Angstkampagne verfängt
Abgestimmt wird, bis das Ergebnis paßt: Iren lassen in zweiter Runde Lissabon-Vertrag der EU passieren
Von Andreas Wehr *
Am vergangenen Freitag hat sich in Irland eine Mehrheit von 67,13 Prozent für den Vertrag von Lissabon ausgesprochen. Das Nein erhielt 32,87 Prozent. Die Wahlbeteiligung lag bei 59 Prozent. Es war bereits das zweite Referendum in Irland über den Vertrag der Europäischen Union. Im Juni 2008 hatten ihn noch 53,4 Prozent abgelehnt. Doch ein Nein bei einer Volksabstimmung über einen EU-Vertrag bedeutet für die europäischen Eliten bekanntlich noch lange nicht seine endgültige Ablehnung. Es stellt nur eine ärgerliche Unterbrechung auf dem fest ins Auge gefaßten Weg hin zu einer immer engeren Union dar. Und da alle Mitgliedsstaaten den EU-Verträgen zustimmen müssen, wird regelmäßig so lange abgestimmt, bis das Ergebnis am Ende paßt.
Ganz unterschiedliche Gruppen mit ganz verschiedenen Zielen hatten in Irland für ein Nein geworben. So war es auch schon bei der Abstimmung im Juni 2008 gewesen. Auch diesmal gehörten fundamentale Abtreibungsgegner und Verfechter einer unantastbaren irischen Steuerhoheit dazu. Deren Einfluß wird in der Öffentlichkeit aber maßlos überzeichnet. Größere Bedeutung hatten da schon die Sorgen der Arbeiter und Angestellten vor Lohndumping und sozialer Deklassierung, die mit den von der EU durchgesetzten Liberalisierungen regelmäßig einhergehen. Am Gewichtigsten waren aber die Ängste vor der Beschädigung der nationalen Souveränität. Nicht ohne Grund verlangt ja die irische Verfassung, daß das Volk über jede Änderung europäischer Verträge abstimmen muß. Im Hintergrund steht die Besorgnis, daß die erst 1921 nach langen und blutigen Kämpfen mit Großbritannien erlangte Unabhängigkeit erneut, diesmal durch die Europäischen Union, beschädigt werden könnte. Die der linken Fraktion im Europäischen Parlament angehörende Partei Sinn Féin stellte denn auch den drohenden Verlust nationaler Selbstbestimmung in den Mittelpunkt ihrer Kampagne.
Tatsächlich werden kleine Länder wie Irland mit dem Lissabonner Vertrag erheblich an Einfluß verlieren. So wird zukünftig nicht mehr jedes Land automatisch einen Kommissar in Brüssel stellen. Noch einschneidender ist aber, daß der Mechanismus der Entscheidungsfindung im Europäischen Rat auf das demographische Prinzip umgestellt wird. Dadurch erhalten die bevölkerungsstarken Länder, und hier vor allem Deutschland, ein größeres Gewicht. Allein der Stimmenanteil der BRD im Rat verdoppelt sich von gegenwärtig 8,40 auf zukünftig 16,72 Prozent. Kleine und mittlere Länder gehören hingegen zu den Verlierern. Der Stimmenanteil von Irland fällt im Rat von 2,03 auf nur noch 0,85 Prozent. Bedenkt man, daß mit dem Vertrag zugleich eine ganze Reihe wichtiger Fragen in die Mehrheitsentscheidung des Rates überführt wird mit der Folge, daß in diesen Angelegenheiten dann kein Staat mehr die Möglichkeit eines Vetos hat, so verlagern sich mit »Lissabon« Souveränitätsrechte in ganz erheblichem Maße von der nationalstaatlichen auf die europäische Ebene.
In einer Erklärung vom Juni 2009 versuchte der Europäische Rat die Einwände der irischen Vertragsgegner zu zerstreuen. Es wurden Zusicherungen sowohl hinsichtlich der Abtreibungsfrage als auch der nationalen Steuerhoheit abgegeben. Man bekundete seinen Respekt vor der irischen Neutralität. All dies kostete Brüssel nichts, da die EU in diesen Angelegenheiten ohnehin keine Zuständigkeiten besitzt. Man sicherte Irland sogar zu, daß es »seinen« Kommissar behalten werde. Doch dies sind bloße Erklärungen. Da die Versprechen dem Lissabonner Vertrag nicht als Protokoll beigefügt wurden, sind sie nicht bindend und demnach auch nicht einklagbar.
Es wird noch zu untersuchen sein, warum das irische Volk diesmal anders als 2008 entschied. Die wachsweichen Zusicherungen des Europäischen Rats dürften dabei nicht viel Eindruck gemacht haben. Offensichtlich verfingen aber die aus Brüssel, Berlin und Paris gesteuerten Angstkampagnen, wonach sich das Land mit einem abermaligen Nein hoffnungslos isolieren würde. Es hätte als Schmuddelkind der europäischen Integration dagestanden. Hinzu kommt, daß die tiefe wirtschaftliche Krise, von der die ganze Insel gegenwärtig geschüttelt wird, zu einem enormen, zweistelligen Staatsdefizit führen wird. Irland ist auf Jahre einer der größten »Defizitsünder« der EU. Damit man von Brüssel auch nicht noch zusätzlich wegen der dann unvermeidbaren Verstöße gegen die Stabilitätskriterien bestraft wird, galt es, die Mächtigen in der EU milde zu stimmen. All dies dürfte die Mehrheit der Abstimmenden bewogen haben, diesmal ihr Kreuz beim Ja zu machen.
Ob aber der Lissabonner Vertrag am Ende wirklich in Kraft tritt, bleibt weiter ungewiß. Erst vor wenigen Tagen wurde in Tschechien erneut Klage gegen ihn vor dem Verfassungsgericht eingereicht. Bis zur Entscheidung darüber wird Präsident Vaclav Klaus ihn nicht unterzeichnen. Sollte das Urteil erst im Frühjahr 2010 gefällt werden, so könnte bis dahin die fällige Unterhauswahl in Großbritannien die Konservativen an die Macht gebracht haben. Die aber haben bereits angekündigt, die Unterschrift Londons unter dem Vertrag zurückzuziehen. Dies ist juristisch solange möglich, wie ihn noch nicht alle Staaten ratifiziert haben. Noch ist also alles offen.
* Aus: junge Welt, 5. Oktober 2009
Iren sagen Ja zu "Lissabon"
Mehrheit für EU-Vertrag / Höchste Wahlbeteiligung seit 1972
Von Florian Osuch **
Mit deutlicher Mehrheit hat sich die irische Bevölkerung am Freitag in einer Volksabstimmung für den Vertrag von Lissabon ausgesprochen. 67,1 Prozent stimmten dafür, 32,9 Prozent dagegen. In einer ersten Abstimmung im Juni 2008 hatten noch 53,4 Prozent der Wähler mit Nein votiert.
Der Vertrag tritt in Kraft, wenn ihn alle EU-Mitgliedsstaaten ratifiziert haben. Irland ist das einzige Land, in dem eine Volksabstimmung abgehalten wurde, dies schreibt die Landesverfassung vor. Die Bewohner Nordirlands waren vom Votum ausgeschlossen, da die Provinz unter britischer Kontrolle steht.
Das Ergebnis sorgte für Erleichterung unter europäischen Spitzenpolitikern. Die deutsche Kanzlerin Angela Merkel war »sehr glücklich« über Irlands »Ja zu Europa«. Der schwedische Regierungschef und EU-Ratspräsident Fredrik Reinfeldt sah einen »guten Tag für Europa«. Von einem »großartigen Tag« sprach auch José Manuel Barroso, EU-Kommissionspräsident. Noch überschwänglicher zeigte sich der irische Ministerpräsident Brian Cowen: Die Iren hätten »mit klarer Stimme gesprochen« und gezeigt, dass sie »im Herzen Europas« bleiben wollen. Cowen äußerte gegenüber dem staatlichen irischen Sender RTÉ, der Lissabon-Vertrag werde Irland und Europa »stärker, fairer und besser machen«.
Nach der Zustimmung der Iren zum EU-Vertrag will auch der polnische Präsident Lech Kaczynski seine Unterschrift nicht mehr verweigern. Das Staatsoberhaupt werde das Dokument »unverzüglich« unterzeichnen, sagte der Chef des Nationalen Sicherheitsamtes, Aleksander Szczyglo, am Sonntag dem Radiosender Radio ZET. Als großer Unberechenbarer gilt der tschechische Präsident Vaclav Klaus. Der europaskeptische Staatschef will ein zweites Urteil des tschechischen Verfassungsgerichts zum EU-Vertrag abwarten, das in wenigen Wochen gesprochen wird. Konservative Senatoren hatten gegen den Vertrag geklagt.
Die Zustimmung in Irland war überraschend hoch ausgefallen. Noch eine Woche vor dem Referendum hatte die Yes-Kampagne in Umfragen unter der 50-Prozent-Marke gelegen, wobei ein Viertel der Befragten noch unentschlossen waren. Die Wahlbeteiligung lag mit 58 Prozent für irische Verhältnisse besonders hoch – der höchste Wert seit der Abstimmung über den Beitritt Irlands zur EWG im Jahr 1972. Zudem war es die größte Zustimmung für EU-Verträge in Irland seit dem Votum über die Maastricht-Verträge im Jahr 1992.
Die Abstimmung vom Freitag weist Parallelen zu zwei irischen Referenden um die Verträge von Nizza auf. Im Jahr 2001 war Irland ebenfalls einziger EU-Staat, der seine Bürgerinnen und Bürger über das Vertragswerk abstimmen ließ. In einem ersten Anlauf votierte die Mehrheit mit Nein, im Jahr 2002, nach einer intensiven Medienkampagne, stimmten die Iren mehrheitlich mit Ja.
Das jetzige Ergebnis wurde von der Zeitung »The Guardian« als Rückschlag für die irische Linkspartei Sinn Féin bezeichnet. Nach dem Ablehnungsvotum vom letzten Jahr hatte Sinn-Féin-Präsident Gerry Adams noch von einem Sieg Davids gegen Goliath gesprochen. Jetzt kritisierte er, dass das irische Establishment dieses Nein ignoriert habe. Mary Lou McDonald, Vizechefin von Sinn Féin und Frontfrau gegen die Lissabon-Verträge, kritisierte, die Yes-Kampagne habe mit einer »unredlichen und depressiven« Stimmungsmache die Abstimmung entschieden. Sinn Féin war die einzige Parlamentspartei, die sich gegen »Lissabon« ausgesprochen hatte.
** Aus: Neues Deutschland, 5. Oktober 2009
Nötigung
Irische Meinungskorrektur gelungen
Von Werner Pirker ***
Es ist schon paradox: Was den Bevölkerungen aller anderen EU-Mitgliedsstaaten versagt blieb, durften die Iren gleich zweimal tun: über den Vertrag von Lissabon abstimmen. Während man also den Bürgern fast aller EU-Staaten das entsprechende Urteilsvermögen in gesamteuropäischen Fragen von Beginn an absprach, wurde das Urteilsvermögen der Bürger Irlands erst nach deren Nein-Votum im ersten Referendum in Zweifel gezogen, weshalb diesen die Möglichkeit eingeräumt wurde, sich erneut ein Urteil zu bilden. War der demokratische Willensbildungsprozeß den Veranstaltern beim ersten Mal noch aus dem Ruder gelaufen, hat es beim zweiten Mal dann schließlich doch noch geklappt.
Das die absolute mediale Vorherrschaft ausübende Ja-Lager hat seine Niederlage im ersten Referendum auf die geschickte Manipulierung der Volksmeinung durch einen separatistisch gesinnten Millionär zurückgeführt. Diesmal ließ sich der hegemoniale Block seine Hegemonie von niemandem streitig machten. Nicht nur, daß Declan Ganley, der als Mister No Furore gemacht hatte, angesichts der gegnerischen Übermacht frühzeitig die Segel strich, hatte die Pro-Lissabon-Fraktion auch sonst nichts dem Zufall überlassen. Unternehmen wie Intel und Ryanair scheuten keine Kosten bei der Herstellung einer Propagandawalze, die alle Ansätze einer Gegenöffentlichkeit gnadenlos überrollte. Vor allem das Bild einer von Europa allein gelassenen, den Stürmen der internationalen Finanzkrise ausgesetzten Insel hat seine Wirkung nicht verfehlt. Die Einsicht, daß Brüssel als Machtzentrum und Triebfeder der Neoliberalisierung das Problem und nicht die Lösung ist, drang nicht durch. Vielmehr signalisiert das irische Votum eine gewisse Bereitschaft, im Zeichen eines »effizienten europäischen Krisenmanagements« auch Demokratieabbau und nationalen Souveränitätsverlust hinzunehmen. Die kapitalistische Finanzkrise hat die neoliberale Hegemonie keineswegs gebrochen, sondern eine reaktionäre Kräftekonzentration bewirkt.
Zwar hat der EU-»Reformvertrag« auch ein Mehr an Demokratie, wie eine geringfügige Machterweiterung des Europaparlaments, im Angebot. Doch dieses Mehr wird durch ein Weniger an Demokratie, verursacht durch die Übertragung von Kompetenzen der nationalen Parlamenten an die Regierungen, mehr als wettgemacht. So werden laut Artikel 48 des Vertrages die Staats- und Regierungschefs in Zukunft ermächtigt, im Bereich von 172 Artikeln politische Veränderungen vorzunehmen, ohne dafür die Zustimmung durch die Parlamente einholen zu müssen. Es geht also nicht so sehr um die Vorherrschaft der Brüsseler Demokratie über die Nationalstaaten, sondern in erster Linie um die Zurückdrängung der Legislativmacht als einem Element der Volkssouveränität zugunsten einer immer souveräner werdenden Exekutive – in Brüssel und in den nationalen Hauptstädten.
*** Aus: junge Welt, 5. Oktober 2009 (Kommentar)
Der Bock als Gärtner
Von Uwe Sattler ****
Kaum ein Politiker in Brüssel und den EU-Hauptstädten kam am Wochenende um die Floskel herum: Das irische Ja zum Lissabon-Vertrag sei eine gute Entscheidung für das Land und für Europa. Was zweierlei suggeriert: Zum Einen haben die Iren im vergangenen Jahr mit ihrer Ablehnung verantwortungslos gehandelt und mussten nun erst zur Räson gebracht werden; zum Anderen könne EU-Europa ohne das Abkommen die Krise nicht meistern und würde in eine düstere Zukunft gehen.
Allerdings ist es gerade der Lissabon-Vertrag, der laut offiziellen Bekundungen die EU demokratischer machen soll und mit der Grundrechtecharta sowie der vorgesehenen Möglichkeit von Bürgerinitiativen die Mitsprache zum Europarecht erhebt. Die zweite Abstimmung auf der grünen Insel, um das gewünschte Ja zu erhalten, der von Dublin an die Bevölkerung weitergegebene Druck aus Brüssel und die Panikmache vor einer Ausgrenzung Irlands sind nichts anderes als eine Verletzung des Lissabon-Vertrags, bevor er überhaupt in Kraft getreten ist.
Vor allem aber ist es die seit Jahren praktizierte, mit »Lissabon« jetzt juristisch fixierte Politik des Neoliberalismus, die auch Europa in die Krise getrieben und Irland besonders hart getroffen hat. Zu meinen, mit einem Reformvertrag, der freie Märkte und den ungezügelten Wettbewerb zu wirtschaftlichen Prämissen erhebt, könne die EU die Krise meistern, hieße, den Bock zum Gärtner zu machen.
**** Aus: Neues Deutschland, 5. Oktober 2009 (Kommentar)
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