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Indien: Staatlich gedeckter Hindu-Nationalismus - eine Gefahr für den Frieden

Wenn die Politik versagt, muss die Religion instrumentalisiert werden

Unter dem Titel "Indien: Der Mob tobt mit staatlicher Rückendeckung" erschien am 12. März 2002 ein Korrespondentenbericht aus Bombay, der ein wenig mehr enthält als die üblichen Meldungen über religiöse Fanatiker, die sich gegenseitig die Köpfe einschlagen.

Von Jens Herrmann, Bombay Die Zahl der Toten bei Auseinandersetzungen zwischen Muslimen und Hindus im indischen Bundesstaat Gujarat steigt und steigt. Während der Staat recht passiv bleibt, formieren sich Koalitionen von Bürgerrechtlern, Richtern, Menschenrechtsorganisationen, Studenten und anderen Teilen der Zivilgesellschaft, um gegen die Gewalt Stellung zu beziehen.

Nach einem neuen Ausbruch der Gewalt am Wochenende soll sich die Zahl der Toten in Gujarat mittlerweile auf über 700 belaufen. Einige Dörfer im westindischen Bundesstaat Gujarat, in denen viele Muslime nach Polizeiangaben Schutz vor Übergriffen durch Hindus gesucht haben, seien mit Bogen und brennenden Pfeilen angegriffen worden. Die Polizei habe zur Bekämpfung der Unruhen im Ort Panwad Tränengas eingesetzt und scharfe Schüsse abgefeuert.

Gerade die Polizei steht heftig in der Kritik von Seiten der Bürgerrechtler. Unter dem Motto »Vereinigt zum Schutz Indiens« entrollte das kleine Netzwerk mit dem Namen »Menschen für kommunalen Frieden« bei einer Spontandemo in Mumbai (Bombay) unter den kritischen Blicken der Polizei ihre zahlreichen Transparente mit Slogans wie »Benutzt nicht die Religion zur Rechtfertigung von Gewalt« und »BJP und Polizei sind für die Ausschreitungen in Gujarat verantwortlich«. In Anspielung auf den Vorwurf des indischen Premierministers Vajpayee, der die Verantwortung für die Geschehnisse ganz bei den angeblich unkontrollierbaren Menschen in Gujarat sieht, entgegneten die Demonstranten: »Zeigt nicht auf die Menschen: zeigt auf den Staat.«

Nachdem am Morgen des 27. Februar ein Mob unter bisher nicht genau geklärten Umständen einen Zug mit Pilgern in der Stadt Godhra (Gujarat) angegriffen hatte und dabei 58 Menschen tötete, erlebt Indien die seit zehn Jahren schlimmsten Unruhen zwischen Hindus und Muslimen. Die Pilger waren auf dem Rückweg aus der nordindischen Stadt Ayodhya, wo sie unter der Leitung des Welthindurates (VHP) an den Vorbereitungen für den Bau eines Tempels teilgenommen hatten. Er soll genau dort entstehen, wo vor zehn Jahren ein fanatischer Mob von Hindus eine Moschee niedergerissen hat. Der Streit, ob auf dem Gelände der alten Moschee ein Tempel gebaut werden darf, bildet den Hintergrund der Eskalation.

Eine Gerichtsentscheidung dazu wird in den nächsten Monaten erwartet, doch der VHP erklärte, er wolle Mitte März mit dem Bau eines Tempels beginnen und fühle sich an kein Urteil gebunden. Den mit dem Welthindurat eng verwobenen Bharatiya Janata Partei (BJP)-Regierungen in Gujarat und Delhi werfen Kritiker vor, sie nutzen die Ayodhya-Frage, um von ihren Fehlern abzulenken. Mit der religiösen Polarisierung wollen diese in den aktuell laufenden Wahlkämpfen Wählerstimmen gewinnen. Für den pensionierten Richter am Obersten Gericht von Mumbai, H. Suresh, ist die Verstrickung der Regierungspartei und ihres religiösen Ablegers VHP eindeutig: »Die BJP verlor in der letzten Zeit viel Unterstützung im Land, nun hat sie ihre stärkste Karte der Spaltung von Hindus und Muslimen über die Frage des Tempelbaus ausgespielt, um unter der Mehrheit der Hindus Sympathie zu gewinnen. Sie sind verantwortlich für die Massaker an unschuldigen Menschen in Gujarat«, erklärt er gegenüber ND. Doch aus der Sicht des Richters, der nun auf die Straße geht, um seinen Protest kund zu tun, ist diese Politik der Spaltung der Bevölkerung fundamental falsch. Der Regierung in Ahmedabad unter Narenbdra Modi (BJP) werfen die Kritiker vor, den mörderischen Mob zwei Tage lang ungehindert durch wüten gelassen zu haben. An einigen Orten hätten sich auch Polizeikräfte und politische und religiöse Führer der BJP an den Ausschreitungen gegen die muslimische Minderheit beteiligt.

Bei F. Mhapkar rufen die aktuellen Ereignisse böse Erinnerungen hervor. Während der Auseinandersetzungen vor neun Jahren in Bombay wurde er beim friedlichen Gebet in einer Moschee von einer Polizeieinheit niedergeschossen. Sechs seiner Glaubensbrüder kamen bei dem Angriff ums Leben. Nun hat er Angst, es könne auch in Bombay wieder losgehen. Verglichen mit den Ausschreitungen damals, meint Richter Suresh, sei es in Gujarat jedoch wesentlich brutaler zugegangen. »In Bombay wurden keine Menschen bei lebendigem Leib verbrannt oder in Stücke geschnitten, wie jetzt in Gujarat.« Der mörderische Fanatismus sei jedoch keinesfalls neu, ergänzt M. Khan von der Jogshwary Muslim Front: »Sie haben das Land bereits gespalten durch die Ayodhya-Diskussion, und die Stimmung unter den Menschen ist vergiftet.«

Richter Suresh und sein Kollege F. Bajagawala, die bereits die Ermittlungen über die damaligen Ausschreitungen in Bombay führten, sehen die historischen Wurzeln der Ausschreitungen jedoch tiefer liegen: Letztlich sei es der grundlegende Konflikt zwischen den muslimischen und hinduistischen politischen Eliten, der schließlich zur Staatsgründung Pakistans geführt habe, der den Hintergrund der Auseinandersetzungen bilde. Vertreibung und Krieg hätten den Hindu-Nationalismus, wie er von der Rashtriya Swayamsevak Sangh-Partei vertreten werde, seit langem erstarken lassen. Der Hindu-Nationalismus sei unter der BJP-Regierung selbst bis in die Schulbücher vorgedrungen, betont M. Khan. Als Landesgeschichte werde nur noch die hinduistische Geschichte Indiens vermittelt, während der Kolonialismus oder etwa die Epoche der Mogulenherrschaft ausgeblendet würden. Einig sind sich alle Friedensaktivisten in einem: »Nur eine strikt säkulare Partei an der Macht, die konsequent regiert, kann für Frieden im Land sorgen.«

Aus: Neues Deutschland, 12. März 2002


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