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Hunderttausende Tote befürchtet

Nach dem schweren Erdbeben befürchtet die Regierung Haitis Angaben von Premierminister Jean Max Bellerive zufolge mehrere hunderttausend Tote. Der Präsident des Karibikstaates, René Préval, bezeichnete die Lage in der Hauptstadt Port-au-Prince als »unvorstellbar«: »Ich gehe über leblose Körper. Viele Menschen befinden sich noch unter eingestürzten Gebäuden. Es gibt viele Schulen, in denen Tote liegen«, berichtete der Staatschef und rief die internationale Gemeinschaft um Hilfe. Zu den bei dem Erdbeben ums Leben gekommenen Menschen gehören offenbar der Chef der UN-Mission in Haiti, Hedi Annabi, Erzbischof Serge Miot und der Schriftsteller Georges Anglade. Die Vereinten Nationen vermissen über 100 Mitarbeiter.

Zahlreiche Länder der Welt haben Soforthilfen zugesagt und Rettungsteams nach Haiti entsandt. Die frühere Kolonialmacht Frankreich kündigte »bedingungslose und großzügige Hilfe« an. Perus Ministerpräsident Javier Velásquez reiste selbst mit einem Flugzeug voller Güter nach Haiti und erinnerte an die Hilfe, die das südamerikanische Land selbst nach dem Erdbeben von 2007 erhalten hatte. Die mehr als 400 kubanischen Ärzte in Haiti haben zwei Feldlazarette errichtet und bereits in den ersten Stunden nach der Katastrophe Hunderten Menschen geholfen. Die Regierung in Havanna kündigte die Entsendung weiterer Ärzte, Medikamente und Hilfsgüter an.

Für Prof. Yves Dorestal von der Universität Port-au-Prince offenbart das Unglück in Haiti auch eine gesellschaftliche und politische Katastrophe. Diese gehe zu einem Großteil auf das Konto der USA, sagte er gegenüber jW: »Daß das Land momentan nicht imstande ist, mit der Naturkatastrophe fertig zu werden, ist keine Folge eines natürlichen Prozesses, sondern die logische Konsequenz aus der politischen Situation seit der ersten Besetzung Haitis durch die USA 1915«. Die Ankündigung Washingtons, einen Flugzeugträger an die Küste Haitis zu schicken, auf dem Rettungshubschrauber landen können, führte Dorestal auch auf den Druck in den USA lebender Haitianer zurück, von denen viele bei der Präsidentschaftswahl Obama unterstützt hatten: »Womöglich würden sie ihn nicht wiederwählen, wenn die USA sich jetzt nicht in Haiti engagieren würden.«

Tatsächlich läßt sich die US-Administration jedoch nicht nur von humanitären Überlegungen leiten. Außenministerin Hillary Clinton sagte gegenüber Medienvertretern in Hawaii, die US-Behörden seien »besorgt« über Flüchtlinge, die nun in den USA Schutz suchen könnten. Zwar könne die Abwehr von Flüchtlingen in der jetzigen Situation »nicht der Hauptfokus« sein, aber »wir werden wie immer unsere Küstenwache vor Ort haben«.

* Aus: junge Welt, 15. Januar 2010


Haiti schreit nach Hilfe

Das Erdbeben hat große Teile des Inselstaats dem Erdboden gleichgemacht

Von Hans-Ulrich Dillmann, Santo Domingo **


Ein Jahrhunderterdbeben hat am Dienstag den bitterarmen Karibikstaat Haiti erschüttert und vermutlich hunderte Menschen getötet. Bei dem Beben der Stärke 7,0 wurden der Präsidentenpalast und das Hauptquartier der UNO in der Hauptstadt Port-au-Prince dem Erdboden gleichgemacht.

Menschen liefen schreiend auf der Suche nach Hilfe durch die Straßen der haitianischen Hauptstadt. Staubschwaden hängen auch noch Stunden später über Port-au-Prince, nachdem um 16.53 Uhr (22.53 Uhr deutscher Zeit) die Erde gebebt hat. Einige Häuser seien, so berichten Augenzeugen, regelrecht von der Erde verschluckt worden. In der Folge des schweren Erdbebens von der Stärke 7 sind in einigen Teilen der Stadt Feuer ausgebrochen. Niemand war da, der die Flammen, die die obdachlosen Menschen bedrohten, wirksam bekämpfen konnte.

Auch Stunden nach der wohl schlimmsten Katastrophe in der Geschichte des Armenhauses Lateinamerikas ist die Situation verworren. Es gibt nur spärliche Informationen, weil das Telefonsystem weitgehend zusammengebrochen ist. Mitarbeiter von Hilfsorganisationen berichten von den verzweifelten Versuchen der Überlebenden, Verschüttete zu bergen. »Die Zerstörungen seien massiv«, sagte der Präsident der Internamerikanischen Entwicklungsbank, Luis Alberto Moreno, in einem Interview mit dem spanischen Dienst des US-amerikanischen Nachrichtensenders CNN.

Das Epizentrum des Bebens lag rund 16 Kilometer vom Stadtzentrum von Port-au-Prince entfernt. Carrefour ist ein stark bevölkerter Teil der Hauptstadt, mit ein paar Hunderttausende Einwohnern. Bauvorschriften gibt es so gut wie keine und die wenigen werden nicht eingehalten. Die fragilen Bauten aus Betonsteinen und die Holz- und Wellblechhütten sind denn auch schnelles Opfer der bebenden Erde geworden. Was die Erschütterung in zehn Kilometer Tiefe unter Carrefour angerichtet hat, darüber gibt es derzeit keine Informationen.

In Port-au-Prince selbst sind zahlreiche Gebäude eingestürzt. Der dem Capitol in Washington nachempfundene Präsidentenpalast ist in weiten Teilen eingestürzt, die Kuppeln sind nach unten gerutscht, wie erste Fotos zeigen, die der US-amerikanische Nachrichtensender CNN in seinem spanischen Dienst veröffentlichte.

Staatspräsident René Preval soll nach Pressemeldungen das Unglück überlebt haben. Seine Frau habe sich telefonisch in den USA gemeldet, berichtete der haitianische Botschafter in den USA, Raymond Joseph. »Wenn diese (stabilen) Gebäude beschädigt sind, können sie sich vorstellen, was mit all den wackligen Behausungen an den Hängen rund um Port-au-Prince passiert ist«, sagte Joseph.

In der Umgebung des Regierungspalastes sind unzählige Häuser eingestürzt. In der oberhalb der haitianischen Hauptstadt gelegenen Kleinstadt Petionville, in der viele Botschaften und die Büros von Hilfsorganisationen liegen, soll es auch schwere Schäden gegeben haben. Die dominikanische Botschaft in Petionville sei beschädigt, meldete die dominikanische Nachrichtenagentur Cadena de Noticia. Ein Krankenhaus sei völlig eingestürzt.

Das Auswärtige Amt hat einen Notdienst eingerichtet. Mit der deutschen Botschaft in Petionville bestehe Kontakt, teilte ein Sprecher auf Anfrage mit. Derzeit seien Mitarbeiter der Botschaft dabei, eine erste Bestandsaufnahme vorzunehmen und zu versuchen, mit den in der Katastrophenzone lebenden Deutschen Kontakt aufzunehmen. In Petionville und Port-au-Prince befinden sich Büros der Deutschen Welthungerhilfe (DWHH), der Kindernothilfe (KNH), des Deutschen Entwicklungsdienstes (DED) und der Diakonie Katastrophenhilfe.

** Aus: junge Welt, 15. Januar 2010


Internationale Haiti-Hilfe lief an

Schwierige Koordination / Zahl der Toten und Ausmaß der Zerstörungen weiter unklar ***

Nach dem verheerenden Erdbeben in Haiti versuchen Rettungsteams einen Überblick über das Ausmaß der Zerstörung zu gewinnen.

Port-au-Prince (Agenturen/ND). Die Vereinten Nationen baten am Donnerstag um schweres Räumgerät und Spürhunde, um Verschüttete zu bergen. Lebensmittel, Medizin und Wasser wurden knapp. »Die Suche nach Überlebenden hat Vorrang«, sagte Elisabeth Byrs vom UN-Koordinationsbüro für humanitäre Hilfe. »Wir arbeiten gegen die Uhr.«

Helfer beschrieben die Lage in der schwer zerstörten Hauptstadt Port-au-Prince weiter als chaotisch und unübersichtlich. Die Zahl der Opfer blieb nach wie vor unklar. Staatspräsident René Preval hatte am Mittwoch von »deutlich mehr als 100 000 Toten« gesprochen. Nach Angaben des Präsidenten des Deutschen Roten Kreuzes, Rudolf Seiters, vom Donnerstag starben nach ersten Schätzungen mindestens 30 000 Menschen.

Derweil lief die internationale Hilfe an. Als schwierig erweist sich die Koordination durch die UN-Friedensmission. Laut UNO sind 3000 Soldaten und Polizisten in Port-au-Prince und Umgebung, um für ein Minimum an Ordnung zu sorgen. Doch die UN-Mission wurde selbst schwer getroffen. Beim Einsturz des UN-Hauptgebäudes in Port-au-Prince starben möglicherweise bis zu 150 Mitarbeiter, darunter auch der Chef der Mission, der Tunesier Hedi Annabi.

Der Büroleiter der Deutschen Welthungerhilfe in Haiti, Michael Kühn, bezeichnete die Lage in der Hauptstadt als dramatisch. Leichen lägen auf den Straßen, Schwerverletzte seien unversorgt und Überlebende irrten umher. »Die Leute sind sich selbst überlassen«, sagte Kühn.

Unterdessen trafen erste Hilfslieferungen aus den USA in Haiti ein. Zugleich kehrte der frühere US-Präsident George W. Bush ins Licht der Öffentlichkeit zurück. Auf Bitten des Weißen Hauses werde Bush gemeinsam mit seinem Vorgänger Bill Clinton die Hilfsbemühungen der USA für Haiti koordinieren, hieß es. Die ersten Hilfsteams aus Europa kamen am Donnerstag an. Laut EU-Kommission wollte sich als erstes ein Expertenteam von den französischen Antillen an den Bergungsarbeiten beteiligen. Rettungsfachleute aus Belgien, Luxemburg, Frankreich, Großbritannien und Island sollten noch im Laufe des Donnerstags eintreffen. Hilfsangebote lägen auch aus Deutschland, Italien, Schweden, Spanien, den Niederlanden und Norwegen vor. An diesem Freitag (15. Jan.) schickt das Rote Kreuz eine mobile Klinik auf den Weg. »Ärzte ohne Grenzen« sandte 70 Mitarbeiter nach Haiti. Die Organisation plant den Aufbau eines Notkrankenhauses, nachdem ihre drei Kliniken in der Hauptstadt zerstört wurden.

Nach Angaben von UNICEF sind viele Kinder verzweifelt und stehen unter Schock. »Wir müssen jetzt alles tun, um Hunderttausende Kinder in Haiti vor einer zweiten Katastrophe durch Hunger und Krankheiten zu schützen«, erklärte Regine Stachelhaus, die Geschäftsführerin von UNICEF Deutschland. Der Gruppe Save The Children zufolge sind nach dem Beben zwei Millionen Kinder akuter Gefahr ausgesetzt.

*** Aus: Neues Deutschland, 15. Januar 2010


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