Pogrome gegen Muslime im indischen Gujarat
Analyse eines Konflikts, der nur vordergründig einen religiösen Hintergrund hat
Julia Eckert, Wissenschaftliche Mitarbeiterin am Max-Planck-Institut für Ethnologie in Halle (Saale), schrieb für die Frankfurter Rundschau einen Artikel über die März-Ereignisse in der indischen Region Gujarat, in deren Verlauf Hunderte von Menschen ums Leben kamen, unter ihnen sehr viele Muslime. Der Artikel erschien am 25. April 2002 unter dem Titel "Feuer, die keiner löschte" im Feuilleton der FR. Wir sind in unserer "Chronik" mehrfach auf die Ereignisse eingegangen, ohne allerdings die gesellschaftlichen Hintergründe ausleuchten zu können. Genau dies versucht Julia Eckert. Ihre Analyse ist lesenswert, weil sie unserem westlich geprägten Bild vom (gewaltverdächtigen) Islam und (dem Frieden zugewandten) Hinduismus nicht entspricht. Wir fassen im Folgenden einige wesentliche Informationen und Argumentationen aus dem Artikel zusammen.
Julia Eckert beginnt ihren Beitrag, indem sie betroffene Frauen berichten lässt bzw. auf gängige Berichte zurückgreift. Da kommt etwa eine Frau zu Wort, die davon erzählt, wie ihr Haus in
Brand gesteckt wurde und wie sie mit ihren Eltern und Verwandten in die Felder
flüchtete, wie dann der Dorfvorsteher zu ihnen kam und ihnen versprach, sie zu
schützen, ihnen Wasser und Brot zu bringen; und wie er dann statt Wasser und
Brot die Männer brachte, die das Feld in Brand setzten, so dass sie alle aus den
Flammen fliehen mussten. Und als sie am Rand des Feldes ankamen, waren sie nicht etwa gerettet, sondern wurden von den Männern eingefangen, ihr Vater erschlagen, die Frauen vergewaltigt und dann fast alle verbrannt. Wenige haben überlebt und sie sitzen nun in einem der zahlreichen Flüchtlingslager, in die sich über 100.000 Muslime Gujarats, des westlichen
Bundesstaates Indiens, geflüchtet haben.
Die staatlichen Instanzen machten laut Julia Eckert meist gute Miene zum bösen Spiel. Über den Ministerpräsidenten des Bundesstaates, Narendra Modi, Vertreter der Bharatiya Janata Partei (BJP), wird gesagt, er habe bereits 72 Stunden nach Ausbruch der Pogrome verkündet, alles sei unter Kontrolle, doch das Morden ging täglich weiter und breitete sich über den ganzen Bundesstaat aus. Die Bilanz nach offiziellen Schätzungen: mindestens 900 Tote. Julia Eckert: "Wahrscheinlich liegt die tatsächliche Zahl viel höher, doch die Leichen wurden verbrannt und die Polizei weigert sich, Anzeigen aufzunehmen. Sie registriert die Morde nicht, die Plünderungen, die Vergewaltigungen, notiert nicht die Namen derer, die von den Opfern als Täter identifiziert werden."
Daraus schließt die Autorin, dass die gegenwärtige Gewalt auch nicht als "Ausdruck des
wechselseitigen Hasses zweier religiöser Gruppen" zu verstehen sei. Es ging vielmehr um einen "systematischen, organisierten" Angriff auf die Muslime, und zwar mit Unterstützung staatlicher Instanzen. Drahtzieher war dabei der Welthindurat VHP, der am 28. Februar einen Generalstreik ausgerufen hatte - das Signal zum Angriff auf die Muslime. Kurz danach kamen die
unterschiedlichen Organisationszweige der Hindu-nationalistischen Sangh Parivar
und ihre Verbündeten mit Lastwagen, Waffen und Benzinkanistern vor die muslimischen Häuser und Unternehmen gefahren, um ihr Vernichtungswerk zu beginnen.
Interessant ist auch, dass sich Menschen aus den besseren Kreisen der Mittelschichten an den Pogromen aktiv beteiligten. Ähnliche Berichte darüber waren in eher linken Zeitungen zu lesen (z.B. Joseph Keve in der Schweizer Wochenzeitung WoZ, 14. März 2002; ähnlich auch schon
Jens Herrmann im "Neuen Deutschland am 12.03.2002), die (vor)herrschenden Medien schwiegen sich darüber aus. "Elegante Damen der Mittelklasse", so heißt es bei Julia Eckert, informierten "per Handy über die
ergiebigsten Plünder-Gelegenheiten". "In ihren schnittigen Pajeeros
transportierte die städtische Mittelklasse sowohl das Benzin für die
Brandanschläge als auch das geplünderte Gut." Auch erfährt man, dass gerade in den Hindu-nationalistischen Organisationen ein Großteil der Mitglieder Angehörige der
Mittelschichten sind.
Staatliche Instanzen waren bei alledem nicht neutral, sondern trugen durch ihre Untätigkeit und unterlassene Hilfeleistung noch dazu bei, den Pogromen freien Lauf zu lassen. Dies betraf die Polizei, die Feuerwehr und die Armee in dem Bundesstaat. Dies betraf auch den Ministerpräsidenten des Bundesstaates, Narendra Modi, aber "auch die Zentralregierung in Delhi unter der Führung von Premierminister Vajpayee hat sich Zeit gelassen, bis sie sich zu kritischen
Äußerungen durchrang", schreibt Eckert. Modi habe den Hindus 72 Stunden Zeit gegeben, ihrer "'verständlichen Wut'" über die Muslime (die zuvor einen Zug angegriffen hatten, wobein 57 Hindus ums Leben kamen) Ausdruck zu verleihen und sich "auszutoben".
Hintergrund ist der langjährige Streit um Ayodhya. Dort wollen die Hindu-Nationalisten VHP einen Tempel für den Gott Ram bauen - an einem Ort, wo bis 1992 die Babri Moschee stand, bis sie von extremen Hindu-Nationalisten dem Erdboden gleichgemacht wurde. "Ayodhya ist kein Projekt der Hindus", schreibt Eckert, "es ist ein Projekt der Sangh Parivar, der so genannten "Familie" von Hindu-nationalistischen
Organisationen, der die VHP, die RSS (der Nationale Freiwilligen Rat), und eben
auch die gegenwärtige Regierungspartei BJP angehören. Der Hindunationalismus
ist nur zum Teil ein religiöses Projekt; er ist zunächst ein politisches Projekt, das darauf zielt, ein majoritäres Verständnis des indischen Gemeinwesens
durchzusetzen und institutionell zu verankern." Daneben geht es bei den Pogromen darum, "die Illegitimität der Muslime zu behaupten und
durchzusetzen." Dies geht bis hin zu Boykottaufrufen "Kauft nicht bei Muslimen!" usw.
Julia Eckert weiter: "120 Millionen Muslime leben in Indien; der Islam ist seit
Jahrhunderten Teil der indischen Kultur. Doch heute wird schon die Präsenz der
Muslime als invasorischer Akt gedeutet, als Fortsetzung der Eroberung durch den
Begründer der Moghul-Dynastie Babur. Der Ruf "Wehrt Euch, Hindus!" knüpft an
diese Geschichtsdeutung an. So steckt im Verteidigungsdiskurs auch immer der
majoritäre Besitzanspruch auf ein Indien, das allein den Hindus gehöre. Durch die
Allgegenwart der hindunationalistischen Symbolik und ihrer
Interpretationsschemata sind diese vom politischen Projekt gelöst worden und
haben die Aura des Natürlichen gewonnen."
Neben all diesen bedenkenswerten Argumenten sollte daran erinnert werden, dass die wieder aufflammende Feindschaft gegenüber den Muslimen durch den US-"Krieg gegen den Terror" neue Nahrung erhalten haben dürfte. Dieser "Krieg gegen den Terror" ist ja ausdrücklich auch gegen den fundamentalistischen Islam gerichtet, wie er vom afghanischen Taliban-Regime praktiziert wurde. Von dort gab es eine direkte Verbindung nach Pakistan, das seinerseits die kaschmirischen Sezessionisten in der indischen Provinz Jammu und Kaschmir unterstützt. Bis zum heutigen Tag befindet sich die indische Armee an der Demarkationslinie zwischen dem "pakistanischen" und dem "indischen" Teil Kaschmirs im hochkonzentrierten Alarmzustand, bereit und für sich in Anspruch nehmend, jederzeit den "islamischen Terrorismus" mit denselben militärischen Mitteln zu bekämpfen, die auch die USA in ihrem Krieg einsetzen.
Pst - auf der Grundlage des Artikels von Julia Eckert: "Feuer die keiner löschte", in: Frankfurter Rundschau, 25. April 2002
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