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1. Mai 2003: "Mission accomplished"

Vor drei Jahren verkündete Präsident Bush das Ende des Krieges - Heute ist der Irak "am Rande des Abgrunds"

Von Karin Leukefeld, z.Zt. Doha (Katar)

Eine anonymisierte Umfrage unter Exilirakern mit akademischer Ausbildung in Jordanien hat ergeben, dass viele der Zukunft ihrer Heimat mit Skepsis entgegensehen. Professor A.A. der für sich keine Berufschancen mehr in Bagdad sah und “am Rande des Abgrunds lebte“, äußert sich überzeugt, dass sich die Lage in naher Zukunft nicht beruhigen werde: „Soweit man sehen kann, bleibt die Zukunft dunkel. Vielleicht rührt diese hoffnungslose Perspektive daher, dass die unterschiedlichen Interessen der Nachbarländer Iraks die irakische Frage bestimmen. Was wir heute im Irak sehen, ist nur die Spitze des Eisbergs.” Mit dieser trüben Einschätzung ist A.A. nicht allein. Sein Kollege R.R. meint: “In naher Zukunft wird im Irak das Chaos herrschen, langfristig gesehen die Armut.” Auch D.M. der 18 Jahre an der Bagdad Universität unterrichtete, äußert sich pessimistisch: “Vielleicht gibt es noch mehr Blutvergießen und auch einen Bürgerkrieg“, meint er. Aber niemals werde es den ausländischen Besatzungstruppen gelingen, die irakische Gesellschaft zu „ersticken“. Mindestens für die nächsten 5 Jahre sei die Zukunft Iraks nicht viel versprechend. F.F., ein weiterer Exiliraker, beklagt das “unzivilisierte Verhalten“ vieler seiner Landsleute. “Jedes Lager denkt nur an sich, viele wollen sich nur persönlich bereichern, es ist wie im Dschungel.”

Drei Jahre nach dem von George W. Bush erklärten Kriegsende im Irak (siehe Die Rede des US-Präsidenten George W. Bush auf dem Flugzeugträger "Abraham Lincoln"), leben Hunderttausende Iraker in den arabischen Staaten im Exil. Allein in Jordanien sind es nach Schätzungen von Hilfsorganisationen 750.000, die jordanische Regierung spricht offiziell nur von 250.000. Entführungen, Morde unbekannter Täter, willkürliche Explosionen, Arbeitslosigkeit, Teuerung, Strom- und Wassermangel treiben die Menschen aus dem Land. Die meisten haben den Irak seit 2004 verlassen, oft nur, um ihr Leben zu retten.

Einer Studie des irakischen Frauenministeriums zufolge, sind inzwischen allein in der irakischen Hauptstadt mindestens 300.000 Witwen registriert, landesweit sind es 8 Millionen. Die größte Zahl dieser Frauen hat ihre Ehemänner in den vergangenen Kriegen verloren, doch durch Anschläge und die anhaltende Gewalt im Irak, werden täglich landesweit 90 weitere Ehefrauen zu Witwen, so Maida Zuhair, Sprecherin der Organisation für die Rechte der Frauen (WRA) in Bagdad. „Hunderte Haushalte verlieren ihre Ernährer, immer mehr Frauen suchen heute nach Arbeit.“ Staatliche Unterstützung gibt es für sie nicht.

Ansteigend ist auch die Zahl der Inlandsflüchtlinge im Irak. Allein in den ersten drei Aprilwochen haben offiziellen Angaben zufolge 25.000 Menschen aus Angst vor den religiösen Auseinandersetzungen ihre Wohnungen verlassen, so Dr. Salah Abdul-Razzak von der Schiitischen Stiftung, die für den Erhalt und die Sicherheit schiitischer Religionsinstitute und Moscheen zuständig ist. Landesweit seien 13.750 Familien vertrieben, rund 90.000 Personen. Die Stiftung hilft finanziell, sagt Abdul-Razzak, doch viel ist das nicht. Eine fünfköpfige Familie erhält monatlich 40 US-Dollar, eine sechsköpfige Familie 50 US-Dollar und eine Familie mit mehr als 10 Personen erhalte pro Monat 75 US-Dollar. Die Irakische Rote Halbmondgesellschaft nennt ähnliche Zahlen für die Inlandsvertriebenen, „täglich steigt die Zahl an“, so der Direktor der Organisation, Dr. Saad Haki. 100.000 Freiwillige verteilten Essenspakete, Trinkwasser, Decken und Kerosin zum Kochen, doch es sei nie genug.

Nach langem Schweigen hat sich vor wenigen Tagen auch Großayatollah Ali al-Sistani zu dem gewalttätigen Chaos im Irak geäußert. Die neue Regierung müsse endlich die im Land operierenden Milizen entwaffnen, die Kontrolle über die Waffen müsse ausschließlich bei der Regierung liegen, so Sistani bei einem Treffen mit dem designierten irakischen Ministerpräsidenten Jawad al-Maliki in Najaf. Soldaten und Polizisten müssten der Nation dienen, nicht verschiedenen Parteien. Auch die zukünftigen Regierungsmitglieder sollten nationale Interessen verfolgen, nicht ihre persönlichen, die ihrer Parteien oder ihrer Religionsgemeinschaft. Al-Maliki müsse außerdem dafür sorgen, dass Entführungen und bewaffnete Überfälle aufhören und die Bevölkerung endlich mit ausreichend Elektrizität und sauberem Trinkwasser versorgt werde. Die Auflösung der bewaffneten Gruppen steht für Al-Maliki nach eigenen Aussagen ganz oben auf der Tagesordnung, sobald eine neue Regierung gebildet ist. Gemäß Verfassung können die Milizen sich nach ihrer Entwaffnung in die staatlichen Sicherheitskräfte bei Militär oder Polizei eingliedern.

Der iranische Präsident Machmud Ahmadinejad, nahm die Ernennung von Jawad al-Maliki derweil zum Anlass, die vor wenigen Wochen anvisierten direkten Gespräche zwischen den USA und Iran über die Sicherheitslage im Irak, abzusagen. Sie seien nicht mehr nötig, so Ahmadinejad, die Iraker könnten von nun an „auf ihren eigenen zwei Füssen stehen.“

Imad Khadduri, ein im Exil lebender irakischer Wissenschaftler sagte im Gespräch mit dem ND, er werde niemals die Hoffnung verlieren, dass seine Heimat eines Tages wieder frei sein werde. „Aber die tiefen Zerwürfnisse im Land machen mich traurig.“ Vor drei Jahren sei er der festen Überzeugung gewesen, dass der Irak kulturell, menschlich, politisch und historisch über einen sehr festen Kern verfüge, den die Besatzung nicht brechen könne. Der Angriff auf die Moschee in Samarra aber habe einen zentralen Nerv der Iraker getroffen und die religiöse Spaltung beschleunigt. Die von den Amerikanern aufgebrachte und in der Verfassung festgeschriebene Teilung der irakischen Gesellschaft in Sunniten und Schiiten, in Kurden und Araber habe sich mit dem Angriff auf die Moschee in Samarra verhärtet. „Es wird lange dauern, bis alle Wunden geheilt sind“, so Khadduri. „Vielleicht sogar Generationen, aber der Irak wird wieder auferstehen. Wir sind nicht Afghanistan, wir sind nicht wie andere. Sie haben ein sehr stolzes Volk geschlagen und müssen mit einer harten und emotionalen Antwort rechnen.“

Andere nehmen die Lage in ihrer Heimat mit Galgenhumor. Der Exiliraker Hamid A. kommentiert die politischen Verhältnisse im Irak mit einem weit verbreiteten Witz: „Ein Bauer hatte einen Hahn. Der krähte jeden Morgen so laut, dass die Nachbarn sich gestört fühlten und ihn aufforderten, den Hahn zu schlachten. Der Bauer schlachtete also seinen Hahn und lud die Nachbarn ein, den Braten zu verspeisen. Am nächsten Morgen aber wachte er von einem noch lauteren Krähen auf, als er jemals zuvor gehört hatte: 25 Hähne standen bei seinen Nachbarn auf ihren Misthaufen und krähten um die Wette.“ Jeder wolle heute Chef im Irak sein, meint Hamid lakonisch. “Egal ob im Süden, in Kurdistan, in Bagdad oder im Westen, wenn du sie kritisierst, riskierst du dein Leben.”

Interview mit Dr. Fida Safa Mohamed Ali

Fida Safa Mohamed Ali (49) ist Doktor der Wissenschaftlichen Materialkunde und leitet im irakischen Ministerium für Wissenschaft und Technik die Forschungsabteilung. In Doha (Katar) nahm sie an der von der Katar Stiftung organisierten Konferenz für im Ausland lebende arabische Wissenschaftler teil. Ziel der Konferenz war, die Arbeit der arabischen Wissenschaftler besser zu koordinieren.
Mit Fida Safa Mohamed Ali sprach Karin Leukefeld (z.Zt. in Doha)


Gibt es konkrete Ergebnisse, die Sie von dieser Konferenz für Ihre Arbeit in Bagdad mitnehmen können?

Dr. Fida Safa Mohamed Ali: Die Arbeit steht erst am Anfang. Ich erinnere mich, dass schon vor einigen Jahren, als Irak noch unter den Sanktionen stand, Scheichin Mosah eine Initiative gestartet hatte, um unsere irakischen Universitäten zu unterstützen. Doch wegen der Invasion wurde das nicht mehr umgesetzt. Ich hoffe, dieses ist ein neuer Anfang für die Beziehungen zwischen Katar und den irakischen Wissenschaftlern.

Einer Ihrer Kollegen verwies in seiner Rede auf den Appell von UNESCO, in dem auf die Gefährdung der irakischen Wissenschaftler hingewiesen wird. Wie sieht denn ihre alltägliche Arbeit heute in Bagdad aus?

Dr. Fida Safa Mohamed Ali: Wir rechnen jederzeit mit allem. Ich weiß nicht, ob wir überhaupt noch wie Menschen leben, überall herrscht Angst, die Menschen fühlen sich terrorisiert. Unser Glaube an Gott und an das Leben hält uns aufrecht. Wissenschaftler und Akademiker haben in diesen Jahren einen hohen Preis bezahlt. Es gibt eine lange Liste von Wissenschaftlern, die getötet wurden. Wir sind diese Liste genau durchgegangen, um herauszufinden, ob es spezielle Merkmale gibt, warum sie getötet wurden. Wegen ihrer Religion, ihren Themenbereichen? Aber wir konnten nichts finden. Unter ihnen waren Mediziner, Physiker, es waren Chemiker und Sprachwissenschaftler. Sie waren Schiiten, Sunniten und Christen, Männer und Frauen, also sind wir zu dem Schluss gekommen, dass alle Akademiker im Irak angegriffen werden.

Am 1. Mai 2003 verkündete George W. Bush, der Krieg im Irak sei vorbei, die Aufgabe dort sei erfüllt. Drei Jahre sind seitdem vergangen, was sagen Sie zu diesem zweifelhaften Jahrestag.

Dr. Fida Safa Mohamed Ali: Natürlich ist das kein Jahrestag, den wir feiern wollten. Ich glaube nicht, dass der Krieg vorbei ist, obwohl es kein typischer Krieg ist, in dem wir leben. Wir kennen Krieg, drei große Kriege haben wir seit 1980 erlebt, als der Iran-Irak-Krieg begann. Aber in keinem der Kriege haben wir so gelitten, wie jetzt. Ich würde sagen, dass wir gar nicht richtig leben, es ist jenseits aller Vorstellungen. Es ist nicht das erste Mal, dass ein Land besetzt oder eine Regierung gestürzt wurde. Es ist auch nicht das erste Mal, dass es eine Revolution gab, aber dennoch sind wir ein Modellfall für etwas, was Menschen noch nie erlebt haben. Ich kann zwar nicht sagen, dass wir keine Regierung haben, aber dennoch, seit drei Jahren haben wir einfach keine Ansprechpartner.

Wird ihr Leben sich mit einer neuen Regierung zum Guten wenden?

Dr. Fida Safa Mohamed Ali: Wenn wir uns die Sache theoretisch ansehen und hören, was die Politiker sagen, könnten wir schon optimistisch sein. Aber nichts davon hat in der Praxis Bestand und wenn wir die Fakten analysieren, bleibt nur Pessimismus. Selbst die neue Regierung basiert auf Trennung. Die Politiker wurden nicht ausgewählt, weil sie klug, weise und anerkannt sind, nein. Kriterium für ihre Wahl war, welcher Religion, welcher Gruppe sie angehören. Und wenn etwas auf falschen Fakten aufgebaut ist, wird und kann es nicht funktionieren. Dieses Demokratiemodell, das dem Irak vom Ausland aufgezwungen wurde, können wir nicht akzeptieren.




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