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Potential für einen Dritten Weltkrieg ?

Was vor dem 1. Weltkrieg der Balkan war, ist heute der Nahe Osten

Von Erhard Crome *

Schimon Peres, Friedensnobelpreisträger und israelischer Präsident, hat Iran mit einem israelischen Militärschlag gedroht. Dessen Programm zum Bau einer Atombombe stünde kurz vor der Vollendung, und das werde Israel nicht dulden. Der für das israelische Militärwesen zuständige Minister Ehud Barak sagte, ein solcher Militärschlag stehe nicht unmittelbar bevor, Israel halte sich eine solche Option aber offen.

Die Internationale Atomenergiebehörde (IAEA) legte derweil ihren darauf hingeschriebenen, lange angekündigten Bericht zum iranischen Atomprogramm vor, wonach das Land an der Atombombe baue. In der bürgerlichen Presse heißt denn die Überschrift auch reißerisch: „IAEA legt Belege für Irans Streben nach Kernwaffen vor“, während im Kleingedruckten mitgeteilt wird, der Iran sei „theoretisch in der Lage..., eine Atombombe zu bauen“, und der IAEA-Bericht enthalte die Kompilation „der bekannten Geheimdienstinformationen“ (Frankfurter Allgemeine Zeitung, 8. November 2011). Belege sehen anders aus. Aber wenn es zum Kriegstreiben geht, ficht das die Treiber nicht an. Bekanntlich hatten der frühere US-Präsident Bush II und Britanniens Premier Blair als höchsten Beweis für das angebliche Atomprogramm des Iraks Auszüge aus einer Semesterarbeit eines britischen Studenten benutzt, die als Geheimdienst-Informationen verkauft wurden. Die Folge war der Irak-Krieg.

Jetzt also ist der Iran wieder auf dem Zettel. Das war er bereits zweimal, 2006 und 2008. Da wurde der Krieg aber jeweils wieder abgeblasen, weil die USA und ihre Hilfswilligen mit den sich zur Niederlage wendenden Kriegen in Irak und Afghanistan hinreichend beschäftigt waren. Jetzt scheint das alles nicht mehr so bedeutsam. Die Region ist mit den Revolutionen in Tunesien und Ägypten verändert, in anderen arabischen Ländern halten die Protestdemonstrationen gegen die respektiven Regimes und die Forderungen nach Freiheit und Würde weiter an. Der Westen war zunächst hilflos ob des Sturzes der von ihm jahrzehntelang gehätschelten Despoten, heuchelte dann Solidarität und mühte sich, die Proteste so kanalisieren, dass sie der westlichen Vorherrschaft und seiner neoliberalen Globalisierung nicht aus dem Ruder laufen. Dazu diente der Krieg des Westens in Libyen; er sollte zeigen, dass es Freiheit nur von westlichen Gnaden gibt. Zugleich lenkte dieser Krieg von den auch in der Golfregion ausbrechenden Unruhen ab und die Energien der Auseinandersetzung in den Mittelmeerraum um.

Bei all dem sah sich Israel in einer Situation gewachsener Verunsicherung, die ruhigen Zeiten mit dem berechenbaren Mubarak sind dahin, und es kann auch nicht mehr behaupten, die „einzige Demokratie“ im Nahen Osten zu sein. Und der Iran scheint stärker geworden: Eine nichtintendierte Folge des Irak-Krieges der USA war, dass dessen jahrzehntelanger Antipode Saddam Hussein gestürzt war und angesichts der Wirrnisse in Irak dort die Schiiten politisch verselbständigt wurden, die wiederum vom Iran unterstützt werden. Auch in den Auseinandersetzungen in Afghanistan hat der Iran seine Finger drin. Das könnte man positiv interpretieren: Ohne den Iran gibt es keinen Frieden in Afghanistan, dann sollte man ihn mit an den Tisch holen. Man kann es aber auch umdrehen: Jetzt müssen diese Finger abgehackt werden. Das angebliche oder tatsächliche Atomprogramm ist der Hebel, mit dem man zu beliebigen Zeiten einen offenen und zugespitzten Konflikt mit dem Iran vom Zaune brechen kann. Ob dies tatsächlich das große Problem ist, wie die westliche und die israelische Propaganda immer wieder meinen, steht auf einem anderen Blatt. Zbigniew Brzezinski, einer der beiden alten Vordenker US-amerikanischer Machtpolitik, hatte schon vor Jahren gesagt, dass ein Iran mit Atombombe kein Problem sein sollte, er müsste dann rationaler handeln, als er es jetzt tut, und würde sich zwischen den Atommächten Pakistan und Indien (und Israel) sicherer fühlen als ohne Atomwaffen. Davon will jetzt aber niemand etwas wissen. Die iranische Bombe ist als das große Menetekel an die Wand gemalt. Handeln sei geboten.

Die USA scheinen erschöpft von den Kriegen in Irak und Afghanistan. Die Bevölkerung ist kriegsmüde – einen so langen Krieg, wie in Afghanistan, hatten die USA noch nie in ihrer Geschichte. Den Libyen-Krieg hatten sie nicht mit Eifer betrieben, dann aber mitgemacht. Die Frage, ob sie einen Iran-Krieg jetzt wollen, ist wahrscheinlich nicht abschließend beantwortet in Washington. Einerseits drängen Saudi-Arabien wie auch andere Golf-Emirate auf einen Militärschlag gegen Iran, weil sie dessen weitere Machtentfaltung nicht wollen. Die Teilnahme von Katar und der Vereinigten Arabischen Emirate als einzige Nicht-NATO- bzw. Nicht-EU-Mächte am Libyen-Krieg verweist darauf, dass sie hier eine Bringeschuld des Westens sehen: Krieg für Öl.

Andererseits sind die alten Argumente, die bereits 2006 erörtert wurden, nicht vom Tisch: Ein Militärschlag gegen Atomanlagen, selbst wenn er „erfolgreich“ sein sollte, kann ein von Menschen gemachtes Fukushima zur Folge haben, dessen Ausmaße man nicht kennt. Das kann nicht nur Zehntausende Opfer unter der iranischen Zivilbevölkerung zur Folge haben – was für den weißen Herrenmenschen wahrscheinlich das kleinere Übel wäre –, sondern die radioaktiven Wolken können auch bis zum Mittelmeer oder nach Osteuropa reichen. Und es könnte zu einem längerdauernden Krieg führen, dessen Folgen und Eskalationsstufen nicht vorhersehbar sind. Der Iran könnte mit Raketen zurückschießen und die Straße von Hormuz schließen, was zur Unterbrechung eines Großteils der weltweiten Erdölströme führen würde. Diesen Weg wieder zu öffnen, würde es Bodentruppen brauchen. Gleichwohl scheint es in Washington eine Denkrichtung zu geben, die davon ausgeht, dass ein kurzer, entschlossener Krieg gegen den Iran die ultimative Antwort auf die Frage nach der Verfügung der USA über das mittelöstliche Erdöl wäre. Und ein unsicherer Präsident, der als Friedensnobelpreisträger und internationaler Schönredner nicht als Mann des Krieges erscheinen möchte, ist vielleicht unberechenbarer, als ein Kriegstreiber und Lügner, von dem das alle wissen.

Israel hat in der Vergangenheit bereits tatsächliche oder vermutete Atomanlagen in Irak und in Syrien völlig autonom mittels Bombenflügen zerstört. Der Iran ist flächenmäßig größer und weiter weg. Das ist aber ein militärtaktisches und logistisches Problem, kein prinzipiell unlösbares. In der vergangenen Woche hat Israel eine Rakete getestet, die eine Atombombe über 5000 Kilometer transportieren kann; Kampfflugzeuge üben seit Monaten Flüge zwischen Israel und Sardinien einschließlich Nachtanken in der Luft, was in etwa die erforderliche Reichweite wäre. Die USA befürchten jetzt den Alleingang Israels. Allerdings war es unter Obama, dass die USA 55 bunkerbrechende Spezialbomben an Israel geliefert haben – Bush hatte das verweigert, weil er den Alleingang wenigstens technisch verhindern wollte.

Aus der Geschichte wissen wir, dass der „große“ Verbündete nicht immer bestimmen kann, was der kleinere tut. Im Sommer 1914 handelte Serbien auf eigene Rechnung gegen Österreich-Ungarn, wohl wissend, dass Russland es im Kriegsfalle unterstützen werde, ohne dass es politisch-diplomatisch russischen Wünschen folgte. So weiß Israel, dass es auch dann von den USA unterstützt wird, wenn es jetzt nicht das tut, was die Regierung in Washington erwartet. Wenn wir schon bei 1914 sind: damals war der Balkan das, was heute der Nahe Osten ist, der ständige Spannungsherd, in dem die verschiedenen Großmächte ihre Revalitäten austragen. Am Ende glaubten alle, gemäß ihren Interessen zu handeln, und das Ergebnis war ein Weltkrieg, von dem hinterher alle sagten, ihn nicht gewollt zu haben.

Russland und China verweigern eine Resolution des UNO-Sicherheitsrates gegen Syrien, weil sie eine weitere Destabilisierung der Region durch westliche Kriege à la Libyen nicht wollen. Einen Krieg gegen Iran werden sie erst recht nicht widerspruchslos hinnehmen. Russland könnte sich zum Beispiel dazu verstehen, die hochmodernen Flugabwehrraketen doch an Iran zu liefern, die es im vergangenen Jahr auf westlichen Wunsch hin nicht bereitgestellt hat. Und dann haben wir es nicht nur mit einem Kriegsgeschehen zu tun, in das Israel, Iran und die USA involviert sind, sondern es deuten sich weiterreichende Ausweitungen an.

Es gibt zu Frieden und zu Verhandlungen keine vernünftige Alternative. Die Frage ist nur, ob die Herrschenden, die alle auf die Finanzkrise starren, das Verstehen.

* Erschienen in: Das Blättchen, No. 23 vom 14. November 2011 – http://das-blaettchen.de


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