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Dem Hunger den Krieg erklärt

Indiens Regierung schiebt gigantisches Ernährungsprogramm an – und erntet Kritik

Von Thomas Berger *

Es wird bereits als das größte Sozialprogramm weltweit bezeichnet: Gut 800 Millionen Inder sollen auf Beschluß der Regierung in Neu-Delhi Getreide zu Minimalpreisen erhalten. Während das Land damit nach Ansicht von Befürwortern dem weit verbreiteten Hunger den Krieg erklärt, werfen Kritiker der regierenden Kongreßpartei (INC) vor, Stimmung vor den Wahlen im kommenden Jahr zu machen. Fragen wirft auch die Umsetzung auf.

24,3 Millionen Familien, die offiziell unter der Armutsgrenze leben, haben schon heute Anspruch auf monatlich 35 Kilo Reis zu Preisen deutlich unter Marktniveau. Das Getreide wird im Rahmen des Öffentlichen Verteilungssystems (PDS) über staatliche Spezialläden ausgegeben. In diesen sogenannten Fair-Price-Shops sollen nun wesentlich mehr bedürftige Menschen Nahrungsmittelhilfe erhalten. Die neuen Bezugsberechtigten werden pro Monat Anspruch auf fünf Kilogramm Reis, Weizen und Hirse zu stark subventionierten Preisen von drei, zwei und einer Rupie haben. Die Kosten des Programms werden auf 1,3 Billionen Rupien pro Jahr geschätzt, umgerechnet knapp 18,5 Milliarden Dollar. Laut Aussage des Finanzministers stehe das Geld zur Verfügung. Allerdings hat das PDS diverse Schwachstellen, die in der Vergangenheit immer wieder heftig diskutiert wurden. So verschwinden für die Läden gedachte Lieferungen teilweise in dunklen Kanälen, um auf dem Schwarzmarkt weitaus teurer verkauft zu werden. So manche Familie hat ihre Bezugskarten auch schon an Kriminelle verkauft, weil sie das Geld für den Moment dringender brauchte als die Reisration im nächsten Monat. Geschäfte­macher erwerben so das Getreide billig, um es teurer weiterzuverkaufen.

Schlamperei, Korruption und mangelnde Kontrollen im Verteilsystem sind aber nur die eine Seite der Oppositionskritik. Am größten ist die Verärgerung der Regierungsgegner quer durch das politische Spektrum darüber, daß das umstrittene Programm nicht seinen üblichen Weg durch das Parlament genommen hat. Das Gesetz tritt per Anordnung sofort in Kraft. Erst im Rahmen der nächsten regulären Sitzung im August werden die Abgeordneten noch einmal dazu debattieren und dürfen es quasi im nachhinein abnicken. Undemokratisch und ein Schlag ins Gesicht der gewählten Volksvertreter sei das, heißt es unisono von der hindu-nationalistischen Bharatiya Janata Party (BJP) bis zur Marxistischen Kommunistischen Partei Indiens, CPI (M). Selbst die sozialdemokratische Samajwadi Partei (SP), die die regierende Koalition von Premier Manmohan Singh (INC) unterstützt, ohne selbst mit ihr zu koalieren, sah das Parlament brüskiert.

An der Notwendigkeit großangelegter Maßnahmen besteht derweil kein Zweifel: In absoluten Zahlen hat Indien mit Abstand die meisten Hungernden und Unterernährten weltweit. Besonders schwer betroffen sind die Jüngsten. Jeder dritte der Minderjährigen, die auch heute noch hungern, lebt in Indien. Wegen Vitamin-A-Mangels leiden sechs Prozent aller indischen Kinder an Augenproblemen. Bei 320000 Mädchen und Jungen wäre der Verlust der Sehkraft mit ausreichender Ernährung vermeidbar. Von 37 Millionen Blinden weltweit leben den Statistiken zufolge 15 Millionen in Indien. Schon im Januar 2012 bei der Vorstellung einer neuen Studie, nach der 42 Prozent der Kinder unter fünf Jahren unterernährt sind, hatte Premier Singh von »einer Schande« gesprochen. Das bisherige Ernährungsprogramm speziell für Kinder (ICDS) allein sei ganz offenkundig nicht ausreichend, um alle Bedürftigen zu erreichen.

* Aus: junge Welt, Freitag, 5. Juli 2013


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