfallsloses und Einfaches, und das ist: Nur der Dialog, nur das Gespräch, nur die Bereitschaft zu Kompromissen beiderseits kann zu einer Änderung führen. Sonst wird das also so weiter gehen und schlimmer und schlimmer.

Welche Rolle spielt es, dass „Machsom Watch“ eine Frauenorganisation ist – erstens gegenüber den Soldaten an den Checkpoints, und zweitens in der israelischen Gesellschaft in den Diskussionen in Ihrem Alltag? Der militärische Diskurs, der wohl in Israel ziemlich wichtig ist, wird ja nicht so sehr von Frauen getragen.

Die Frauen sind an diesem militärischen Diskurs, der die israelische Gesellschaft total bestimmt, nicht in vollem Ausmaß beteiligt, obwohl Frauen auch in die Armee gehen und dort dienen. Aber nach dem Armeedienst müssen Frauen keinen Reservedienst mehr machen. Und daher ist die Tatsache, dass wir Frauen sind, einerseits auch aus pragmatischen Gründen günstig, denn die Soldaten sehen in uns nicht Kollegen, die halt in zwei Monaten ins Militär wieder für einen Monat kommen werden und die Palästinenser auch nicht: also wir sind keine Soldatinnen mehr.
Andererseits haben wir auch eben aus diesem Grund, dass wir in diesen militärischen Diskurs nicht so voll und ganz eingebunden sind, Möglichkeiten, uns als Vertreter der Zivilgesellschaft zu sehen, und daher eine Alternative darzustellen für diesen militärischen Diskurs und auch Rechenschaft zu fordern von der Armee. Einfach als Bürgerinnen und Staatsbürgerinnen. Und mit dieser Einstellung kommen wir auch an die Checkpoints. Wenn die Soldaten sagen, ‚ihr könnt hier nicht sein’, behaupten wir, das stimmt nicht. Wir sind israelische Staatsbürgerinnen und wir haben das Recht, zu wissen, was in unserem Namen vor sich geht, auch als Nicht-Militärs. Und ich glaube, dass das eine sehr wichtige Funktion ist, Vertreterinnen der Zivilgesellschaft zu sein, aber bewusst gegen die Militärgesellschaft, die so unerhört stark in Israel verankert ist, und zu bestimmen hat. Ich glaube, dass uns das paradoxerweise auch die Kraft gibt. Wir werden als solche akzeptiert. Es ist akzeptiert worden, sozusagen in der Praxis, dass wir eben an den Checkpoints sein können.

Akzeptiert von wem?

Vom Militär. Wir sind die erste Gruppe von Zivilisten, die sagen: ‚Wir sind Zeugen, wir sind Zeugen dessen was ihr in den besetzten Gebieten durchführt.’ Und das kann sehr unangenehm für sie sein. Denn die besetzten Gebiete sind weit weg von israelischen Zentren, und die Israeli halten sich dort nicht auf.

Was soll die internationale Gemeinschaft, was sollen die Europäische Union und die Bundesrepublik Deutschland tun? Sollte die Druck auf die israelische Regierung ausüben, oder freundliche Gespräche führen oder beides?

Ich glaube, es ist doch höchste Zeit, dass die Europäische Union, der ja auch Deutschland angehört, ganz starken Druck auf Israel ausübt, und es darauf hinweist, dass es die Menschenrechtskonvention einhalten muss. Und man darf sich nicht dadurch einschüchtern lassen, dass Israel diejenigen, die Kritik an der israelischen Regierungspolitik üben, als Antisemiten bezeichnet. Man muss sagen: eines hat mit dem anderen nichts zu tun. Antisemitismus ist eine Sache und gegen den kämpfen wir auf ganz eindeutige Weise, und Verletzungen von Menschenrechten, Unterdrückung, Entrechtung ist eine andere Seite. Und dagegen stellen wir uns ganz eindeutig. Ein Boykott, der nicht von der internationalen Gemeinschaft unterstützt wird, hat sehr wenig Sinn, ist nicht so wirkungsvoll.
Andererseits kann man versuchen, auch diesen Boykott in größeren Dimensionen durchzuführen, besonders als Absage, gewisse Produkte an Israel zu verkaufen, die im Militär benützt werden. Da müssten wir ganz klar sagen: solang das Militär Verletzungen von Menschenrechten durchführt , werden wir gewisse Produkte, die im Militär benützt werden, eben nicht liefern. Diese Art natürlich wäre sehr viel wirkungsvoller als – sagen wir einmal – Boykott von Lebensmitteln oder solche Sachen, die ja auch irgendwann einmal diskutiert werden, aber meiner Meinung nach wenig Sinn haben. Nichtsdestoweniger, ist es sinnvoll, auch in Gesprächen ganz klar zu erklären, dass wir Israel daran erinnern, dass es die Genfer Konvention unterschrieben hat, und dass sie sich in keiner Weise danach verhält.


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