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Kapitalismus in Indien und die Auswirkungen der Marktliberalisierung

Von Lutz Getzschmann *

Teil I: Modernisierung und Massenarmut

Während die Machtzentren des kapitalistischen Weltsystems von der Krise gebeutelt sind und etwa der ökonomische Niedergang der USA bereits eingesetzt hat, scheinen Länder wie China, In­dien und Brasilien sich als neue Zentren kapitalistischer Entwicklung zu etablieren. Über die zunehmende Bedeutung Chinas als Wirtschaftsmacht ist in den letzten Jahren viel geschrieben worden. Die ökonomischen und politischen Modernisierungsprozesse im benachbarten Indien hingegen sind immer noch ein meist eher am Rande behandeltes Thema.

Dabei nehmen sich die indischen Wachstumszahlen auf den ersten Blick kaum weniger beeindruckend aus; der deutsche Kapital-Thinktank »Prognos« spekulierte erst vor kurzem in seinem »World Report 2035«, daß Indien im Jahr 2035 für das globale Wirtschaftswachstum etwa die gleiche Bedeutung aufweisen werde wie die Europäische Union. Seit sich die Regierung des Landes in den frühen 1990er Jahren vom bisherigen Modell eines staatlich gelenkten Kapitalismus mit importsubstituierender Industrialisierung verabschiedete und auf die radikale Liberalisierung und Weltmarktöffnung setzte, hat Indien die sprichwörtliche »Hindu-Wachstumsrate« von zirka drei Prozent jährlich weit hinter sich gelassen, die in den ersten 45 Jahren nach der Unabhängigkeit die Regel war. Zeitweilig waren Wachstumssprünge von jährlich bis zu elf Prozent zu verzeichnen.

Die indische Ökonomie hat auch den Einbruch der Weltwirtschaft der Jahre 2008/09 bisher relativ gut überstanden und wird voraussichtlich auch 2011 um etwa acht Prozent wachsen. Ihre Stärke ist dabei gerade vor dem Hintergrund der globalen Krise die geringe Exportabhängigkeit und bisher nur sehr partielle Einbindung in den Weltmarkt– die Ausfuhren machen gerade einmal ein Fünftel des Bruttoinlandsproduktes (BIP) aus. Von weit größerer Bedeutung als in anderen Schwellenländern sind die Inlandsmärkte; eine neue indische Mittelklasse von knapp 250 Millionen Menschen, also etwa 20 Prozent der Bevölkerung, hat in den letzten 20 Jahren einen Lebensstandard erreicht, der Lichtjahre von den Lebensbedingungen der großen Mehrheit der Bevölkerung entfernt ist.

Indische Konzerne wie Tata und ArcelorMittal agieren international; neben dem IT-Sektor (mehr als ein Drittel aller Computerdienstleistungen weltweit werden inzwischen in Indien erbracht), dem Bergbau und den Dienstleistungsbranchen ist nicht zuletzt die Automobilindustrie ein Motor der ökonomischen Entwicklung.

Die neue Bourgeoisie

Der oberflächliche Blick auf die Wachstumszahlen verdeckt, daß für eine breite Mehrheit der Bevölkerung sich die Lebensbedingungen seit der Marktliberalisierung Anfang der 1990er Jahre nicht verbessert, sondern drastisch verschlechtert haben. Während die neue urbane Bourgeoisie in glitzernden Shopping Malls westliche Konsumwelten erkundet, in bewachten Neubausiedlungen in den Vororten von Delhi, Mumbai, Kolkata, Bangalore oder Hyderabad ein komfortables Leben führt, zunehmend automobilisiert ist und ihre Kinder auf englischsprachige Privatschulen schickt, lebt ein großer Teil der Bevölkerung gleichsam auf einem anderen Planeten; die soziale und kulturelle Spaltung scheint kaum noch überbrückbar zu sein.

Die neue Mittelklasse lebt längst in einem anderen Indien, das mit dem der 500000 Dörfer, der agrarischen Kleinproduzenten und Landarbeiter, dem Indien der marginalisierten Massen und der von ihren kärglichen Löhnen mühsam überlebenden ungelernten und Gelegenheitsarbeiter so gut wie keine Berührungspunkte mehr aufweist.

Wie in vielen anderen Fällen einer derart rasanten ökonomischen und sozialen Entwicklung ist auch hier die Haltung der neuen Bourgeoisie gegenüber der Armutsbevölkerung von einer bestürzenden Fremdheit und Ignoranz geprägt, die die verbreitete Armut allenfalls als Peinlichkeit wahrnimmt und die Augen davor verschließt, daß die Modernisierungsgewinner der sich radikal wandelnden indischen Klassengesellschaft auf einem Pulverfaß leben.

So gibt es zudem inzwischen enorme und sich seit der Marktliberalisierung noch deutlich verschärfende regionale Unterschiede zwischen den Boomregionen in Maharashtra, Gujarat oder der Megalopolis rund um Delhi einerseits und den ländlichen Regionen. Das höchste Durchschnittseinkommen etwa erreicht mit 1500 ­Rupien der Distrikt Gurgaon in Haryana, unweit von Delhi, wo eine der größten Sonderwirtschaftszonen errichtet wurde, während im ärmsten Distrikt, Dantewada in Chhattisgarh, lediglich ein durchschnittliches Einkommen von 208 Rupien monatlich erreicht wird und 77 Prozent der Bevölkerung noch unter der geschönten offiziellen Armutsgrenze leben.

Diese ungleiche regionale Entwicklung hat auch eine völlig verschiedene Bevölkerungs- und Klassenstruktur hervorgebracht. Während die neue urbane Mittelschicht in manchen Distrikten Keralas und Haryanas bis zu einem Drittel der Bevölkerung ausmacht (und gemessen an der Höhe des Einkommens in Wirklichkeit eine Oberklasse ist, deren Einkommen zwischen 20- und 1000mal über dem Durchschnittseinkommen liegt), ist sie in den ländlichen Distrikten Bihars, Jharkhands, Chhatisgarhs, Orissas und Madhya Pradeshs nicht oder nur in Ansätzen (nämlich als neue für den Markt produzierende gehobene Bauernklasse) vorhanden. Der Anteil der Mittel- und Oberklasse (gemessen nach Einkommen) liegt in Bihar bei durchschnittlich vier Prozent.

Geschönte Statistiken

Eine der unverschämtesten Lügen über die sozia­le Entwicklung der indischen Gesellschaft, die von der indischen Regierung verbreitet und von westlichen Journalisten wiedergekäut wird, ist die Behauptung eines angeblichen Rückgangs der Armut durch die ökonomische Liberalisierung. So behauptete die Planungskommission der indischen Regierung bis vor kurzem stereotyp, daß der Prozentsatz der unter der Armutsgrenze Lebenden seit 1977 von 51 auf rund 26 Prozent der Bevölkerung zurückgegangen sei, eine Zahl, die von kritischen Agrarökonomen und Sozialwissenschaftlern massiv angezweifelt wird.

Der offiziellen Armutsdefinition liegt ein Warenkorb zugrunde, der auf Basis der Preise für Grundnahrungsmittel aus dem Jahr 1973/74 errechnet wurde. Als arm wurden zu diesem Zeitpunkt diejenigen Teile der Bevölkerung definiert, die über eine Kaufkraft verfügten, mit der eine Kalorienzufuhr von maximal 2 400 Kilokalo­rien täglich auf dem Land und 2 100 in der Stadt erreichbar sein sollte. Die Kalkulation wurde jedoch nie den aktuellen Entwicklungen angepaßt, sondern mittels eines Systems indirekter Berechnungen fortgeschrieben. Anstatt also die reale Preisentwicklung und die heute erforderlichen Ausgaben für grundlegende Anschaffungen zu bestimmen (die sich von denen des Jahres 1973/74 erheblich unterscheiden und sich u.a. durch die Kommodifizierung der ökonomischen Beziehungen auf dem Land grundlegend verändert haben), wird diese Grundlage nach einem undurchsichtigen System indirekter Kaufkraftberechnungen hochgerechnet und zudem mit den völlig unterschiedlich zustande gekommenen Armutsbemessungsquoten der einzelnen Bundesstaaten verrechnet. So ergibt sich ein gesamtindischer Schnitt von 354 Rupien pro Tag als Armutsgrenze – ein Betrag, von dem in Wirklichkeit niemand in Indien existieren kann. Die miteinfließenden implizierten Normen der täglichen Kalorienzufuhr, die mit einem solchen Betrag erreicht werden sollen, sind völlig irreal.

Mit umgerechnet 26 US-Cent liegt ein solcher Betrag noch weit unter den Armutsgrenzen der Weltbank. Auf der Basis der offiziellen Armutsquoten der Bundesstaaten etwa wird auf Ebene der Einkommen an der Armutsgrenze teilweise eine Kalorienzufuhr von 1500 Kalorien täglich oder gar weniger erreicht. Schon im Jahr 2001 erreichte die Verfügbarkeit von Nahrungsgetreide ein derart niedriges Niveau, wie es zum letzten Mal zu Kolonialzeiten am Vorabend des Zweiten Weltkrieges registriert worden war.

Allein von 1997/98 bis 2000/2001 sank der Pro-Kopf-Verbrauch an Nahrungsgetreide von einem durchschnittlichen Jahreswert von 174,3 auf nur noch 151 Kilogramm. Es muß für Indien also eine Hungerkrise konstatiert werden, die nicht auf der mangelnden Leistungsfähigkeit des Agrarsektors insgesamt beruht, sondern auf der systematischen Ausrichtung der Landwirtschaft auf die Bedürfnisse des Weltmarktes. Vorsichtige Berechnungen besagten für 2004/2005, daß 75,8 Prozent der indischen Bevölkerung auf eine tägliche Kalorienzufuhr von weniger als 2100 Kilokalorien (städtisch) bzw. 2400 Kilokalorien (ländlich) kamen.

Unterernährung ist dabei nicht nur ein Phänomen ländlicher Unterentwicklung, auch 63,9 Prozent der städtischen Bevölkerung haben regelmäßig nicht in ausreichendem Maße Nahrungsmittel zur Verfügung.

Verschärfend wirkt sich dabei die Ende der 1990er Jahre vollzogene Demontage des Public Distribution System (PDS) aus, das 1965 zunächst in ländlichen Gebieten eingeführt worden war, um Menschen mit niedrigem Einkommen Zugang zu Nahrungsmitteln und anderen Grundbedarfsprodukten zu subventionierten Preisen zu verschaffen und in den 1980er Jahren deutlich ausgebaut wurde. Zunächst unbegrenzt allen zugänglich, wurde 1997 eine Kategorisierung eingeführt, die nur noch jenen, die mit Berechtigungsscheinen nachweisen können, unterhalb der offiziellen Armutsgrenze zu leben (»Below Poverty Line« – BPL), Nahrungsmittel zu vergünstigten Preisen zugänglich macht. Zugleich wurden die ihnen zustehenden Mengen gekürzt. Einem Großteil der in Armut lebenden Bevölkerung wird so der Zugang zum PDS institutionell verwehrt. Entsprechend drastisch waren die Einbrüche beim Verkauf aus dem PDS. Das System, das den Wirtschaftsplanern der Unionsregierung im Zuge der Marktliberalisierung ein Dorn im Auge geworden war, wurde systematisch zerstört.

Im Gegenzug wurde ein Arbeitsbeschaffungsprogramm für die »backward districts« (»rückständigen Gebiete«) geschaffen. Der National Rural Employment Guarantee Act (NREGA) wurde von der Regierung im Jahr 2005 verabschiedet und sollte in ökonomisch rückständigen Distrikten der Landbevölkerung ein Anrecht auf 100 Tage bezahlter nichtqualifizierter körperlicher Arbeit pro Haushalt gegen einen Lohn von 6000 Rupien pro Jahr garantieren.

Die grundlegenden Effekte des zunächst von indischen Linken als erster Schritt zur Durchsetzung eines allgemeinen Rechts auf Arbeit gelobten NREGA sind jedoch problematisch: Zum einen erweist sich das Programm durch seine Konzentration auf besonders stark von der maoistischen Guerilla (»Naxaliten«, siehe jW-Thema vom 26.4.2011) geprägten Distrikte als ein direktes Anti-Naxaliten-Gesetz, das den Maoisten durch den so finanzierten Bau von Nachschubstraßen für Polizei, Paramilitärs und Spezialeinheiten den Vorteil der Unzugänglichkeit ihrer Basen nehmen und zugleich die Rekrutierung der Landbevölkerung durch die Guerilla schwächen soll. Zum anderen dringen durch die NREGA-Projekte – zumindest dort, wo sie tatsächlich durchgeführt werden – Lohnarbeit und Geldwirtschaft in bisher dem Kapitalverhältnis nicht oder nur unzureichend erschlossene Sektoren ein.

Verelendung und Selbstmorde

Das Indien der »backward districts« und vernachlässigten Regionen umfaßt unter anderem weite östliche Teile des Bundesstaates Uttar Pradesh sowie Bihar, Jharkhand, Orissa, Chhattisgarh, Madhya Pradesh, das östliche Maharashtra, Teile von Andhra Pradesh, das zentrale und nördliche Karnataka sowie den größeren Teil Tamil Nadus. In diesen ländlichen Gebieten, die von einigen wenigen Wachstumsregionen wie etwa Bangalore, Hyderabad und Chennai unterbrochen werden, führt die Krise der Landwirtschaft, ausgelöst durch Baumwollimporte und sinkende Preise für Agraprodukte, verstärkt durch die Monopolstellung von Saatgut- und Düngemittelkonzernen wie Monsanto und die nach wie vor extrem ungleiche Verteilung von Land und Einkommen zu einer regelrechten Verelendung von Teilen der ohnehin armen Bevölkerung.

Laut Zahlen der National Sample Survey Organisation (NSSO) leben etwa 250 Millionen Menschen von weniger als zwölf Rupien am Tag. In Orissa und Chhattisgarh liegt der Anteil dieser ländlichen Armen bei 55 bzw. 57 Prozent der Bevölkerung, in Bihar, Jharkhand und Madhya Pradesh bei 45 bis 47 Prozent.

Mehr als 180000 Kleinbauern haben nach offiziellen Angaben, überschuldet durch die Anschaffungskosten von Saatgut und Düngemittel und hart getroffen durch Mißernten, in den letzten zehn Jahren Selbstmord verübt. Diese Tragödie beschränkt sich keineswegs auf die Armutsdistrikte in den genannten Staaten, und die Zahlen der Regierung geben womöglich das Ausmaß nur unzureichend wieder. So kommt eine in diesem Sommer vorgelegte Studie über die Bauern­suizide im Punjab, einem der am weitesten entwickelten und im Durchschnitt wohlhabendsten Agrarstaaten Indiens, zu erschreckenden Diskrepanzen zwischen den offiziell von den Polizeistationen registrierten und weitergeleiteten Selbstmorden zwischen 1990 und 2008 (136) und den von der Projektgruppe der Studie weitgehend bestätigten Daten der Bauernorganisation Bharatiya Kisan Union (BKU), die eine Zahl von etwa 30000 Suiziden allein in diesem Bundesstaat meldete.

Gewalt und Rechtlosigkeit

Die agrarischen Produktionsverhältnisse in In­dien sind keineswegs statisch, wie meist angenommen wird. Bemerkenswert ist das Ergebnis einer Studie, die vor wenigen Jahren nachwies, daß zwar in den Städten die obersten brahmanischen Kasten ihren privilegierten Zugriff auf finanzielle Ressourcen und Grundbesitz weitgehend halten konnten, während sie in vielen ländlichen Regionen weitgehend zugunsten aufsteigender nichtfeudaler mittlerer Bauernkasten an Einfluß verloren haben.

In den letzten Jahrzehnten hat demzufolge eine allmähliche Entfeudalisierung der Agrarverhältnisse stattgefunden, die von heftigen Machtkämpfen innerhalb der herrschenden grundbesitzenden Klassenfraktionen geprägt war. Die neue ländliche Bourgeoisie ist in ihrem Verhältnis zu den Kleinbauern und Landarbeitern niedrigkastiger oder Dalit-Herkunft (»Unberührbare«) jedoch nicht weniger repressiv als die alten feudal-brahmanischen Grundbesitzer – im Gegenteil.

Seit den 1970er Jahren haben gewaltsame Übergriffe auf Dalits und Adivasi (Angehörige indigener Völker) sprunghaft zugenommen und sich zugleich die Kastenauseiandersetzungen etwa in Bihar oder Uttar Pradesh deutlich verschärft. Zeitweilig nahmen sie die Form von regelrechten Kriegen an, bei denen sich Grundbesitzermilizen und bewaffnete Landarbeiter, die von maoistischen Rebellen organisiert werden, gegenüberstehen.

Vor allem die ohnehin massiv sozial unterdrückten und ausgegrenzten Dalits, die den niedrigsten Status in der hinduistischen Kastenideologie einnehmen, wurden durch die marktkonforme Modernisierung der Landwirtschaft in einen Strudel der Proletarisierung hineingerissen, der ihre ohnehin verzweifelte Lage im Status völliger Recht- und Besitzlosigkeit sowie der bedingungslosen Verfügbarkeit für alle Formen ökonomischer Ausbeutung und außerökonomischer Unterdrückung noch weiter verschlechterte.

Diese Eskalation ist offenkundig kein Phänomen beharrlich rückständiger Strukturen, sondern ein Resultat der Modernisierung der ländlichen Agrarökonomie und der Klassenverhältnisse, eine Form außerordentlich gewaltförmiger agrarischer Klassenkämpfe, die unter anderem deshalb so aufflammen konnten, weil auch die der brahmanisch-feudalen Sozialordnung entwachsenen, zugleich von Proletarisierung, Entwurzelung und rücksichtsloser Überausbeutung bedrohten Landarbeiter, Kleinbauern, Dalits und »rückständige Kasten« zunehmend nicht mehr bereit waren, soziale Unterdrückung, institutionalisierte sexuelle Gewalt, Rechtlosigkeit und Vertreibung hinzunehmen.

Öffnung für den Weltmarkt

Die »Grüne Revolution« seit den 1960er Jahren hatte regional verschiedene Auswirkungen, allerdings landesweit ähnliche Begleiterscheinungen: Die Landwirtschaft wird deutlich kapitalintensiver, die Kleinbauern sind immer weniger in der Lage, Schritt zu halten und werden durch Verschuldung und die im Rahmen des Klimawandels sich häufenden Mißernten in den Ruin getrieben.

Zugleich haben in einigen Regionen – wie etwa im Punjab, Haryana und Bihar – Großbauern und städtische Investoren erhebliche Teile des Ackerlandes aufgekauft und die agrarische Beschäftigungsstruktur tiefgreifend verändert, d.h. eine Proletarisierung der bisherigen Kleinbauern bewirkt. Katastrophal war die von der indischen Regierung auch für den Agrarsektor durchgesetzte Politik der Weltmarktöffnung und Liberalisierung.

Seit 1991 wurden die Agrarsubventionen drastisch zurückgefahren, zugleich zog sich der Staat auch aus der Düngemittelproduktion und -verteilung für die Kleinbauern zurück. Der Markt sollte von nun an alles richten, nicht die Produktion für die Selbstversorgung und die bis dahin staatlich regulierten regionalen Märkte waren nun das Ziel, sondern die Ausfuhr zu Weltmarktbedingungen. Die Bauern wurden durch immer höhere Investitionskosten unter verstärkten Druck gesetzt. Zugleich stiegen in den 1990er Jahren die globalen Preise der für den Export bestimmten landwirtschaftlichen Produkte, etwa Gummi und Baumwolle. Als Reaktion darauf gestattete die Unionsregierung nun die unkontrollierte Ausfuhr von Baumwolle, die sich innerhalb kürzester Zeit verzehnfachte. Die dadurch erzeugte Knappheit an Rohbaumwolle auf dem indischen Markt und die entsprechende Verdreifachung des Preises setzten zunächst die noch mit Handwebstühlen arbeitenden Weber unter Druck. Die Regierung ermunterte nun Hunderttausende von Kleinbauern, von der Getreideproduktion auf die Produktion von Baumwolle umzusteigen, was nur durch die massenhafte Aufnahme von Krediten möglich war.

Seit Ende 1996 jedoch begann der jähe Absturz der Weltmarktpreise für Agrarprodukte, sodaß die Preise für Rohbaumwolle 2001 nur noch halb so hoch waren wie 1995. Die Bauern, die durch den zeitgleich erfolgten Rückzug der Banken und der staatlichen Kreditgewährung überwiegend gezwungen worden waren, sich bei privaten Geldverleihern mit stark überhöhten Zinsen zu verschulden, waren nun völlig in deren Hand und mußten sich, allein um die Zinsen zu bezahlen, immer weiter verschulden.

Die Politik der Marktöffnung hat insgesamt einen deutlichen Rückgang der Wachstumsraten in der Agrarproduktion bewirkt – bei zugleich erheblich angestiegenen Exporten. Die Produktionszuwächse im landwirtschaftlichen Sektor fielen noch unter die Quote des Bevölkerungswachstums. Dementsprechend sank auch der Anteil der Erwerbestätigen an der ländlichen Gesamtbevölkerung: Während die ländliche Bevölkerung zwischen 1993 und 2000 von 658,8 Millionen auf 727,5 Millionen und die Zahl der verfügbaren Arbeitskräfte von 255,4 Millionen auf 270,4 Millionen Menschen anstieg, erhöhte sich die Zahl der real auf dem Land Beschäftigten im gleichen Zeitraum nur von 241,0 Millionen auf 250,9 Millionen Menschen, was real einen erheblichen Anstieg der ländlichen Arbeitslosenzahlen bedeutet.

Teil II: Vertreibung und Verelendung

Zur Zeit leben immer noch 68 Prozent der Menschen in Indien auf dem Land. Das könnte sich in den nächsten Jahrzehnten angesichts der Zerstörung der agrarischen Subsistenzökonomien, der Krise der Kleinbauern und der kapitalistischen Erschließung bisher rückständiger Berg- und Waldregionen Zentral- und Ostindiens durch indische und internationale Konzerne mit der unvermeidlichen Folge der Vertreibung der dortigen Bevölkerung deutlich verändern.

Verschiedene Prognosen besagen, daß in den nächsten 20 Jahren bis zu 400 Millionen Menschen gezwungen sein könnten, in die Städte zu ziehen, weil sie dem Hunger der Konzerne nach Rohstoffen und dem enormen und stetig wachsenden Energiebedarf der indischen Industrie weichen müssen.

Die Leidtragenden dieser Erschließungspolitik sind zu einem beträchtlichen Teil die Adivasi, die indischen Ureinwohner, in deren Hauptlebensräumen im östlichen Zentralindien etwa 80 Prozent der abbaubaren Rohstoffe (wie Kohle, Eisenerz, Bauxit, Mangan oder Uran) liegen. Geschätzte 40 Prozent der von den Zwangsumsiedlungen betroffenen Menschen sind Angehörige dieser sogenannten »Scheduled Tribes«. Lediglich 25 Prozent von ihnen erhielten irgendeine Art von Entschädigung.

Gerade die Adivasi gehören in besonderem Maße zu den Verlierern der ökonomischen Entwicklung Indiens der letzten zwei Jahrzehnte. So wurde im Mai 2011 berichtet, daß die Regierung des Bundesstaates Chhattisgarh, der zu großen Teilen von Adivasi bewohnt wird, mit über 100 Bergbau-, Stahl-, Zement- und Energieunternehmen Verträge über bis zu 800 Industrieprojekte unterzeichnet habe. Momentan jedoch sind Teile Chhattisgarhs von den Naxaliten, indischen Maoisten, besetzt und akute Kampfzone. Die weitgehende Abwesenheit institutioneller Schutzmechanismen und wirksamer legaler Widerstandsmöglichkeiten gegen die staatlich durchgesetzte brutale Vertreibung der indigenen Bevölkerung aus den lukrativen Rohstoffregionen hat eine Gewalteskalation hervorgerufen, die vom indischen Staat immer weiter getrieben wird.

Der Krieg, den die indische Regierung etwa in Chhattisgarh oder Jharkhand gegen die dort sehr starke maoistische Rebellenbewegung führt, die in erheblichem Maße von den Stammesbevölkerungen unterstützt wird, kann dabei klar als ein Krieg gegen die Adivasi-Bevölkerung als Ganze interpretiert werden. Es geht um großflächige Landräumungen und die Aufschließung der gewaltigen Rohstoffvorkommen für die Bergbaukonzerne und den Weltmarkt.

Auch dort, wo die Präsenz von Naxaliten wesentlich schwächer, die ökonomische und soziale Situation aber die gleiche ist, wie etwa in Orissa, gehen die Sicherheitskräfte gegen Adivasi vor, die sich gegen Entwicklungsprojekte stemmen und ihr Land gegen die Bergbaukonzerne verteidigen. Hinzu kommen gigantische Staudammprojekte zur Energiegewinnung wie der Narmada-Staudamm in Madhya Pradesh, die zu Zwangsumsiedlungen im großen Maßstab führen. Allein zwischen 1950 und 2005 wurden etwa 36 Millionen Menschen vertrieben, um Staudämmen Platz zu machen. Dabei wird geschätzt, daß bisher erst 31 Prozent der möglichen Energiekapazitäten durch den Bau von Dämmen und Wasserkraftwerken erschlossen werden, was den Bau weiterer Megastaudämme in großer Zahl wahrscheinlich macht.

Urbanisierung und Slums

Die Landflucht führt zu einem kontinuierlichen Anwachsen der großen Städte, in deren am dichtesten bewohnten Stadtteilen sich bis zu 40000 Menschen pro Quadratkilometer drängen. Am schnellsten jedoch wachsen die Slums – beispielsweise verzeichnet Delhi jährlich einen Zuwachs von 500000 Menschen, von denen geschätzte 400000 in Slumsiedlungen unterkommen oder buchstäblich auf der Straße leben. Verläßliche Zahlen gibt es nicht, aber die Einwohnerzahl Delhis wird inzwischen auf 12,8 Millionen Menschen in der eigentlichen Stadt und 18,7 Millionen im Unionsterritorium geschätzt. Schon in den 1990er Jahren verzeichnete die Delhi Metropolitan Region (DMR) ein Bevölkerungswachstum von 33 Prozent innerhalb von zehn Jahren; angesichts der unkontrollierten Ausbreitung auch über bisherige Stadtgrenzen hinaus gibt es inzwischen Pläne, die Megalopolis zwischen Delhi, Jaipur, Faridabad und Meerut zu einem bundesstaatenübergreifenden Metropolendistrikt zu transformieren. Ahnliche Entwicklungen sind zwischen Mumbai, Thane und Pune im Gange – mit geschätzten 21,3 Millionen Einwohnern die fünftgrößte Metropolenregion der Welt.

Zugleich sind auch Hyderabad und Bangalore im Begriff, jeweils eine Metropolitan Development Authority zu bilden, die ein weiteres Wachstum über die bisherigen Stadtgrenzen hinaus koordinieren soll. Besonders augenfällig ist das Wachstum der städtischen Bevölkerung in Bangalore, das noch 1925 eine verschlafene Provinzstadt mit gerade einmal 125000 Einwohnern war, heute im Stadtgebiet aber etwa 5,4 Millionen und mit seinem engeren Umland zirka zehn Millionen Menschen zählt.

Während die indische Regierung nach wie vor davon ausgeht, daß die Industrialisierung die in die Städte ausweichenden Menschenmassen auffangen kann, sieht die Realität völlig anders aus. Die überwältigende Mehrheit der entwurzelten und in die Städte getriebenen Landbevölkerung findet Arbeit nicht etwa in den Sonderwirtschaftszonen, der Automobilindustrie oder den Callcentern der nach Indien outgesourcten Kundendienste der internationalen Konzerne, erst recht nicht in der immer noch wachsenden IT-Branche, sondern in den Kleinstunternehmen und Werkstätten der Slums und Altstadtviertel. Sie werden Lastenträger, Straßenverkäufer, schuften auf Baustellen oder reihen sich in das Heer der Rikschafahrer ein, leben von der Hand in den Mund, ohne soziale Absicherung, ausreichenden Zugang zu sauberem Trinkwasser, Schulbildung oder Gesundheitsversorgung – und nicht selten ohne Obdach am Straßenrand. Als Klientel- und Solidarnetzwerke fungieren weiterhin die Kasten.So werden zwar kastenübergreifende Solidarisierungen erschwert und Loyalitätsbeziehungen aufrechterhalten, zum anderen aber auch das Überleben in der Gemeinschaft ermöglicht. In vielen Fällen sind auch die Slums der Metropolen auf Kastenbasis geordnet.

Tagelöhner und »Selbständige«

Die Gesamtzahl der Arbeiter in Indien liegt laut CIA World Fact Book von 2010 bei 478,3 Millionen, wobei wie nahezu alle Zahlenangaben über Indien auch diese kaum mehr als eine grobe Schätzung sein dürfte. Das Verhältnis von nichtarbeitender zur arbeitenden Bevölkerung fiel bei anhaltend starkem Bevölkerungswachstum von 78 Prozent im Jahr 1960 auf 62 Prozent im Jahr 2005. In unterschiedlichsten Formen dringt die Lohnarbeit in alle Poren der indischen Gesellschaft ein, und jedes Jahr wächst das indische Proletariat um mehrere Millionen an.

Die Marktliberalisierung hat unbestreitbar zu einem großen Aufschwung der Industrie und der Dienstleistungsbranchen geführt; deren Beschäftigungseffekte sind jedoch äußerst begrenzt und zudem ungleichgewichtig. Der Anteil der Industrie an der gesamten Wirtschaftsleistung ist insgesamt trotz des massiven Wirtschaftswachstums rückläufig. Seit der Marktöffnung kam es in der verarbeitenden Industrie zu bedeutenden Arbeitsplatzverlusten; der Anteil des sekundären Sektors am BIP ging in den 1990er Jahren von 29 auf rund 22 Prozent zurück. Das bedeutet, daß Indien zunächst eine Deindustrialisierung erlebt hat. Erklärbar ist dieser auf den ersten Blick rätselhaft erscheinende und fast nie in den euphorischen Berichten westlicher Wirtschaftsjournalisten auftauchende Sachverhalt dadurch, daß durch die verschärfte Weltmarktkonkurrenz vor allem die heimische Kleinindustrie sowie der Textilsektor massiv unter Druck geraten sind.

Inzwischen ist der Anteil der Industrie am BIP wieder angestiegen, stagniert aber seit längerem bei rund 28 Prozent. Zugleich hat sich der Anteil der Landwirtschaft am BIP von etwa einem Drittel zu Beginn der 1990er Jahre auf mittlerweile nur noch 14,2 Prozent reduziert, aber der Anteil der Arbeitskräfte in diesem Sektor (52 Prozent) und die von der Landwirtschaft abhängige Bevölkerung ist kaum geringer geworden. Der Dienstleistungssektor erwirtschaftet inzwischen 57 Prozent des BIP, beschäftigt sind hier aber nur 25 Prozent der Arbeitskräfte.

Über 92 Prozent aller Werktätigen werden dem informellen Sektor zugerechnet, d.h. sie verfügen über kein vertraglich geregeltes Arbeitsverhältnis, zahlen keine Steuern und haben keinen Anspruch auf soziale Leistungen. Die gewerkschaftliche Präsenz in informellen Arbeitsverhältnissen ist minimal. Diese Form entrechteter Lohnarbeit hat sich in den letzten Jahrzehnten konsequent ausgeweitet. Wie schon die deutliche Zunahme der letzten 30 Jahre vermuten läßt, ist dies auch ein Ergebnis der Verstädterung und Industrialisierung; immerhin 66,7 Prozent aller Arbeitsverhältnisse in der Hauptstadt Delhi und gar 68 Prozent in der reichen Wirtschaftsmetropole Mumbai sind informell.

Tagelöhnerarbeiten und »Selbständigkeit« sind die wesentlichsten Formen der informellen Arbeit in Indien. Auch Kinderarbeit ist eine verbreitete Erscheinung. Während es nach offizieller Schätzung 11,28 Millionen Kinderarbeiter gibt, sprechen NGOs von 44 bis 110 Millionen. Angesichts kontinuierlich stark steigender Preise für Nahrungsmittel und sonstige Produkte des täglichen Bedarfs reichen die ohnehin kargen Löhne gerade im informellen Sektor kaum noch zum Überleben. Nach wie vor verdient ein ungelernter Leiharbeiter in einer Sonderwirtschaftszone zwischen 1500 und 2500 Rupien monatlich (23 bis 38 Euro), Bauarbeiter oder Reinigungskräfte müssen sich in der Regel mit zirka 1000 Rupien (etwa 15 Euro) begnügen. In diesem Einkommenssegment, zu dem mehr als die Hälfte der arbeitenden Bevölkerung In­diens gehört, stellen steigende Preise unmittelbar die physische Existenz in Frage. Lediglich die kleinen festangestellten Facharbeiterkerne einiger Automobilfabriken sowie qualifiziertere und erfahrenere Callcenter-Beschäftigte können auf Löhne zwischen 15000 und 30000 Rupien (230 bis 460 Euro) kommen. Zwar vermeldet die internationale Wirtschaftspresse inzwischen, daß die Löhne in Indien im Jahr 2011 voraussichtlich um etwa 13 Prozent steigen würden, sie vergessen dabei jedoch, daß diese Lohnsteigerungen nur einen kleinen Teil der Lohnabhängigen betreffen, nämlich die Facharbeiter, Beschäftigte internationaler Unternehmen und Staatsbedienstete. In den meisten anderen Bereichen ist die Lohnentwicklung eher von Stagnation gekennzeichnet, was vor dem Hintergrund einer Inflationsrate von acht Prozent einen lebensbedrohlichen Kaufkraftverlust bedeutet.

Sonderwirtschaftszonen

Besondere industrielle Kerne, die gleichsam Inseln der Industrialisierung und der Ansiedlung internationaler Konzerne darstellen, sind die Sonderwirtschaftszonen. In den letzten fünf Jahren wurden sie verstärkt von der indischen Unionsregierung und den Regierungen einiger Bundesstaaten geschaffen. Insgesamt gibt es inzwischen insgesamt 220 dieser Zonen, weit über 500 weitere befinden sich in der Planung.

Darüber, wie viele Menschen dort insgesamt beschäftigt sind, gibt es keine verläßlichen aktuellen Zahlen; im Jahr 2009 gab das indische Wirtschaftsministerium eine Gesamtzahl von rund 3,6 Millionen Arbeitern in diesen bewachten Zonen an. Mindestens 75 Prozent der Wohnfläche dort sind den höheren Angestellten der dort angesiedelten Unternehmen vorbehalten. Auch öffentliche Einrichtungen wie Krankenhäuser und Schulen sind zu mindestens 50 Prozent für die Mitarbeiter und deren Familien reserviert. Die indische Regierung und die Regierungen der Bundesstaaten haben bisher zweistellige Dollar-Milliardenbeträge in die Errichtung der Sonderwirtschaftszonen investiert und ansiedlungswilligen internationalen Konzernen beträchtliche Zugeständnisse gemacht. Insgesamt blieben die Ergebnisse dieser Mühen jedoch bescheiden, vor allem, was die Anzahl der entstandenen Jobs betrifft. Oft findet in den industriellen Sektoren der Zonen nur die Montage aus dem Ausland gelieferter Teile statt. Um die Sonderwirtschaftszonen errichten zu können, sind große Enteignungen von Kleinbauernland erforderlich. Etwa in Singur und Nandigram in Wesbengalen führten diese Maßnahmen zu heftigem Widerstand der Landbevölkerung, gefolgt von einem entscheidenden Ansehensverlust der damaligen kommunistischen Regierung des Bundesstaates, die denn auch im Frühjahr dieses Jahres nicht zuletzt als Reaktion auf ihre rücksichtslose kapitalistische Industriepolitik abgewählt wurde.

Die sicherlich mit Abstand größte Sonderwirtschaftszone Indiens – und zugleich eine der wenigen, aus denen regelmäßig Berichte über Arbeitskämpfe nach außen dringen – befindet sich in Gurgaon bei Delhi. Gurgaon gehört zu den am schnellsten wachsenden Städten des Landes. Von gerade einmal 100000 Anfang der 1980er Jahre stieg die Einwohnerzahl innerhalb von 25 Jahren auf zirka zwei Millionen Einwohner. Neue bewachte Wohngebiete für die höheren Angestellten, vor allem aber zahlreiche indu­strielle und Dienstleistungszentren sind hier in den letzten Jahren entstanden. Jedes Jahr wächst die Stadt um zehn bis 20 Prozent. Mehr als 150000 Arbeiter sind allein in Callcentern beschäftigt, die Softwareindustrie ist u.a. durch Microsoft, IBM und SAP mit Entwicklungsabteilungen vertreten. In etwa 500 Textilfabriken arbeiten mehr als 200000 Menschen. Ebenso stark präsent sind indische Automobilkonzerne wie Maruti sowie die Joint-ventures indischer Unternehmen mit japanischen Herstellern, z.B. Honda. Die Werktätigen von Gurgaon – überwiegend jung, zu einem Teil aus ländlichen Regionen Bihars und Uttar Pradeshs kommend, zum anderen Teil Kinder der städtischen Mittelklasse – sind charakteristisch für das neue Proletariat Indiens. Ein Mitarbeiter des Internetblogs Gurgaon Workers News (gurgaonworkersnews.wordpress.com) schrieb dazu: »Durch die massive Zuwanderung nach Gurgaon sind Lebenszusammenhänge völlig neu zusammengewürfelt worden, mit dem Gang in die Stadt werden die rigiden Kastenstrukturen aufgeweicht. Bauernarbeiter aus dem Norden, gut ausgebildete junge Facharbeiter und proletarisierte Jugendliche aus dem Mittelstand arbeiten in unmittelbarer Nähe im Industriegebiet.« Gurgaon war in den letzten fünf Jahren der Ort zahlreicher Streiks, die zum größeren Teil ohne die offiziellen Gewerkschaften geführt wurden, deren Einfluß in den Sonderwirtschaftszonen gering ist. Nicht wenige dieser Kämpfe wurden vor allem von den Leiharbeitern getragen, deren Situation sich von der der Festangestellten sowohl in der Bezahlung als auch im Hinblick auf Entrechtung am Arbeitsplatz und ständige Unsicherheit unterscheidet.

Ursprüngliche Akkumulation

Indien befindet sich in einem Prozeß der tiefgreifenden und rücksichtslos durchgesetzten kapitalistischen Modernisierung, die innerhalb weniger Jahrzehnte die Bevölkerungsstruktur umwälzen und die kapitalistische Durchdringung auch scheinbar rückständiger Gebiete auf eine Stufe bringen wird, die Marx für Indien voreilig bereits von der britischen Kolonialisierung erwartet hatte. In geraffter Form vollzieht sich in den ländlichen Regionen, was Marx für das England des 16. bis 18. Jahrhunderts mit dem Begriff der »ursprünglichen Akkumulation« charakterisiert hatte.

Die Integration der bisher nicht dem Weltmarkt unterworfenen Sektoren und Regionen Indiens geht jedoch unter den Bedingungen einer globalen imperialistischen Arbeitsteilung vor sich, die eine höchst unvollständige, einseitige und prekäre Industrialisierung zur Folge hat und teilweise auch von Phänomenen der Deindustrialisierung, dem Zusammenbrechen heimischer Kleinindustrien im Fegefeuer der Konkurrenz und der Konzentration industrieller Produktion auf wenige von äußeren Bedürfnissen bestimmte Sektoren und begrenzte Räume begleitet wird.

Dabei durchleben gegenwärtig gerade die bisher von jeder ökonomischen Entwicklung abgehängten Gebiete des östlichen Zentralindiens mit ihren gewaltigen Rohstoffkapazitäten ein Drama der inneren Kolonisierung; das Land wird für die Bergbaukonzerne geräumt und die dortige Bevölkerung, die zum Teil von den Naxaliten unterstützt wird, zur Zielscheibe des staatlichen Machtapparates.

Das indische Innenministerium verfügt inzwischen über paramilitärische Einheiten und Spezialtruppen mit einer Gesamtstärke von 1,4 Millionen Mann, die zu beträchtlichen Teilen in den betroffenen Bundesstaaten konzentriert sind und sich im Einsatz gegen die Guerilla und die Adivasi-Bevölkerung befinden. Der indische Staat, der heute an mehreren Fronten zugleich kämpft– in Kashmir, im Nordosten und in den Adivasi-Regionen Zentralindiens –, verfügt sowohl im Hinblick auf die zahlenmäßige Stärke wie auch auf den Grad der Ausrüstung und Militarisierung der Ausbildung über einen der hochgerüstetsten Sicherheitsapparate Asiens. Hier deutet sich eine Kräfteverschiebung innerhalb des indischen Staatsapparates an. Zugleich ist diese innere Aufrüstung und die Schaffung einer derartigen Aufstandsbekämpfungsarmee ein Anzeichen für die Zerbrechlichkeit und Krisenanfälligkeit der Modernisierungsstrategien der Herrschenden, die ihr Heil in Militarisierung und verschärfter Repression gegen Bauernbewegungen, Menschenrechtsorganisationen und linke Opposition suchen.

Niederlage und Neubeginn

Die politische Lage ist aus linker, antikapitalistischer Sicht auf den ersten Blick wenig ermutigend. Die in verschiedene Dachverbände gespaltenen indischen Gewerkschaften, von denen die stärksten dem Indischen Nationalkongreß (INC), der Kommunistischen Partei Indiens (CPI) und der Kommunistischen Partei Indiens (Marxist) (CPI – M) nahestehen, haben zusammengenommen eine Stärke von weniger als sechs Millionen Mitgliedern, die im wesentlichen in den alten Facharbeiterkernen der Industrie sowie im Staatssektor organisiert sind. Weder bei der großen Mehrheit der informellen Arbeiter noch unter den geschätzt zwischen 3,6 und vier Millionen Arbeitern der Sonderwirtschaftszonen haben sie eine nennenswerte Verankerung. Doch genau in diesen beiden Bereichen vollziehen sich die dramatischsten Entwicklungen, wird die Krisenhaftigkeit und Destruktivität der neuen Realitäten des indischen Kapitalismus am deutlichsten. Gerade hier entsteht ein neues urbanes Proletariat, dessen Lebenssituation mit alten Kastenschranken und dem Partikularismus der indischen Gesellschaft teilweise nur noch wenig gemein hat. Und in diesen Bereichen werden sich auch in den nächsten Jahren die schärfsten Klassenkämpfe entwickeln, ohne daß die Organisationen der Werktätigen in der Lage wären, Unterstützung zu bieten.

Ein ebenso problematisches Bild bietet die politische Linke: Die in der Linksfront zusammengeschlossenen traditionellen kommunistischen Parteien, CPI und CPI (M), haben in den letzten Jahren in dem Maße an Einfluß verloren, wie sie Teil der kapitalistischen Modernisierungsstrategien des indischen Staates wurden. Die Linksfrontregierungen in Westbengalen und Kerala sind in diesem Frühjahr abgewählt worden, weil die Demoralisierung ihrer Anhängerschaft über die kommunistische Regierungspolitik zu groß wurde. Die war schon lange kein antikapitalistischer Gegenpol mehr, sondern selber für Privatisierungen, Enteignungen von Bauernland für Industrieprojekte und die Stärkung der neuen städtischen und ländlichen Mittelklassen gegen das agrarische Proletariat und die prekären Sektoren des Proletariats verantwortlich.

Ob sich die bereits bei den Wahlen zum Unterhaus des indischen Parlaments 2009 schwer abgestraften Parteien der Linksfront von diesen Niederlagen noch einmal erholen und sich im geschwächten Zustand in der Opposition erneuern können, bleibt abzuwarten. Zugleich existiert jenseits dieser traditionellen Parteien eine seit den 1970er Jahren gewachsene mehrere hunderttausend Mitglieder umfassende – teils legale, teils illegale und bewaffnete – radikale Linke, die sich in großen Teilen auf die von dem Dorf Naxalbari in Nordbengalen ausgegangene Aufstandsbewegung der Jahre 1967 bis 1972 bezieht.

Innerhalb dieser radikalen Linken bestehen jedoch ebenfalls gravierende Widersprüche. Die agrarische Revolution, die für die Mehrzahl der Organisationen dieser naxalitischen und post-naxalitischen Linken immer noch strategisch im Vordergrund steht, hat als ihren Hauptansatzpunkt heute im wesentlichen nicht mehr eine, etwa von der CPI (Maoist) immer noch behauptete, »semikoloniale und semifeudale« Struktur der ländlichen Klassengesellschaft, sondern die kapitalistische Umwälzung und weltmarktkonforme Zurichtung der Agrarökonomie und den damit verbundenen größten Landraub in der neueren Geschichte Indiens. Proletarisierung, Entwurzelung und Landflucht, in die Hunderte Millionen Kleinbauern gerissen werden, können politisch nur im Zusammenspiel mit den Klassenauseinandersetzungen in den neuen industriellen Zentren und den sich nach und nach entwickelnden Organisationsformen der sich im Prozeß der sozialen und politischen Neuzusammensetzung befindenden Arbeiterklasse beantwortet werden. Und hier liegt vielleicht auch eine Lösung des größten Problems der indischen Linken: nämlich der Schwierigkeit, Solidarität und gemeinsamen Widerstand gegen Kastengrenzen wie gegen die vielfältigen Muster ethnischer Abgrenzung und Diskriminierung und den religiös legitimierten Chauvinismus der hindunationalistischen Rechten sowie der brahmanischen Reaktion zu schaffen.

Vom Autor erschien im März: Indien und die Naxaliten. Agrarrevolten und kapitalistische Modernisierung; 415 Seiten, Neuer ISP-Verlag, Köln/Karlsruhe 2011

Dieser Beitrag erschien in zwei Teilen am 13. und 14. Juli 2011 in der "jungen Welt"


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