Wo sind Delhis Bettler geblieben?
Nach den Commonwealth-Spielen Rückkehr tausender armer Inder erwartet
Von Henri Rudolph, Delhi *
Den Besuchern der indischen 16-Millionen-Metropole bietet sich gegenwärtig ein seltenes Bild:
Keine Bettler und Obdachlosen sind auf den Straßen, vor Tempeln und schon gar nicht in der Nähe
der Sportarenen zu sehen. Die Slums »verstecken« sich hinter bunten Plastikwänden und
Riesenpostern mit dem lustigen Maskottchen der Commonwealth Games, dem Tiger Shera. So gut
es eben geht, haben die Behörden das Problem der Armut aus dem Stadtbild verbannt.
Delhi gaukelt derzeit eine heile Welt vor. Den rund 7000 Sportlern und Offiziellen aus 71 dem
britischen Commonwealth angehörenden Ländern und Territorien sowie unzähligen ausländischen
Touristen präsentiert sich Delhi mit einer schönen Fassade. Die weit verbreitete Armut ist kaum
sichtbar. Doch viele Nichtregierungsorganisationen (NRO) und die indischen Medien fragen, wo die
zwangsläufig geduldeten, jetzt aber zumindest für die Dauer der Spiele unerwünschten
Straßenkinder, die Zeitungen und allerlei Schnickschnack verkaufen, die Straßenhändler, die
Luftballons, Eis, Kugelschreiber oder Mückenschutz anbieten, die Obdachlosen und in Rollstühlen
durch die Gegend fahrenden Leprakranken, die Müllsammler und die Bettlerfamilien denn geblieben
sind.
Bettler werden kriminalisiert
Nach Angaben des Amtes für Soziale Gerechtigkeit bevölkern zu normalen Zeiten etwa 60 000
Bettler die indische Metropole, davon 20 000, die jünger als 18 Jahre sind, 70 Prozent Männer und
30 Prozent Frauen. Ein Mitarbeiter des Amtes erklärte auf Anfrage, kein einziger Bettler oder
Obdachloser sei wegen der Sportspiele aus Delhi »repatriiert« worden. Auch Rajan Bhagat,
Sprecher der Delhi Police, behauptete: »Wir führten keine derartige Säuberungsaktion durch.«
Dem widerspricht Indu Prakash Singh von der NRO Indo-Global Social Services Society. Er habe
bestätigte Berichte, dass viele Arme zu Bahnhöfen geschafft und mit unbestimmtem Ziel
abgeschoben worden sind. »Sie wurden angewiesen, sich nicht vor Ende der Spiele wieder blicken
zu lassen.« Panik habe diese Menschengruppe erfasst, die »wegen Bettelns um Almosen
kriminalisiert wird.« Sie hätten ihre Notgroschen opfern müssen, um sich außerhalb der Hauptstadt
in Sicherheit zu bringen. Sanjay Kumar von der NRO Ashraya Adhikar Abhiyan, die sich in Delhi um
Obdachlose und Ausgestossene kuemmert, hat aehnliche Beobachtungen gemacht: »Bettler wurden
auf Lastautos geladen und aus der Stadt geschafft.«
Harsh Mander, ein prominenter Sozialaktivist und Direktor des Zentrums für Gerechtigkeitsstudien,
ging der Sache auf den Grund. Er berichtete darüber in einer Tageszeitung. Aus der britischen
Kolonialzeit stammende Gesetze zum Bettelverbot seien angewandt worden, um Menschen in
gefängnisähnliche Heime unterzubringen. Da das nicht gereicht habe, seien acht »mobile Gerichte«
eingesetzt worden, die Bettler und andere Personen in lumpiger Kleidung aufgriffen und kurzen
Prozess mit ihnen machten. Sie seien an Ort und Stelle von einem Richter, der gleichzeitig als
Augenzeuge, Ankläger und eben Aburteilender agierte, verurteilt und danach in Gewahrsam
genommen worden. Kurz vor den Spielen, erläuterte Mander, habe die Polizei solche Personen
aufgegriffen, in öffentlichen Parks kampieren lassen, die ebenfalls mit großen Postern vor den
Blicken Neugieriger abgeschirmt waren. Dort sollten sie bei Bereitstellung von Nahrungsmitteln für
die Dauer der Spiele hausen. Offensichtlich sei das Risiko des Entdecktwerdens aber doch zu hoch
eingeschätzt worden, denn man habe diese Menschen schließlich in Lkw und mit der Eisenbahn
abtransportiert. Polizei habe außerdem Slumbewohner veranlasst, bis zum Ende der Spiele
wegzufahren. Nur wer über einen Identitätsnachweis verfügte, durfte bleiben.
Harsh Mander führte weiter aus: »Die Armen werden als Belastung der Stadt betrachtet, obwohl sie
eine unerschöpfliche Quelle von billiger Arbeitskraft darstellen, die die Stadt aufbauen, in den
Haushalten kochen und saubermachen, Abfälle entsorgen und wiederverwerten und die billigsten
Warenangebote machen. Der Lebensstil der Mittelklasse wäre unmöglich ohne die Armee der
Armen, die in der Stadt so unwillkommen sind … In der Vorstellung der Offiziellen muss eine Stadt
bereinigt sein von ihren Armen. Wir müssen zu einer anderen, mehr anteilnehmenden Vorstellung
kommen – von einer Stadt, die ihre benachteiligten Einwohner mit Fürsorge, Respekt und
Gerechtigkeit einbezieht, von einer Stadt, die die Armut bannt und nicht die Armen.«
Die Spiele sind nicht für die Armen
Die Zeitschrift »Tehelka« befasste sich ausführlich mit den Arbeits- und Lebensbedingungen jener
Helfer, die an dem Bau und der Rekonstruktion der Stadien und Wettkampfstätten für die
Commonwealth Games maßgeblich mitwirkten. In einigen der von der Stadtverwaltung zerstörten
Elendsviertel hätten solche Arbeiter gewohnt. Sie seien obdachlos geworden. »Die Spiele sind nicht
für sie«, schlussfolgerte das Blatt. Die Botschaft der Behörden sei unmissverständlich gewesen:
»Die Armen und die Obdachlosen sind eine nationale Schande.« Sanjay Kumar von Ashraya
Adhikar Abhiyan meint dazu, der Regierung gelinge es nicht, das Problem der Armut zu beseitigen,
sondern kehre es vor der Weltöffentlichkeit schlicht unter den Teppich.
* Aus: Neues Deutschland, 12. Oktober 2010
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