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Wo Krankheit Sünde ist

Im indischen Unionsstaat Tamil Nadu werden Aids-Kranke aus der Gesellschaft ausgestoßen

Von Judith Zimmermann, Dindigul *

Im Süden Indiens ist Aids eine Volksseuche. Wer daran erkrankt, wird aus der Gesellschaft ausgegrenzt. Dem Staat fehlen das Geld und oft auch der Wille, wirksam zu helfen. Nur wenige Hilfsorganisationen wie Paasam des Franziskaners Arulsamy springen ein.

Priya war 19 Jahre alt, als ihre Eltern sie einem 15 Jahre älteren Rikschafahrer zur Frau gaben. Nur sechs Monate später starb ihr Mann. Eine Untersuchung kurz vor seinem Tod ergab, dass er HIVpositiv war. Seiner Frau gab er an Stelle des Kindes, das sie sich so sehnlich gewünscht hatte, den Virus weiter.

Dindigul, eine kleine Stadt im Süden des indischen Unionsstaates Tamil Nadu, hat die dritthöchste HIV-Rate in diesem Staat. Hier sterben selbst Kinder an der Immunschwächekrankheit, junge Frauen sowieso. Eine 21-jährige Frau wurde von ihren Eltern verstoßen, weil sie Aids hatte. Eine 27- Jährige war gezwungen, sich zu prostituieren, da niemand sie wegen ihrer Aids-Erkrankung anstellen wollte.

In dieser Umgebung gründete Father Arulsamy, ein Franziskanerbruder, vor zwei Jahren auf einem Bauernhof bei Dindigul ein Zentrum für Aids-Kranke. Er nannte seine Organisation »Paasam«. Das heißt auf Tamilisch »mütterliche Liebe, Zuneigung«, ist aber zugleich die Abkürzung für »Aktionsplan für Aids-Opfer und Soziale Aktionsbewegung«. Ziel des Zentrums ist es, die Erkrankten in die Gesellschaft einzubeziehen und die Verbreitung des Virus wenn nicht zu stoppen, so doch zu verlangsamen.

Paasam hat derzeit 429 Patienten, davon 160 Männer, 237 Frauen und 32 Kinder. 34 Patienten sind in den vergangenen zwei Jahren verstorben. Auch alle Mitarbeiter der Organisation sind infiziert, ausgenommen ein Koordinator, eine einzige Angestellte und Father Arulsamy selbst. Sie bieten sowohl Rat als auch Medikamente und bessere Ernährung an. Damit leistet das Zentrum, was der Staat nicht kann: Den staatlichen Krankenhäusern fehlt das Geld für gründliche Behandlungen, oft auch für Medikamente. Einige Paasam-Mitarbeiter besuchen auch Patienten in der Stadt und in den Dörfern der Umgebung Dindiguls. Und sie sorgen für die Kinder ihrer Patienten, die nicht infiziert sind. Denn auch sie sind betroffen: Bald werden sie Waisen sein. Das Zentrum Father Arulsamys sucht nach finanzieller Hilfe, um ihnen Schulunterricht zukommen zu lassen. Wer Glück hat, kommt in ein Internat.

Tamil Nadu ist einer der Unionsstaaten, in dem Aids am häufigsten auftritt. Seit dem ersten bekannten HIV-Fall in Indien 1986 ist die Krankheit in allen Staaten und Unionsterritorien aufgetreten, die meisten Fälle gibt es aber im Süden und im Nordosten des riesigen Landes. Das dürfte auch damit zu tun haben, dass der Süden viele Güter wie Obst und Stoffe in den Norden liefert. Die Lastwagenfahrer sind oft tagelang auf den Straßen und befriedigen ihre sexuellen Bedürfnisse an Prostituierten. Der Sextourismus gehört denn auch zu den wichtigsten Verbreitungswegen von Aids. Im Norden ist zudem die Verwestlichung einen kleinen Schritt weiter vorangeschritten, wenn auch nur in den Städten. Im Süden dagegen werden Kondome noch immer abgelehnt. Sexualität ist hier ein Tabuthema. Prostitution ist eigentlich im ganzen Land verboten, ebenso wie Ehebruch und Homosexualität. Trotzdem oder gerade deswegen gibt es eine große Nachfrage danach. Und in den wenigsten Fällen wird in irgendeiner Weise verhütet.

Die Tabuisierung der Sexualität trifft auch Aids selbst. Die Betroffenen haben Angst, von den Eltern enterbt, verstoßen oder gezwungen zu werden, trotz ihrer Krankheit harten Arbeiten nachzugehen oder sogar Kinder zu zeugen. Viele Kranke leiden daher im Stillen. Deshalb ist es unmöglich, die genaue Zahl der Aids-Kranken in Indien zu ermitteln. Die neueste Studie schätzt, dass von einer Milliarde Menschen in Indien etwa 2,3 Millionen infiziert sind. Davon sollen 39 Prozent Frauen und 34 Prozent Kinder sein. Die Studie stellt außerdem fest, dass Frauen eher ihre Krankheit zugeben als Männer, wahrscheinlich, weil sie um das Wohl ihrer Familie und der Kinder besorgt sind. Die 19- jährige Priya aber konnte nicht mit dem Mitleid ihrer Familie rechnen – und schon gar nicht mit Schuldgefühlen ihrer Eltern, die sie zur Heirat gedrängt hatten. Ganz im Gegenteil: Sie gilt in Dindigul als Sünderin. Der Großteil der indischen Gesellschaft verhöhnt Aids-Kranke, statt ihnen zu helfen.

* Aus: Neues Deutschland, 2. Juli 2009


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