Der Hunger treibt die Leute auf die Straße
Haiti hängt am Lebensmitteltropf
Von Hans-Ulrich Dillmann *
Die gewalttätigen Hungerproteste in Haiti – am Wochenende wurde ein UN-Blauhelmsoldat
erschossen – haben zum Sturz von Ministerpräsident Alexis geführt. Präsident Préval kündigte u.a.
eine 15-prozentige Preissenkung für Reis an und stellte langfristige Maßnahmen zur Stärkung der
Landwirtschaft vor. Dazu erbat der Agrarökonom Hilfe aus dem Ausland.
Wenn Ginette Pierre vor dem Reisregal im Supermarkt von Pétionville steht, steigt in ihr die Wut
hoch. Vor einem Monat musste sie für den 12,5 Kilosack umgerechnet 14 Euro bezahlen. Jetzt
kostet die gleiche Menge schon 3,50 Euro mehr. Die 32 Jahre alte Haushaltshilfe verdient rund 68
Euro im Monat. Das ist noch gut bezahlt im Verhältnis zu anderen Hausangestellten in Haiti, die
durchschnittlich rund 15 Euro weniger bekommen. Von ihrem Monatseinkommen muss Ginette
Pierre noch die Fahrt zur Arbeitsstelle im »TapTap«, dem populären Verkehrsmittel, bezahlen. Aber
auch die Busfahrer halten die Hand immer weiter auf, denn der Benzinpreis ist von 0,65 auf 1,20
Euro pro Liter in die Höhe geschossen.
Die ständigen Preissteigerungen sind auch Thema bei den Busfahrten von Rachel François. Der
Brotpreis sei wieder gestiegen, stöhnte jemand. Seit drei Wochen habe kein Fleisch mehr auf dem
Tisch gestanden, stimmte ein anderer in den Beschwerdechor ein. »Mir bleibt am Monatsende
immer weniger Geld«, klagt die 24 Jahre alte Sekretärin einer internationalen Hilfsorganisation. Als
»einheimische Kraft« verdient sie monatlich rund 300 Euro. Ein fast fürstliches Einkommen, wenn
man sich statistische Angaben für das Armenhaus Lateinamerikas ansieht. Fast 80 Prozent der
Bevölkerung verfügen täglich durchschnittlich über gerade mal 1,25 Euro.
In Armenvierteln wie Cité Soleil im Zentrum der haitianischen Hauptstadt leben die Menschen von
der Hand in den Mund. Fast niemand verfügt über ein gesichertes Einkommen. Männer balgen sich
um die kaum vorhandenen Tagelöhnerjobs, Frauen versuchen, sich mit Kleinverkäufen an Nachbarn
über Wasser zu halten.
Ohne die Auslandsüberweisungen sähe die Situation noch düsterer aus. 1,1 Milliarden Euro
schickten die im Ausland lebenden rund zwei Millionen Haitianer im Vorjahr an ihre armen
Verwandten im »Land der Berge«, hat der Ökonom Kesner Pharel errechnet. Haiti hänge am Tropf,
warnte er schon vor Jahren.
Zwar hat sich das Land nach dem Sturz des damaligen Staatspräsidenten Aristide 2004 wieder
innenpolitisch stabilisiert, wofür u.a. rund 9000 UN-Blauhelmsoldaten und UNPOL-Polizisten sorgen. Die Wirtschaftslage hat sich aber gerade für die Armen der Armen nicht verbessert. »Die
wirtschaftliche Abhängigkeit wird immer schlimmer«, warnt Pharel. Seit mit Hilfe des
Welternährungsprogramms billige Reislieferungen ins Land kommen, lohnt sich für die
einheimischen Langkornproduzenten der Anbau kaum noch. Sie können mit den US-Preisen nicht
konkurrieren. Ölspekulationen, Lieferengpässe – all das bekommt das Land mit neun Millionen
Einwohnern sofort zu spüren. »Jede kleine Krise auf dem Weltmarkt macht sich hier als Katastrophe
bemerkbar«, sagt Pharel. Ihn wundere es, dass das »Pulverfass Lebensmittelkosten« nicht schon
längst explodiert sei.
* Aus: Neues Deutschland, 14. April 2008
Haitis Ministerpräsident Alexis abgesetzt **
Nach tagelangen Unruhen wegen gestiegener Lebensmittelpreise in Haiti hat das Parlament am Sonnabend Ministerpräsident Jacques Edouard Alexis abgesetzt. 16 der 27 Senatoren hätten für Alexis' Absetzung gestimmt, teilte ein Senator in der Hauptstadt Port-au-Prince mit. »Ich glaube, das wird die Bevölkerung zufriedenstellen«, sagte Senator Youri Latortue. Präsident René Préval, der kurz zuvor eine Preissenkung für Reis bekanntgegeben hatte, kündigte an, möglichst schnell einen Nachfolger zu berufen. Eine Sprecherin der UN-Friedensmission in Haiti bezeichnete die Absetzung Alexis' als einen »schweren Rückschlag«. Der Premier war seit 2006 im Amt.
Ebenfalls am Sonnabend wurde in der Hauptstadt Port-au-Prince ein nigerianischer UN-Polizist erschossen, der Lebensmittel zu seiner Einheit bringen wollte. Andere UN-Polizisten setzten Tränengas ein und trieben die Menge mit Warnschüssen davon, um den Toten zu bergen. Der Zwischenfall ereignete sich auf einem Kleidermarkt in der Nähe der Kathedrale von Port-au-Prince. Die aufgebrachte Menge setzte mehrere Marktstände in Brand.
Nach der von Präsident Préval angekündigten sofortigen Preissenkung soll ein Sack Reis statt umgerechnet 32 Euro nur noch 27 Euro kosten. Innerhalb einer Woche hatte sich der Preis für das Grundnahrungsmittel zuvor verdoppelt. Venezuelas Präsident Hugo Chávez kündigte am Wochenende Hilfslieferungen nach Haiti an. Caracas werde dem Karibikstaat 364 Tonnen Lebensmittel, darunter Rindfleisch, Geflügel, Milch, Öl und Linsen, schicken, um eine »Krise zu erleichtern, die gewaltig ist«, sagte der venezolanische Präsident. Haiti ist das ärmste Land des amerikanischen Kontinents.
Der Chef des Internationalen Währungsfonds (IWF), Dominique Strauss-Kahn, warnte vor gefährlichen Auswirkungen der weltweit steigenden Lebensmittelpreise. Hunderttausende würden an Hunger sterben, sagte Strauss-Kahn zum Abschluß der IWF-Frühjahrstagung am Samstag in Washington.(AP/jW)
** Aus: junge Welt, 14. April 2008
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