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Indien schafft Arme ab

Regierung will Millionen Menschen soziale Unterstützung streichen

Von Hilmar König *

Die staatliche Plankommission Indiens will die offizielle Armutsgrenze verändern. Über ein entsprechendes Ansinnen informierte sie kürzlich den Höchsten Gerichtshof des Landes. Künftig sollen alle, die in städtischen Gebieten des Landes von mehr als 32 Rupien (etwa ein halber Euro) und in ländlichen Gebieten von mehr als 26 Rupien (weniger als 30 Cent) pro Tag leben, nicht mehr unter die Armutskategorie fallen. Sie verlören damit die Berechtigung, im sogenannten Öffentlichen Verteilungssystem (PDS) Nahrungsmittel zu subventionierten Preisen zu bekommen. Die Plankommission stützt sich bei diesem Vorhaben auf eine Empfehlung des Suresh-Tendulkar-Komitees aus dem Jahre 2009. Dieses verwarf eine ältere Methode, Armut durch Messen der Kalorienzufuhr zu bewerten, nahm statt dessen als neuen Maßstab die Ausgaben für Nahrungsmittel, Kleidung, Bildung und Gesundheit und setzte unterschiedliche Standards für die Bevölkerung in Stadt und Land.

Wenn das Vorhaben der Plankommission verwirklicht wird, dann würden Millionen Inder lediglich durch einen Federstrich offiziell nicht mehr als arm gelten. Die Regierung hätte damit einen scheinbaren »Beweis« geliefert, wie »erfolgreich« sie im Kampf gegen die Armut ist und würde praktisch den Staatshaushalt durch weniger Ausgaben für die Bedürftigen spürbar entlasten. Indien würde sich zugleich beträchtlich von der international anerkannten Armutsgrenze, die bei 1,25 US-Dollar pro Tag und pro Kopf liegt, entfernen. Nach diesem Standard leben auf dem Subkontinent mindestens 400 Millionen Menschen, also nahezu jeder dritte Bürger, in Armut. Aktuelle Befragungen der indischen Medien unter bedürftigen Bürgern machten deutlich, daß 100 Rupien pro Tag allein für bescheidene Mahlzeiten aufgewendet werden müssen.

27 prominente Wirtschaftswissenschaftler haben in einem offenen Brief an die Plankommission den neuen Maßstab für die Armutsgrenze als nicht akzeptabel kritisiert. Es sei kontraproduktiv, Grundansprüche der Armen, beispielsweise ihren Zugang zu Nahrungsmitteln, mit offiziellen Armutsschätzungen zu verknüpfen. Die Ökonomen schlagen hingegen vor, das öffentliche Verteilungssystem auszudehnen und nicht durch Aufteilung der Bedürftigen in Gruppen einzuschränken. Sie verweisen auf die verbreitete Unterernährung und auf die seit Monaten drastisch inflationäre Entwicklung der Lebensmittelpreise, deren Rate bei über zehn Prozent liegt.

Die Asiatische Menschenrechtskommission erinnert in einer Stellungnahme daran, daß der von der Weltbank veröffentlichte Weltentwicklungsindikator 2011 beweist, daß Indien das einzige Land ist, das die Größe seines armen Bevölkerungsteils stark unterschätzt. Jairam Ramesh, der Minister für ländliche Entwicklung, hat Montek Singh Ahluwalia, den stellvertretenden Chef der Plankommission, ersucht, alternative Maßnahmen zu den jetzigen Vorstellungen in Erwägung zu ziehen. Nach Rameshs Einschätzung birgt das neue Limit Sprengstoff zur Konfrontation. Der frühere Finanzminister Yashwant Sinha von der oppositionellen Indischen Volkspartei (BJP) äußerte, weder Premierminister Manmohan Singh noch Montek Singh Ahluwalia hätten eine reale Vorstellung von der Armut in Indien. Sie ließen sich kaum zu Gesprächen mit Armen in den Dörfern blicken. Die Plankommission sei völlig isoliert von der Masse des Volkes. Wie die Kontroverse ausgeht, bleibt abzuwarten.

* Aus: junge Welt, 29. September 2011


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