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Krieg gegen das eigene Volk

Dokumentiert. Der indische Staat drangsaliert im Dienst des Kapitals die Landbevölkerung

Von Jan Myrdal *

Die Anwesenden bei dieser Versammlung wissen – oder haben zumindest davon gehört –, daß die Organisatoren unseres Treffens recht haben: In Indien findet ein Krieg gegen das Volk statt. Allein unsere Anwesenheit hier zeigt, daß wir es für notwendig erachten, eine internationale Verteidigung der Rechte der Völker Indiens zu organisieren.

Ich will hier einige Fragen zu der dringend nötigen Solidarität aufgreifen. Ich versuche, sie eine nach der anderen zu diskutieren.

Als ich letztes Jahr aus dem Gebiet der bewaffneten Kämpfe in Dandakaranya zurückkam und über meinen Besuch und die Gespräche mit dem Generalsekretär und verantwortlichen politischen beziehungsweise militärischen Kadern der Kommunistischen Partei Indiens (Maoisten) zu schreiben begann, las ich in der Hindustan Times vom 4. Juli 2010 unter dem Titel »Indiens Kampf gegen den Aufstand«: »In einem Land, wo eine von fünf Personen im Schatten des Aufstandes lebt, findet eine bedeutend härtere Schlacht statt als in Kaschmir, Irak oder Afghanistan. Indiens reichste Gebiete, die Heimat seiner ärmsten Menschen, sind dabei, durch einen massiven Vorstoß gegen die maoistischen Rebellen in den kommenden fünf Jahren und länger zum Hauptschauplatz eines Konfliktes in einem unmöglichen Terrain und unter unmöglichen Bedingungen zu werden. Indien hat sich schließlich entschlossen, den 42jährigen Aufstand frontal anzugehen. In Hinsicht auf Umfang und Terrain wird es einer der härtesten Kämpfe gegen einen Aufstand werden. Das Hauptschlachtfeld in der abgelegenen und stark bewaldeten Bastar-Re­gion von Chhattisgarh – die Stätte von einigen der besten Eisenerze der Welt – ist zehnmal so groß wie das Kaschmir-Tal, und seit zwei Jahrzehnten stehen große Gebiete unter der Herrschaft der Rebellen.«

Organisierter Landraub

Nicht nur der Krieg in Indien ist kein Geheimnis mehr, sondern selbst der materielle Grund für das Verhalten des Staates in diesem Krieg – »einige der besten Eisenerze der Welt« – wird klar benannt. Das »Komitee für staatliche Agrarbeziehungen und nicht abgeschlossene Aufgaben der Landreformen; Ministerium für die ländliche Entwicklung, Regierung von Indien« drückte es im Band 1 (Entwurf) vom März 2009 so aus: »Schlußfolgerung – Der größte Landraub von indigenem Land seit Kolumbus. Eine bürgerkriegsähnliche Situation hat die südlichen Distrikte von Bastar, Dantewada und Bilaspur in Chattisgarh ergriffen. Die Widersacher sind die bewaffneten Einheiten von indigenen Männern und Frauen der früheren Volkskriegsgruppe, jetzt als die Kommunistische Partei Indiens (Maoisten) bekannt, auf der einen und auf der anderen Seite die indigenen Gruppen der Salwa Judum, die von der Regierung bewaffnet und ermuntert wurden und die durch die Feuerkraft und die Organisation der zentralen Polizeikräfte unterstützt werden. Dieser offen erklärte Krieg wird in die Geschichte als der größte Landraub aller Zeiten eingehen, wenn er verläuft wie geplant. Das Drama wurde von Tata Steel und Essar Steel entworfen, die etwa sieben Dörfer entvölkern wollen, um dort die besten Eisenerzvorkommen in Indien abzubauen.«

In The Hindu vom 3. Juni 2011 lese ich einen Artikel von Markandey Katju, ein Richter des höchsten Gerichtshofes Indiens. Er zitiert dort eine Rede von P. Sainath, Verantwortlicher der Zeitung für ländliche Fragen und Träger des Magsaysay-Preises, die dieser am 6. September 2007 im Parlament hielt: »Die Realität Indiens (wo 70 Prozent des Volkes in ländlichen Gebieten leben) ist einfach die, daß sich Indien in der schlimmsten Landwirtschaftskrise der letzten vier Jahrzehnte befindet. Millionen Lebensgrundlagen sind in den vergangenen 15 Jahren wegen der raubgierigen Kommerzialisierung des Landes und der Reduzierung aller menschlichen Werte auf den Tauschwert zu Schaden gekommen oder zerstört worden. Als Ergebnis haben Hunderttausende von Bauern Selbstmord begangen und Millionen Menschen sind emigriert aus den ländlichen Gebieten in die Städte auf der Suche nach Arbeit, die es nicht gibt. Sie sind auf einen Stand gesunken, der weder ›Arbeiter‹ noch ›Bauer‹ ist. Viele enden als Haushaltshilfen oder als Kriminelle. Wir sind in eine Industrie­landwirtschaft getrieben worden, ein Prozeß, bei dem der Boden den Bauern entrissen und in die Hände von Unternehmen gelegt wurde. Dieser Prozeß wurde nicht mit Gewehren, Panzern, Bulldozern oder Lathis [die langen Knüppel der Polizei] erzielt. Er wurde erreicht, indem die Landwirtschaft sich für Millionen Kleinfamilien und Landarbeiter wegen der hohen Kosten von Saatgut, Dünger und Treibstoffen und niedriger Preise nicht mehr lohnte.«

Zerstörung der Lebensgrundlagen

Diese Diskussion in Indien wird jetzt allmählich auch in großen Medien außerhalb Indiens aufgegriffen. Am 7. Juni veröffentliche Al-Dschasira auf seiner Webseite einen sehr wichtigen Artikel von Dr. Vananda Shiva, die 1993 den Alternativen Nobelpreises erhielt, unter dem Titel: »Der große Landraub: Indiens Krieg gegen die Bauern. Land ist ein mächtiges Gut, das für das Wohlergehen der Menschheit durch Anbau und Ökologie verwendet werden sollte«.

In diesem Artikel sagt Dr. Vananda Shiva: »Das Finanzkapital ist hungrig nach Investitionen und dem Profit seiner Investitionen. Es muß alles auf dem Planeten in Güter verwandeln – Land und Wasser, Pflanzen und Gene, Mikroben und Säugetiere. Die Verwandlung von Land in eine Ware beschleunigt den Landraub der Unternehmen in Indien, sowohl durch Schaffung von Sonderzonen als auch durch ausländische Direkt­investitionen in den Boden. (...)

Die Kolonisierung basierte auf der gewaltsamen Aneignung von Land. Und jetzt führt die Globalisierung als Neukolonisierung zu massivem Landraub in Indien, Afrika, Lateinamerika. Land wird geraubt für spekulative Investitionen, für spekulative Städteerweiterung, für Bergwerke und Fabriken, für Land- und Schnellstraßen. Land wird von Bauern geraubt, nachdem sie in Schulden gefangen waren und in den Selbstmord getrieben wurden. (...)

Kreuz und quer in Indien, von ­Bhatta in Uttar Pradesh (UP) bis Jagasingphur in Orissa und Jaitapur in Maharashtra erklärte die Regierung unseren Bauern, unseren annadatas [telugu = Bauer] den Krieg, um ihr fruchtbares Ackerland zu rauben.

Das Instrument ist das koloniale Landerwerbsgesetz, das von den ausländischen Herrschern gegen Indiens Bürger angewandt wurde. Die Regierung benimmt sich wie die ausländischen Herrscher, als sie das Gesetz 1894 einführte, um sich Land mit Gewalt für den Profit von Unternehmen anzueignen – für JayPee Infratec in Uttar Pradesh für die Yamuna-Schnellstraße, POSCO in Orissa und AREVA in Jaitapur – Landraub für privaten Profit und nicht, so sehr man der Phantasie freie Zügel läßt, für öffentliche Zwecke. Das ist heute bei uns üblich. (...)

Heute braut sich eine ähnliche Situation in Orrissas Jagatsinghpur zusammen, wo 20 Bataillone eingesetzt wurden, um den verfassungswidrigen Landerwerb zu unterstützen und Indiens größte Auslandsinvestition – das POSCO-Stahlwerk – zu schützen. Die Regierung hat das Ziel, 40 Betel-Farmen zu zerstören, um den Landraub zu ermöglichen. Betel bringt den Bauern einen jährlichen Verdienst von 400000 Rupiahs (9000 US-Dollar) per 0,4 Hektar ein. Die Anti-POSCO-Bewegung hat unzählige Male in ihrem fünfjährigen friedlichen Kampf staatliche Gewalt erfahren und unternimmt jetzt eine weitere – vielleicht die letzte – gewaltlose und demokratische Widerstandsaktion gegen einen Staat, der Gewalt einsetzt, um undemokratischen Landraub für Unternehmensprofite zu ermöglichen, und Gesetze sowie die Verfassungsrechte der Menschen übersieht. Die Anwendung von Gewalt und Zerstörung der Lebensgrundlage, der sich im gegenwärtigen Trend widerspiegelt, ist nicht nur gefährlich für die Zukunft der indischen Demokratie, sondern für das Überleben des indischen Nationalstaates. Wenn man bedenkt, daß Indien behauptet, eine wachsende und blühende Wirtschaft zu haben, aber nicht in der Lage ist, 40 Prozent seiner Menschen zu ernähren, dann ist dies eine nationale Schande.

Fruchtbares Land an private Unternehmen zu geben, die zu neuen Zamindars (erblicher Adel) werden, kann nicht als öffentlicher Nutzen definiert werden. Zahlreiche private Autobahnen und Superschnellstraßen zu bauen, ist keine notwendige Infrastruktur. Die wirkliche Infrastruktur, die Indien braucht, ist die ökologische Infrastruktur für Nahrungs- und Wassersicherheit. Unser fruchtbares, Nahrungsmittel produzierendes Land unter Zement und Fabriken zu begraben, heißt die Zukunft unseres Landes zu begraben.«

Solche Texte von Wissenschaftlern, Journalisten und Beamten in Indien sollten in unseren Ländern im Westen verbreitet, wenn nötig übersetzt werden. Sie zeigen die Realität Indiens und die öffentliche Diskussion dort. Ich habe diese langen Zitate wiedergegeben, weil sie den Unterschied deutlich machen zwischen der wirklichen Diskussion in Indien und der Berichterstattung über Indien in unseren Ländern.

Mangelndes Medieninteresse

Bei der und durch die Organisierung einer Solidaritätsbewegung mit den Völkern Indiens in unseren Ländern ist es wichtig, die falsche Darstellung der indischen Realität in den hiesigen Medien zu überwinden, die tatsächlich einer Art Nachrichtenblockade über die Wirklichkeit Indiens gleichkommt. Jene von euch, die – wie ich – in Friedensbewegungen aktiv waren oder in der sogenannten Linken vor sechzig oder siebzig Jahren, kennen das in der Tat sehr gut. Diejenigen unter uns, die ein Interesse an Geschichte haben, können auch in Bibliotheken gehen und die Zeitungen der vergangenen zwei Jahrhunderte durchblättern. Nichts ist neu in dem Verhalten der Medien.

Drei Punkte sollte man im Auge behalten. Der erste geht um das Ausmaß. Es war möglich– aber gefährlich – die Öffentlichkeit über die wahre Situation im wilhelminischen Deutschland während des Ersten Weltkrieges zu informieren. Es war nicht möglich in Hitler-Deutschland im Zweiten Weltkrieg. Gegenwärtig ist es schwierig, aber nicht unmöglich, wirkliche Informationen über die Situation in Indien in offiziellen Medien in unseren Ländern wie z. B. Schweden zu publizieren.

Der zweite Punkt dreht sich darum, daß es bestimmende und ideologische Gründe für das mangelnde Medieninteresse an der realen Situation in Indien gibt. Der touristische Grund– daß es ausreicht, Indien als extrem faszinierendes Land mit einem großen kulturellen Erbe zu schildern, was es auch ist – ist nicht der entscheidende. Der ökonomische ist weitaus wichtiger. Schweden ist nicht nur Bofors (ein schwedischer Rüstungsbetrieb, d. Red.), wie man weiß. Das Eisenerz und die Wasserressourcen in der Guerillazone, wo die Menschen sich verteidigen, sind von extremem Interesse auch für schwedische Kapitalgruppen. Die Medien unter deren Einfluß sollen darüber also nicht zu viel schreiben.

Es gibt auch einen dritten, ideologischen Aspekt. Es ist den führenden Kreisen in Indien ganz klar: Wenn der Kampf der Armen und Getretenen um ihre Rechte (insbesondere, wenn er bewaffnet ist) als »Extremismus« und »Terrorismus« definiert werden kann, dann kann man das ausnutzen, ihre Politik gegen die Völker Indiens als Teil des globalen Krieges gegen den Terrorismus darzustellen.

Man erinnere sich, daß »der Westen« (selbst offiziell bis vor kurzem »blockfreie Staaten« wie Schweden) mindestens drei offene Kriege im Nahen Osten führt: Offiziell gegen Terrorismus und für Demokratie und Feminismus, aber in Wirklichkeit – wie ich und viele von uns es sehen – für materielle und imperiale Interessen wie Erdöl, Handelswege und militärische Einflußsphären. Wie in anderen Kriegen in unserem Zeitalter haben Individuen und Parteien (Norwegen liefert gute Beispiele) ihre Karrieren in Kämpfen gegen Kriege, gegen die NATO und die Vereinigten Staaten gemacht und sind jetzt direkt und profitabel in diesen Kriegen engagiert. Wenn die herrschenden Kreise Indiens ihren Krieg gegen die Adivasi und Dalits (Angehörige indigener Völker und »Unberührbare«, d. Red.) als Teil des allgemeinen Krieges gegen den Terrorismus darstellen können, dann werden sie starke politische Unterstützung erhalten.

Wir sollten uns der Begriffe, die wir benutzen, bewußt sein. Selbst in Indien sind Wörter wie Adivasis und Dalits mit Kastenuntertönen behaftet und werden von den herrschenden Kreisen benutzt, um unbewußte traditionelle Vorurteile auszunutzen (wie in unseren Sprachen, wenn wir koloniale Begriffe wie »Stamm« oder »Ausgestoßene« benutzen).

Wir sollten im Kopf behalten, daß »Adivasi« nichts zu tun hat mit »primitiv« oder »Terrorismus«. Sie sind Indigene, sie haben dort gelebt, lange bevor indische Staaten geschaffen wurden. »Adivasi« und »Dalits« sind Teile der Völker Indiens und jetzt auch offiziell indische Bürger. Die Regierung führt in Wahrheit gegen sie einen Krieg gegen ihr eigenes Volk. Aber sie sind Teil der umfangreichen Gruppe von Völkern in Indien, die von den herrschenden Kreisen und ihrer Regierung ihrer Rechte beraubt wurden, und sie kämpfen, um ihre menschlichen, sozialen und politischen Rechte zurückzugewinnen.

Internationale Solidarität

Die Benutzung des »Exotischen« ist ein ideologisches Werkzeug, das von Kolonialismus und Imperialismus und den gegenwärtigen herrschenden Klassen benutzt wird. Viele, vielleicht sogar eine Mehrheit der Schriftsteller und der Fernsehjournalisten auch in unseren Ländern sind einigermaßen gut und ehrlich und würden die Wahrheit berichten, wenn sie die Möglichkeit hätten. Die Schwierigkeit ist, korrekte Berichte an den Torwachen vorbeizubekommen. Viele dieser Torwächter, d. h. »verantwortliche Herausgeber«, waren in meinem Land Schweden vor einer Generation Teil der sogenannten Jugendrevolte. Mehrere von ihnen sind jetzt hochbezahlte und verantwortliche Herausgeber unserer Medien und haben auf die eine oder andere Weise bereut, daß sie sich in ihrer Jugend als eine Art »Marxisten-Leninisten« bezeichneten. Daran ist nichts besonderes. Das war in den Vereinigten Staaten vor 60 Jahren genauso. Damals bereuten viele Intellektuelle ihre ideologischen Sünden während der »Jahre des New Deal«.

Um das zu verstehen, braucht man sich nur das «Schriftstellergesetz« ansehen, das Goebbels 1934 erließ, nachdem Juden und Kommunisten rausgesäubert waren, und kann fragen, wie viele von den verbliebenen Schriftstellern vor Gericht kamen bis 1945. Die Antwort ist eindeutig. Niemand. Es war nicht die Gestapo, die die Herausgeber auf der Parteilinie hielt; es war ihr Gehalt, ihr Auto, ihr Haus oder Appartement.

Und dennoch gab es auch damals viele anständige deutsche Journalisten. Ich kannte mehrere. Unsere Situation ist nicht die in Deutschland im Zweiten Weltkrieg – oder selbst in Westdeutschland in der Adenauer-Zeit. Es ist möglich – obwohl nicht sehr leicht –, wirkliche Nachrichten über Indien zu drucken oder im Radio und Fernsehen selbst in unseren Ländern im Westen zu veröffentlichen. Doch um dies zu tun, sollte man sich die Aufforderung von Jesus an seine Jünger in Erinnerung rufen: »Seid weise wie Schlangen und zahm wie Tauben«. Für mich kommt dieser Rat wahrscheinlich zu spät. Ich hätte vor etwa siebzig Jahren daran denken sollen.

Aber wenn die herrschenden ökonomischen (und folglich politischen) Kreise in unseren Ländern eng verbunden sind (natürlich auch in Wettbewerb und streitend, aber dennoch verbunden) mit den herrschenden Gruppen in Indien, wird dann eine Solidaritätsbewegung mit den Völkern Indiens wirklich echten Einfluß gewinnen?

Wir können in der Geschichte zurückgehen und die Antwort finden. Nehmt die Sklavenfrage des 19. Jahrhunderts. Es gab in England sehr starke ökonomische Interessen im Sklavenhandel und später bei der Unterstützung des Südens im amerikanischen Bürgerkrieg. Die Argumente gegen den Sklavenhandel waren oft ideologisch und/oder religiös. Dennoch hat die Antisklavereibewegung Schritt für Schritt im 19. Jahrhundert Erfolg gehabt, und am 10. Dezember 1948 hat die Generalversammlung der Vereinten Nationen die Allgemeine Erklärung der Menschenrechte angenommen, wo Artikel 4 festhält: »Niemand darf in Sklaverei oder Knechtschaft gehalten werden; Sklaverei und Sklavenhandel müssen in allen ihren Formen verboten werden.«

Es gibt mehrere solcher Beispiele. Ich denke, es ist uns gelungen – trotz des Aufschreis im größten Teil der offiziellen Presse –, den Ausbruch eines Atomkrieges um 1952/53 zu verhindern. Die Bewegung gegen die USA in Indochina war auch ein entscheidender Faktor zur Beendigung des Krieges.

Die Lehre ist, daß es durch Solidaritätsbewegungen auf breiter Grundlage möglich ist, die politische Realität zu verändern. Nicht, daß es immer möglich ist: Viele von uns sind wahrscheinlich in Massendemonstrationen wie denen gegen den Krieg gegen Irak mitgegangen. Dennoch waren auch sie von großer Bedeutung.

Eine weitere Lehre ist die, daß oft jene Individuen, die aus religiösen oder anderen ideologischen Gründen uns fern standen – Bischöfe zum Beispiel, die oft in ihrer Opposition gegen ungerechte Kriege tapfer waren –, aufgestanden sind, während politische Genossen und Freunde der offiziellen Linken sich um ihr eigenes Wohl und Weh kümmerten.

Reichtum und Armut

Es ist jetzt siebzig Jahre her, als ich das erste ernsthafte Buch über Indien las – R. Palme Dutt »Indien heute«. Was er damals über »indische Armut« schrieb, ist heute so wahr wie damals:

»Es gibt zwei herausragende Tatsachen zur gegenwärtigen Situation in Indien: Erstens der Reichtum Indiens – der natürliche Reichtum, die reichlichen Ressourcen, die potentielle Wohlfahrt für die gesamte gegenwärtige und kommende Bevölkerung in Reichweite.

Zweitens die Armut Indiens – die Armut der überwältigenden Mehrheit des Volkes, eine Armut, die für jeden, der an die Bedingungen der westlichen Welt gewöhnt ist, jeder Beschreibung spottet. Dazwischen liegt das Problem der bestehenden sozialen und politischen Ordnung in Indien.«


Es ist mehr als fünfzig Jahre her, daß ich erstmals nach Indien kam, und dreißig Jahre, daß ich – zusammen mit meiner Frau und Tochter – nach Andhra Pradesh ging, um die Unterdrückung zu sehen und darüber zu berichten, über die Gewalt gegen die Frauen und die bewaffneten Einheiten jener Zeit (siehe mein Buch »Indien bricht auf«), und jetzt wurde ich in die Ghats im Osten eingeladen, um die führenden Genossen der Kommunistischen Partei Indiens (Maoisten) zu treffen und mit ihnen zu diskutieren. Viel ist geschehen in diesen Jahren, und die Schrecken des Ansturms der herrschenden Klasse gegen die Unterdrückten (und ihre Frauen) ist, wenn das überhaupt möglich ist, noch schlimmer geworden.

Aber es liegt nicht an mir – als einem Nicht-Inder –, jenen, die gegen die Unterdrückung kämpfen zu sagen, was sie tun müssen. Ich werde immer daran denken, was Rewi Alley mir in China während der turbulenten Zeit der Kulturrevolution sagte: »Denk dran, es ist ihr Land!«

Im Juli 2011 erscheint im Frankfurter Zambon Verlag von Jan Myrdal: Roter Stern über Indien. Wenn die Verdammten dieser Erde sich erheben, ISBN 978-3-88975-179-9, 12 Euro, 160 Seiten

* Aus: junge Welt, 25. Juni 2011


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