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Jesidische Tragödie im Norden Iraks

Zehntausende Menschen sind ohne jegliche Versorgung / Türkei deutet militärisches Eingreifen an

Jesidische Tragödie im Norden Iraks / Hilfsangebot von Kurden Dschihadisten verfolgen religiöse Minderheit in Nordirak / Zehntausende Menschen sind ohne jegliche Versorgung Von Jan Keetman

Angesichts des Vormarsches der Islamisten in Irak sollte am Donnerstagabend eine Dringlichkeitssitzung des UN-Sicherheitsrates stattfinden. Das hatte Frankreich angeregt.

Es ist eine Tragödie, was sich derzeit in Nordirak abspielt. Nach einem Überraschungsangriff der Kämpfer vom Islamischen Staat (IS) sind jesidische Kurden in die Bergregion von Sindschar nahe der syrischen Grenze geflohen. Jetzt ist es in der Region extrem heiß. Tagsüber werden Temperaturen von 50 Grad erreicht.

Versorgungsflüge waren bislang wenig hilfreich. Abgeworfene Wasserbehälter sind beim Auftreffen auf dem Boden geplatzt. Dies bestätigt auf Nachfrage der Vorsitzende des Zentralrates der Jesiden in Deutschland, Telim Tolan. Nach Tolan sind zwischen 40 000 und 50 000 Menschen ohne jede Versorgung.

Syrische Kurden, Mitglieder der türkischen Arbeiterpartei Kurdistans (PKK) sowie Kämpfer der irakischen Kurden, der Peschmerga, versuchen von Norden und von Syrien aus nach Sindschar vorzudringen. Doch IS-Kämpfer binden kurdische Kräfte durch Angriffe an vielen anderen Punkten in Irak und Syrien.

Auf dem Papier haben die Kurden eine veritable Streitmacht. Alleine die Peschmerga der kurdischen Regionalregierung sind dem IS zahlenmäßig weit überlegen. Doch der größte Teil von ihnen ist eine Art Polizei. Beim Angriff auf Sindschar zogen sich diese in Panik zurück. Mittlerweile fliehen Jesiden auch aus Gegenden, die noch unter Kontrolle der Peschmerga sind. Tolan zufolge gibt es Gegenangriffe der Peschmerga bisher nur im Raum Mossul.

Die PKK, die sich weitgehend aus der Türkei nach Irak zurückgezogen hat, schickte Kämpfer und Kämpferinnen, aber es kann sich dabei höchstens um einige hundert handeln. Syrische Kurden haben eingegriffen, müssen aber auch ihr eigenes Gebiet gegen Angriffe des IS schützen.

Vermutlich geleitet von US-amerikanischen oder iranischen Drohnen hat die irakische Luftwaffe ein von IS eingerichtetes »islamisches Gericht« in Mossul angegriffen. 60 Menschen sollen dabei gestorben sein, während angeblich 300 Gefangene der IS aus einem angeschlossenen Gefängnis entkommen konnten. Es gibt mittlerweile etwas wie militärische Kooperation zwischen den Kurden und der Zentralregierung in Bagdad, doch das Bündnis ist brüchig, solange der bei den sunnitischen Irakern verhasste Ministerpräsident Nuri al-Maliki im Amt ist.

Indessen macht sich eine andere Macht in der Region bemerkbar. In der Nacht auf Donnerstag flog zweimal eine große Zahl türkischer Kampfjets über das irakische Kurdengebiet. Man kann das sehr wohl als Drohung auffassen. Obwohl IS eine große Zahl türkischer Bürger als Geiseln gefangenhält und im besetzten türkischen Konsulat in Mosul sein Hauptquartier aufgeschlagen hat, scheinen dessen Kämpfer nicht das Hauptproblem der Regierung in Ankara zu sein. Der Schulterschluss von irakischen und syrischen Kurden und der PKK ist für Ankara dagegen alles andere als eine gute Nachricht.

* Aus: neues deutschland, Freitag 8. August 2014


Jesiden im Fadenkreuz

Dschihadisten verfolgen religiöse Minderheit in Nordirak / Hilfsangebot von Kurden

Von Martin Dolzer **


Kurdische Kämpfer aus Irak, Syrien und der Türkei haben eine gemeinsame Offensive gegen die Dschihadisten in der nordirakischen Region Mossul begonnen. Die Aktion wurde am Mittwoch in Sulaymaniyah im irakisch-kurdischen Autonomiegebiet verkündet.

Die von Al Qaida abgespaltene Gruppe »Islamischer Staat« (IS) hat in dieser Woche ihre Angriffe stark intensiviert und dabei die Städte Sindschar und Sumar ihrem Herrschaftsbereich einverleibt. Sie eroberte den landesweit größten Staudamm am Tigris und zwei Ölfelder. In der betroffenen Region leben überwiegend Anhänger von Religionen, die der sunnitisch-islamistischen Gruppe als ungläubige Feinde gelten: Jesiden, Alewiten und Christen; ethnisch betrachtet vor allem Kurden, Assyrer und Armenier.

IS strebt, um ein Kalifat errichten zu können, ein zusammenhängendes Gebiet von Mossul bis Nordwestsyrien an. Die Dschihadisten hatten Mitte Juni in der an Erdölfeldern gelegenen Metropole Mossul Panzer und schwere Waffen erbeutet, die sie seitdem in Irak und Syrien einsetzen. Ihre Führung hatte es für »helal« – glaubenskonform – erklärt, dabei »Ungläubige« zu vernichten. Immer wieder gibt es seitdem Augenzeugenberichte über Folter, Vergewaltigungen, Vertreibung, Zwangskonvertierung und Massaker. Schätzungen der UNO zufolge flohen mehr als 200 000 Verfolgte in die als stabil geltenden kurdischen Autonomiegebiete.

Mit Sindschar an der irakischen Grenze zu Syrien eroberten die »Glaubenskrieger« am Sonntag auch ein historisches Zentrum der kurdischen Jesiden. Die Jesiden sind eine kurdisch sprechende, nichtmuslimische Minderheit, deren Religion teilweise auf dem altiranischen Zoroastrismus beruht. Das Jesidentum der Region ist etwa 900 Jahre alt. Aber nachdem sich die Peschmerga, die Elitetruppe der irakischen Kurden, Ende Juli kampflos zurückgezogen hatte, waren IS-Kämpfer in das Jesidengebiet einmarschiert. In Syrien stehen die Volksverteidigungseinheiten (YPG) der Kurden bereits seit Monaten im Abwehrkampf gegen IS, konnten bislang aber alle Angriffe auf ihr Territorium abwehren. Die Jesiden in Sindschar baten nun die YPG sowie die – türkische – Arbeiterpartei Kurdistans (PKK) um Schutz. Der Irak-Sonderbeauftragte der UNO, Nikolaj Mladenow, warnte inzwischen vor einer Katastrophe, da es den Tausenden in die umliegenden Berge Geflüchteten an Lebensmitteln und Wasser mangele.

Der Chef der Demokratischen Partei Kurdistans (KDP), gleichzeitig Präsident der kurdischen Autonomieregion, Massud Barsani, hatte den vertriebenen Jesiden am Montag über das Nachrichtenportal Basnews die Rückeroberung ihrer Siedlungsgebiete versprochen. Am Dienstag machten sich PKK-Kämpfer auf den Weg nach Sindschar, »um die Bevölkerung vor weiteren Massakern zu bewahren«, wie Murat Karayilan vom PKK-Exekutivrat sagte, der bereits seit Juni für ein gemeinsames Agieren aller Kurdenverbände gegen IS plädiert.

Ob die KDP, wie von Kritikern gedeutet, mit IS in der Vergangenheit gegen die Zentralregierung in Bagdad paktiert hat, ist schwer zu sagen. Beide Seiten profitierten bislang von gegenseitiger Nichteinmischung. IS hält sich aus der Erdölregion Kirkuk heraus, die seit dem Abzug der irakischen Armee von der KDP kontrolliert wird; die KDP habe IS dafür vorerst in Mossul agieren lassen, heißt es. Dem folgt nun die Ankündigung Barsanis, IS bekämpfen zu wollen. Auf dem kurdischen Flughafen von Erbil waren kürzlich schwere Waffen eingetroffen, die den Kurden von den USA bislang verweigert worden waren.

In Strategien der USA und von EU-Regierungen wird eine kleingliedrige Neuaufteilung im Mittleren Osten anhand von ethnischen und religiösen Spaltungslinien als wünschenswert angesehen. Kurdische Nachrichtenagenturen berichteten von einem Geheimtreffen von IS-Abgesandten mit Vertretern aus NATO-Staaten und der KDP am 9. Juni in Amman. Eine Aufteilung Iraks in einen schiitischen, einen sunnitischen – unter IS – und einen kurdischen Teil käme der KDP entgegen, die einen auf Ölhandel fixierten kurdischen Staat, ähnlich den Emiraten am Persischen Golf, anstrebt.

** Aus: neues deutschland, Donnerstag 7. August 2014


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